Komparsen-Blues. Mike Nebel

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Название Komparsen-Blues
Автор произведения Mike Nebel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742746368



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dass ich sehr wohl geistig auf der Höhe der Zeit war. Da sich jedoch ein Studium nicht von selbst erledigt, wurde ich schneller als gedacht, so etwas wie ein abgebrochener Student. Ich ging nur ein paar Mal in den monströsen Hörsaal und das Einzige, was mir während meiner kurzen Stippvisiten dort durch den Kopf ging, war, was für ein guter Ort der Hörsaal für Rockkonzerte wäre. Ich suchte mir eine Band und begann zu trommeln. Und so trommelte und trank ich mich, so gut es eben ging, durch die Zeit. Es war so, wie ich es haben wollte. Bis auf eine Sache: Meine finanzielle Situation. Die war so wie sie war, nämlich miserabel. Auf meiner nicht existenten Liste an Dingen, die ich verbessern wollte, stand nur: Eine für mich passende Geldquelle musste her. Die Rechnung dafür war ganz einfach. Zumindest auf dem Papier. Wer für sich einen Anspruch auf selbstbestimmtes Trinken definiert, muss finanziell ausreichend ausgestattet sein. Ich war es bei Weitem nicht. Ich hinkte sozusagen meinem Anspruch kilometerweit hinterher. Schlecht. Sehr schlecht, und so warf ich den stotternden Motor in meinem Kopf an und sortierte, sauber hin oder her, ein paar Gedanken. Dies in der Hoffnung, sie würden zu irgendetwas führen.

      Ich kannte genug Leute, die tagtäglich auf der Suche nach einem Job, meist in rauchgeschwängerten Kneipen während der frühen Morgenstunden, sämtliche Tageszeitungen durchwälzten und nichts anderes als reichlich Druckerschwärze an ihren Fingern mit nach Hause nahmen. Sie blieben bis morgens um fünf in den Kneipen hocken und vergruben sich still, aber doch auch von einer gewissen Nervosität gezeichnet, in ihre frisch ergatterten Blätter. Ohne Umwege tauchten sie mit einem weichgekauten Bleistift zwischen den Zähnen in die Zeitungsanzeigen ein und waren nicht mehr ansprechbar. Wie verschwunden in einer fremden Welt. Wenn sie wenigstens tranken, aber dafür reichte ja ihr Geld nicht. Sie waren wie Getriebene auf der Suche nach ehrlicher, auch sei sie noch so schlecht bezahlter, Arbeit. Und es wurde eingekringelt was das Zeug hielt und die Anzeigen hergaben. Abend für Abend, Woche für Woche, bis zum Ende oder Abbruch ihres Studiums. Es war ein jämmerlicher Anblick, der mir nach ausreichend Bier Gott sei Dank auch wieder aus dem Blick fiel. Mir kamen Studenten in den Sinn, die sich ihre Nächte im Winterdienst herumschlugen. Wahrscheinlich schoben sie schon deshalb wie die Wilden knöcheltiefen Schnee von den Bürgersteigen, um nicht festgeklammert am Schneeschieber zu erfrieren. Und ich rede von einer Zeit, es war Ende der 80er, in der die Winternächte in Berlin nur so vor klirrender Kälte und endlosem Schneefall strotzten. Diese Burschen taumelten sogar Samstagsnacht halberfroren über die Bürgersteige der Stadt. Sie machten nicht einmal vor den Wochenenden halt, so klamm mussten ihre tiefen Parkertaschen gewesen sein. Ich für meinen Teil entschied, dass eine Samstagnacht niemals zum Schneeschieben herhalten durfte. Es ging zum Tanz, zur Musik, oder ganz einfach nur darum, bis zum Morgengrauen an einem noch so klebrigen Tresen zu hocken und auf die Getränkeflaschen der Bar zu glotzen. Nebenbei, für diese armen Hunde im Winterdienst hatte niemand zuvor die Wege mit Salz gestreut, damit sie einen ordentlichen Stand bei ihrer Arbeit haben würden. Das Risiko einer Verletzung bewertete ich für mich als enorm. Finger weg davon. Besser war es, bis März im Bett liegen zu bleiben, erst dann den Fuß behutsam tastend auf die Gehwegplatten zu setzen, um sogleich genussvoll und zufrieden die letzten Reste des Rollsplitts unter den Sohlen knirschen zu hören.

