Messias Elias. Matthias Grau

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Название Messias Elias
Автор произведения Matthias Grau
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752925630



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sie immer bezeichnet. Männer in Skandinavien hätten häufig solche Augen. Das Augenlid nach außen hin abfallend, den Blick leicht ausgestellt. Augen, in denen sich Fernweh spiegelte wie bei einem einsamen Bootsmann, der aufs weite Meer hinausschaut. Romantische Augen. Wehmütige Augen. In diesem Moment sah Elias alles klar vor sich: Das Meer, das freundliche Lächeln, den Bart, wie er vom Wind zerzaust wurde. Die Augen.

      Kein einziges Mal hatte der Sohn seinen Vater wütend oder ungeduldig erlebt. Er tadelte nie, sondern korrigierte Fehler des Sohnes nachsichtig.

      Elias hatte schon mit zehn Jahren beachtlich an Höhe gewonnen. Jeder Stuhl, jeder Tisch war zu niedrig für ihn. Ab etwa zwölf Jahren begann er daher, mit krummem Rücken bei Tisch zu sitzen. Sein Vater erinnerte ihn stets daran, indem er ihm mit der Hand sanft von oben nach unten über den Rücken strich. Diese stille Methode war ebenso effektiv wie unauffällig und vielleicht deshalb so erfolgreich. Auch nach dem hundertsten Mal verlor sein Vater nicht die Geduld. Irgendwann bemerkte Elias seinen krummen Rücken von selbst und korrigierte die Haltung.

      Es gibt keinen Gott! Wie kann Gott es zulassen, dass so ein guter Mensch vor seiner Zeit einfach hinweggerafft wird?

      „Gott holt jene, die er liebt, als erste zu sich“, hatte Elias Mutter ihn zu trösten versucht, und sich selbst vermutlich auch. Kurz darauf nahm sie sich aus Kummer das Leben. Über zwanzig Jahre war das nun schon her!

      Gütig, so sollte ein Gott sein! Sanft, mit weichen, warmen, wehmütigen Nordländer-Augen und einem Vollbart.

      „Vater. Ich werde dich Vater nennen!“ Dann wurde Elias flau ums Herz. Sein Schmerz ergoss sich in Strömen von Tränen über das Gesicht. Zunächst glichen seine Worte mehr einem Gestammel. Als er sich wieder beruhigt hatte, trug Elias seine Bitte zunehmend gefasster und geordneter vor. Das Gebet endete, nur so zur Sicherheit, mit einem Amen. Amen!

      Elias lauschte seinen Worten hinterher. Die Geräusche der Stadt klangen mit einem Mal leiser, im Osten lockerte die Wolkendecke auf und ließ den aufgehenden Mond hindurchscheinen. Es sah aus wie ein göttliches Zeichen, fast schon prophetisch, schien es Elias. Doch die scheinbare Vision verging rasch, gefolgt von Regen. Er trommelte auf die blecherne Fensterbank und überdeckte den städtischen Lärm. Dennoch empfand Elias so etwas wie Trost, begab sich zu Bett und schlief schnell ein.

      Mein Bett steht schief! Irgendetwas lastet auf der Matratze. Ich werde gleich herunterrollen, wenn ich mich nicht anders hinlege!

      Noch nicht, ich will noch nicht wach werden! Schlafen. Einfach weiterschlafen … Die Gegenwart ist zu deprimierend, um ihr so früh am Morgen schon Beachtung zu schenken.

      Jetzt bewegt sich das da auf der Matratze auch noch. Ist Sara zurückgekehrt? Nein! Die Art, wie sie aus der Wohnung gestürmt war, hatte keinen Raum für Illusionen gelassen. Aber wenn sie es nicht war, wer oder was war das dann, dort am Fußende auf der Matratze?

      Ich bin so furchtbar müde! Aber vielleicht sollte ich doch besser mal nachsehen!

      Elias öffnete die Augen. Am Fußende des Bettes saß ein alter Mann. Die Beine auf dem Boden, den Oberkörper halb zu Elias hingedreht, sah er ihn an.

      Wobei das Adjektiv ,alt‘ irgendwie nicht so richtig passte. Zwar hatte er grau meliertes Haar und seine sonnengegerbte Haut zeigte eine stattliche Anzahl an Falten. Aber die Augen blitzten frisch und jugendlich. Sie demonstrierten zudem eine innere Stärke, wie sie wohl nur aus unendlicher Weisheit und der Erfahrung von Äonen erwachsen konnte. Seine Mimik zeigte einen Hauch von … war es Erstaunen? Die Brauen waren leicht angehoben, vielleicht bedeutete dies auch Neugier. Und irgendwie … kam er Elias bekannt vor!

      Verschlafen stützte er sich auf den Unterarm, den Fremden wortlos betrachtend. Dessen Haare waren sauber gescheitelt, sein Vollbart gestutzt. Er trug einen selbstgestrickten, grün-braunen Schlabberpullover, eine ausgewaschene Jeans und eine braune Lederjacke. Keinerlei Schmuck, nicht mal eine Uhr, um seinen Auftritt zu verfeinern.

