Der Nagel. Rainer Homburger

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Название Der Nagel
Автор произведения Rainer Homburger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738043747



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auf der Brücke die Chance, den sicheren Weg aus dem Hafen zu erkennen. Fast geräuschlos glitt der geschmeidige Bootskörper durch das ruhige, tiefschwarze Hafenwasser, und wenn der Mond eine der kleinen Wolkenlücken fand, konnte man die weiße Bugwelle vor dem Boot ausmachen.

      Ohne bemerkt zu werden, hatte U-2500 den Hafen von Lorient verlassen, und steuerte jetzt mit einer Geschwindigkeit von dreizehn Seemeilen durch den schwarzen Atlantik einem noch unbekannten Ziel entgegen.

      »Mann auf Brücke?«, war die Stimme des Kapitäns zu hören und nach einer Bestätigung schwang sich der Kapitänleutnant nach oben. Ein kurzer Blick in den wolkenverhangenen Himmel, dann nahm er sein Glas und betrachtete den erleuchteten Horizont hinter ihnen. Starke Flakscheinwerfer streckten ihre langen, weißen Tentakeln in den dunklen Nachthimmel auf der Suche nach Opfern. Das dumpfe Grollen schwerer Flugzeugmotoren war zu hören, in das sich die Explosionen der Bomben und der Flakgeschosse mischten.

      »Schwerer Luftangriff auf Lorient, Herr Kaleu«, sagte der LI, ohne sein Glas von den Augen zu nehmen. »Da haben wir Glück gehabt, dass wir schon weg sind.«

      »Wie spät ist es?«

      »Genau dreiundzwanzig Uhr, Herr Kaleu.«

      Der Kapitän sah eine Zeit lang schweigend durch sein Glas, dann fragte er unvermittelt: »Glauben Sie an einen Zufall, dass die Briten genau zu der Uhrzeit angreifen, zu der wir ursprünglich auslaufen sollten?«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er das Glas ab und schaute wieder nach oben.

      »Wir gehen runter. Klar zum Tauchen!«

      London, Montag, 5. Juni 1944, 21:30 Uhr

      »Verdammt nochmal, geht das denn nicht ein bisschen schneller?« David rutschte auf der Rückbank hin und her wie ein aufgeregtes Kind, das sich nach langer Abwesenheit auf das Wiedersehen mit seiner Mutter freute und das Treffen kaum erwarten konnte. »Da vorne rechts, der Weg ist kürzer. Und drücken Sie endlich mal drauf, Baker.«

      David spähte in die abgedunkelten Straßen Londons und versuchte, Lieutenant Baker anzutreiben.

      Eine gespannte Atmosphäre hing in der Luft. Was kaum jemand wusste, abgesehen von den Verantwortlichen und beteiligten Soldaten, war die Tatsache, dass der Befehl zur Invasion in der Normandie erteilt worden war. Der lang erwartete Angriff im Westen auf die von den Nationalsozialisten propagierte Festung Europa hatte begonnen.

      Während auf deutscher Seite ein unruhiger Abend zu Ende ging, drängten sich in den vielen Booten, die über den Kanal dampften, die einzelnen Wellen der Invasionstruppen zusammen, die sich aus Soldaten unzähliger Nationen zusammensetzten. Viele der Männer hatten einen ganz persönlichen Grund, die Deutschen aus dem besetzten Frankreich hinauszuwerfen. Hatten einen ähnlichen Grund wie David, der seine geliebte Frau bei den Bombenangriffen verloren hatte. Doch sogar jetzt, wo in wenigen Stunden der massive Angriff der Alliierten eine weitere Front eröffnen würde, konnte David dies nicht als Genugtuung empfinden. Seit er erfahren hatte, dass Frank mit den restlichen Unterlagen aus dem Koffer von Carl den englischen Luftraum erreicht hatte, war er nicht mehr zu halten. Unruhig war er in seinem Zimmer umhergelaufen. Er fluchte über die Uhr, deren Zeiger sich so gut wie nicht bewegten, und war nicht in der Lage, die verbliebene Zeit in irgendeiner Form sinnvoll zu nutzen. Er war fixiert darauf, den Deutschen mit ihrem Führer Adolf Hitler persönlich einen Stich ins Herz zu versetzen. Alles drehte sich jetzt um die Papiere und das, was er sich von ihnen versprach. Aber zuerst musste er sie einmal haben.

      »Wie spät ist es, Baker?«

      »Halb zehn, Mr Petrie.«

      Frank musste jeden Moment landen.