      Der nächste März kam und ich nahm, bei vollem Verstand wohlgemerkt, meinen ersten echten Job an, der sich als absolute Absurdität entwickeln sollte. Ich machte Straßenwerbung auf dem Kurfürstendamm für eine große Berliner Diskothek. Ich ging mit einem mannsgroßen Werbeschild, schwer und unhandlich, durch die Menschenmengen und war ständig auf der Hut, mich oder Passanten mit dem Schild nicht unglücklich zu treffen. Wäre ich von Kopf bis Fuß als Tanzbär verkleidet gewesen, hätte mich niemand erkennen können, so war es ein einziger Spießrutenlauf, immer darauf bedacht, nicht von jemandem entdeckt zu werden, der mich kannte. Es gelang mir nicht immer, mich rechtzeitig wegzudrehen und stiften zu gehen. Ich wurde zu oft entdeckt, bei dem was ich tat. Jemand – ich sah in ein mir namenloses, jedoch nicht unbekanntes Studentengesicht – tippte mir auf die Schulter. Er stand wie aus dem Nichts vollkommen überraschend hinter mir und zeigte sich sehr erfreut, aber irgendwie auch erschreckt im Anblick meiner Art des Geldverdienens. Zu allem Überfluss konnte er sich die Anmerkung nicht verkneifen, dass das, was er dort gesehen hatte, auch noch hinaus in die Welt posaunen würde. Nach diesem Aufeinandertreffen beschloss ich, mich und mein Werbeschild hinter einem Kiosk zu deponieren. Über Stunden und jeden Tag. Nur für eine neue, weitere Dose Bier, kroch ich aus meinem Versteck, zwischen der Rückwand des Kiosks und einem angrenzenden hohen Gebüsch, hervor zum Kioskmann. Der Werbeeffekt für den Diskothekenbetreiber war dadurch zweifelsohne etwas in den Hintergrund gerückt und nicht ganz so durchschlagend wie er sich vielleicht erhoffte. Der Diskochef gab mir sieben Mark die Stunde und ich durfte, was ich anfangs als durchaus angenehm empfand, drei Freibiere in dem Schuppen trinken, nachdem ich das Schild dorthin zurückbrachte. Doch schon nach drei Tagen war dieser Nebeneffekt wie verflogen, weil es sich für mich merkwürdig anfühlte, am späten Nachmittag allein in einer menschenleeren, riesengroßen Diskothek drei Gläser leerend an der Bar zu sitzen, ganz ohne Musik, ganz ohne Lichteffekte. Hätten sie wenigstens die Diskokugel stumm für mich drehen lassen, aber nicht mal das. Was meine Touren anging, wählte ich immer mehr irgendwelche Schleichwege zu meinem Kiosk, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Das Schild trug ich mittlerweile nur noch in Hüfthöhe am langen Arm, am stärkeren schwachen rechten. Ich verrutschte mehr und mehr in eine Schieflage, bis mir meine Wirbelsäule deutlich Meldung machte, sie wäre nicht mehr gewillt, diese Tortur fortzuführen. Schließlich lief ich wie ein Betrunkener einen taumelnden kleinen Kreis, bevor ich mich und das Schild in meinem Gebüsch fallen ließ. Ich verkroch mich im Gestrüpp wie ein Eremit, der mit der Gesellschaft abgeschlossen hatte. Erst nach Stunden der Ruhe kroch ich wieder heraus. Es reichte, ich wollte es nicht übertreiben, auch wenn ich es dort in meinem Versteck mochte. Ich trank wieder mal am Kiosk ein paar Dosen Bier und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen jungen Mann, der mit einer Geldbüchse rasselte. Neben ihm stand ein Zirkuspony. Warum nicht eine Ziegennummer in einem Zirkus einstudieren und jeden Tag am Stadtrand den Applaus der Kinder auf der Seele spüren? Oder sich mit benzingetränkten Messern bewerfen lassen, in der Hoffnung, der Messerwerfer hätte alles unter Kontrolle? Vielleicht wäre es ein Versuch wert. Ich nahm mir vor etwas näher darüber nachzudenken und ließ das Werbeplakat im Gebüsch zurück. Ich war mir sicher, der Kioskmann würde es finden. Auch ein Kioskmann braucht ein Werbeschild.

      Wochen später horchte ich auf, als mir ein Kommilitone aus gutem Hause an der Salatbar in der Mensa – was hatte ich dort überhaupt zu suchen? mir die Adresse eines Markforschungsinstitutes gab. Dieses Institut war ständig auf der Suche nach Leuten, die sie für Befragungen in die große weite Stadt schickten. Ich heuchelte etwas Interesse an seiner Idee. Anfangs. Das Heucheln wich einem ersten Anflug von echtem Interesse, als er nachschob, dass es sich um einen ziemlich angenehmen Job handeln würde, der, so drückte er sich aus, auch noch lukrativ gestaltet wäre. Ich übersetzte seine Sprache in meine und kam zu der Erkenntnis, dieser Job würde um einiges mehr einbringen, als beispielsweise das harte Dasein eines Schneeschiebers oder einer menschlichen Plakatsäule. Ich wollte mehr erfahren und wir stellten uns große Portionen Rohkostsalate auf unsere Tabletts und ich folgte ihm an den Tisch. Was man nicht alles in Kauf nimmt, um an Informationen zu kommen. Rohkostsalate waren so das Letzte, von dem ich mich damals ernährte. Trocken, spröde, wirkungslos. Einfach nicht der Rede wert. Ich versuchte grüne Blätter zwischen meinen Backenzähnen zu zermalmen und ermunterte mein Gegenüber, mehr über den Job in diesem Institut zu erzählen. Er erklärte mir, dass es meine Aufgabe wäre, von Tür zu Tür zu laufen, wildfremden Menschen neue Produkte testen zu lassen und gemeinsam Fragebögen auszufüllen. Dies gefiel mir. Dies gefiel mir richtig gut, je mehr ich darüber nachdachte. Das war mein Ding. Ich würde tagsüber von Haus zu Haus schlendern, mich in den Villen im Grunewald zu den älteren oder auch jüngeren Damen setzen, um sie zu befragen und zu begaffen. Ich würde sie vormittags aufsuchen, dann, wenn ihre Männer sich in ihre Zahnarztpraxen oder Anwaltsbüros verzogen haben. Vielleicht würden sie gerade aus der Dusche oder aus dem Bett kommen, sie würden ihre plüschigen Bademäntel tragen und wir könnten es uns lasziv auf der Couchgarnitur gemütlich machen. Während sie mir einen Cognac an der Hausbar einschenken würde, lasse ich meinen Blick mit ausgestreckten Beinen genüsslich in den Garten schweifen, wo zwei Doggen mich wahrscheinlich grimmig anschauen könnten. Ich würde ihnen freundlich zuwinken. Genau dies sollte mein Job werden. Der Kommilitone schob mir eine Visitenkarte des Institutes zu,