      „Na? Entspricht meine Erscheinung deinen Vorstellungen?“ Der Mann brach das seltsame Schweigen als erster.

      „Wer sind Sie denn überhaupt, und was machen Sie in meiner Wohnung?“

      „Ach, komm schon! Nur weil ich kein Namensschild trage, muss das hier nicht ewig dauern!“

      Elias setzte sich nun ganz auf und lehnte sich an die Wand. Diese Augen … der Bart … „Sie … Sie haben … irgendwie Ähnlichkeit mit … meinem Vater.“

      „Ich habe mir auch alle Mühe gegeben, sein Aussehen möglichst detailgetreu anzunehmen. So etwa würde er heute wohl aussehen, wäre er noch am Leben.“

      In der Tat! Der Mann sah aus, wie eine etwa zwanzig Jahre ältere Version seines Vaters! Elias’ Kinnlade folgte langsam der Erdanziehungskraft.

      Das Gebet! Er hatte seinen Vater gar nicht erwähnt! Mühsam versuchte er, die noch übermächtige Müdigkeit abzuschütteln und in die Gänge zu kommen.

      „Sie … sind … also …

      Nein, das kann doch nicht …“

      „Du hast mich gestern Abend angerufen. Hast um Antworten gebeten.“

      Elias versuchte, das Offensichtliche zu verdrängen. „Nein, nein, Sie wohnen bestimmt nur in der Nachbarschaft! Ich vermute, Sie haben mich belauscht.“ Elias verschränkte trotzig die Arme und ließ sie sogleich wieder sinken, als der Mann fragte: „Was ist mit deinem Vater? Ihn hattest du nicht erwähnt! Das ist dir doch gerade eben selbst aufgefallen!“

      Mein Gott, er kann Gedanken lesen! schoss es Elias durch den Kopf. Instinktiv versuchte er, nicht zu denken. „Ja, ganz recht – mein Gott! Du hast es also erraten!“

      Ungläubig starrte Elias ihn an. „Du … du kannst also … Gedanken lesen! Du wusstest, wie ich mir einen gütigen Gott vorstelle. Aber … wie machst du das?“

      Gott hob die Beine vom Boden, drehte sich ganz zu ihm hin und setzte sich in den Schneidersitz. Die Schuhe behielt er dabei an. Sie sahen vollkommen neu und unbenutzt aus, daher protestierte Elias nicht.

      „Ich könnte es dir erklären, aber du würdest es nicht verstehen. Genauso wie du mein wahres Aussehen nicht verstehen würdest. Ich habe diese Form angenommen, damit du mich überhaupt wahrnehmen kannst. Um meine vollständige Gestalt zu registrieren, benötigst du siebzehn weitere, miteinander kombinierte Sinne. Ihr Menschen verfügt jedoch nur über eine simple rudimentäre Sensorik. Mit Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken könnt ihr kaum ein Prozent dessen entdecken, was euch umgibt. Was auch der Grund ist, weshalb ihr Menschen mich nicht wahrnehmen könnt. Eure Konstruktion ist einfach nicht mehr auf dem neuesten Stand!“

      „Du hast also mein Gebet gehört“, stellte Elias, inzwischen wach und nüchtern, erfreut fest. Gott nickte. „Ich habe es gehört, gesehen, geatmet. Ich registriere alles, was geschieht. Du suchst eine neue Aufgabe.“

      „Ja, sozusagen. Einen neuen Job. Vor allem, damit ich die Wohnung halten kann.“

      Gott runzelte die Stirn. „Einen Job? Für dieses Loch, das du Wohnung nennst?“ Elias betrachtete irritiert, was von seiner Wohnung übriggeblieben war. Plötzlich, als würde ein Schleier vor seinen Augen beiseitegezogen, sah er die Welt klar und vollkommen rational. Die Wohnung lag im Souterrain eines heruntergekommenen, dreistöckigen Vorstadthauses. Die alte Tapete war speckig und rußgeschwärzt, die lackierten Holzdielen verschlissen. Das Fenster, durch welches Elias gestern Abend in den Himmel geschaut hatte, begann knapp über seinem Kopf. Selbst der kleinste Dackel mit den kürzesten Beinen, der auf dem Gehweg vor dem Haus an der Leine spazieren geführt wurde, konnte in die Wohnung hinabsehen, was in Wirklichkeit aber nie vorkam, denn nicht einmal Dackel würdigten diese Bruchbude auch nur eines Blickes. Elias begriff, dass er eigentlich gar nichts zu verlieren hatte.

      „Aber warum kommst du gerade zu mir? So viele Menschen beten täglich zu dir, und ausgerechnet bei mir tauchst du auf?“ Der Mann antwortete: „Nun, sagen wir mal, es wurde Zeit! Es sind tausende Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Ich muss feststellen, es hat sich doch einiges verändert! Vieles leider nicht zum