      »Fahren Sie da vorne links, Baker. Dann können wir die nächste große Kreuzung umgehen.«

      »Die Straße ist gesperrt, da bin ich neulich schon nicht durchgekommen«, versuchte Baker David zu beruhigen. »Wir sind ja gleich da.«

      Ein paar Minuten später hielt Lieutenant Baker den Wagen vor der Einfahrt des Flughafens Uxbridge an. Er gab dem Posten ihre Papiere. Der warf nur einen flüchtigen Blick drauf, dann nickte er, gab ihnen die Dokumente zurück und ließ die Schranke öffnen. David hatte den Besuch angekündigt.

      Baker steuerte den Wagen auf die Hangars zu, vor denen einige Maschinen standen. Er stellte den Wagen neben der dunklen Wand einer riesigen Flugzeughalle ab. Weit waren sie nicht gekommen, aber der Flughafen war bis auf den letzten Zentimeter voll mit Kriegsmaterial, Verpflegung und einer großen Zahl von Soldaten, die in Gruppen auf ihren Abtransport warteten. An ein Weiterkommen mit dem Wagen war nicht zu denken.

      David stieg aus, schlug die Tür zu und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Frank sollte auf Landebahn drei ankommen, bei dem Verkehr und den ununterbrochen startenden Maschinen war eine andere Rollbahn aber genauso möglich. David orientierte sich kurz, dann ging er mit schnellen Schritten auf den Tower zu, der sich als schwarzer Schatten vor dem nur minimal helleren Hintergrund abhob.

      »Bleiben Sie beim Wagen, Baker«, rief er seinem Fahrer noch zu, dann war er verschwunden.

      In einer wahren Zickzack-Linie musste er das, aus seiner Sicht völlig unkontrolliert abgestellte Kriegsmaterial, Fahrzeuge sowie Gruppen von Soldaten umgehen. Er fluchte und seine Ungeduld wuchs. Endlich am Tower angelangt, versperrten ihm zwei Wachposten den Weg. Er musste sich ausweisen. Innerlich schon fast am Explodieren, erkundigte er sich nach dem verantwortlichen Leiter der Flugaufsicht. Er musste dringend in Erfahrung bringen, auf welcher Landebahn Frank reinkommen würde. Wenn er nicht sogar schon da war. Bei dem Trubel sah er keine Chance, ihn da draußen zu finden.

      Der Leiter der Flugaufsicht, ein Colonel mit dem Bauchumfang einer hundertjährigen Eiche, empfing David mit einem freundlichen Lächeln.

      »Good evening, Mr Petrie.« Mit seiner fleischigen Pranke drückte er die Finger von Davids rechter Hand fast zu Mus. David schloss vor Schmerz kurz die Augen und quälte sich ein Lächeln hervor, dann kam er sofort auf sein Anliegen zu sprechen.

      »Ist das Flugzeug aus Stockholm schon angekommen?«

      Der Colonel sah ihn an wie jemanden vom anderen Stern. »Aus Stockholm? Wissen Sie eigentlich, was hier gerade abgeht?«

      »Na klar weiß ich das. Ich will auch nur wissen, ob das Flugzeug schon gelandet ist. Auf welcher Landebahn?«

      Der Colonel zuckte mit den Schultern, drehte sich gemächlich um und fragte einen vorbeigehenden Soldaten. Doch der zuckte ebenfalls nur die Schulter, rief etwas durch die offene Tür in den Nebenraum, wartete kurz die Antwort ab und schüttelte dann den Kopf.

      Mit nach oben gezogenen Schultern wandte sich der Colonel wieder David zu. Er setzte eine hilflose Mine auf. »Tut mir leid, von einem Flugzeug aus Stockholm wissen wir hier nichts.«

      »Das gibt‘s doch gar nicht«, fluchte David und schaute an dem Fleischberg vorbei. Er suchte jemand, der den Eindruck hinterließ, dass er sich offensichtlich besser auskannte, als dieses hohle Stück Fett.

      »Verdammt! Ich habe vorhin extra angerufen und man sagte mir, dass das Flugzeug gegen halb zehn landen würde. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was in Ihrem Laden abläuft?« David kam in Fahrt.

      »Sir, ich habe hier die Aufsicht und die Verantwortung über den gesamten Flughafen und ich weiß sehr wohl, was hier läuft. Und wenn Sie sich jetzt nicht zusammenreißen, dann schmeiße ich Sie raus. Wir haben heute Nacht hunderte von Einsätzen zu koordinieren. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Soldaten mit ihrem Material heil in die Luft kommen. Und da kommen Sie mir gerade recht mit einem Flugzeug aus Stockholm.«

      David konnte sich kaum noch halten.

      »Ist Ihnen eigentlich klar, mit wem Sie hier sprechen?«

      Der Colonel blieb unbeeindruckt.

      »Wie ich bereits sagte, Sir. Ich habe hier die Verantwortung und eine Aufgabe zu erfüllen. Und genau das werde ich tun. Und dabei lasse ich mir von niemandem reinreden.«

      Der Colonel hob seine rechte Hand