Stadtflucht. Stephan Anderson

Читать онлайн.
Название Stadtflucht
Автор произведения Stephan Anderson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753193090



Скачать книгу

gedankenverloren aus dem einzigen Kastenfenster des kleinen Zwischenzimmers zu blicken, welches sich zwei Meter hinter der Leiche, Richtung Konferenzsaal, befand.

      Der Regen prasselte auf die Scheiben und die Fensterbank und erwirkte für kurze Zeit eine hypnotische Wirkung auf den nikotinsüchtigen Alkoholiker, als ob sein Inneres ihn fragen wollte, was er eigentlich hier machte? Hatte er denn nicht schon genug solcher Tatorte und ausreichend schreckliche Bilder von verstümmelten Leichen gesehen? In welcher Kneipe und mit welchem Alkohol würde er diesen Tag von seiner Seele zu spülen versuchen? Erst der Analysebeginn von Weiss, brachte ihn wieder in die schauderhafte Realität zurück und diese hieß Professionalität im Dienst und die Stillung seines unbändigen Verlangens jeden, der in seiner Stadt Verbrechen beging zu schnappen und zu bestrafen.

      „Es war die gleiche Waffe, 9 mm. Der Schütze stand noch im Wartezimmer, ungefähr drei Meter vom Opfer entfernt. Kopfschuss, sofort tot. Da das Opfer circa ein Meter neunzig groß und der Austrittswinkel des Projektils rechts neben dem Kastenfenster ist, kann man auf zwei Dinge schließen. Erstens der Täter war Rechtshänder, zweitens so groß wie von mit angenommen.“

      „So weit war ich auch schon“, entgegnete der keifende Mittsechziger um fortzufahren, „und dann lässt er die Leiche von einem Mungo zerfleischen?“ Er war geistig wieder voll im Geschehen und würde er keinen harschen Ton anschlagen, keiner wüsste, ob Kommissar Sebastian Ulman mit seinen Gedanken nicht wo anders wäre.

      „Nein, was Sie sehen sind Skalpellschnitte. Oder zumindest mit einem sehr feinen und scharfen Messer. Den Opfern wurden am ganzen Körper kleine epidermistiefe Gewebeteile entfernt. ´Post mortem´. Sehen Sie? Am ganzen Körper. Er wurde sogar dafür umgedreht und dann wieder gewendet, deshalb ist er voller Blut. So wie die Leiche im Flur. Was meinen Sie dazu?“

      „Ein Trophäensammler wie gesagt. Der näht sich wohl gerade einen Mantel aus den erbeuteten Hautstücken“, entkam dem alternden Ermittler ein seltenes Grinsen.

      „Das fehlende Gewebe ist zwischen Nullkomafünf bis zwei Zentimeter groß. Alle Beweismittel sind noch im Labor. Ich hoffe, dass wir schon einen ersten Überblicksbericht haben, wenn wir ins Dezernat kommen.“

      „Beweismittel? Sehe ich nicht viele. Der Täter schießt das erste Mal im Stiegenhaus. Entweder er hatte einen Schalldämpfer oder er ist dumm. Der Wiederhall musste fürchterlich laut durch das ganze Haus gehallt haben. Aufmerksamkeit, das will keiner, der so etwas Aufwendiges vorhat“, stellte Ulman fest und strich sich mit den schwarzen Plastikhandschuhen wieder über seinen Dreitagesbart.

      „Also der Täter war eine Person, die sich hier auskannte und auch die Opfer kannte?“

      „Wie viele blutige Sohlenprofile haben Sie gefunden, Weiss?“

      „Wohl nur eines. Aber das prüfen wir auch gerade im Labor.“

      „Es spricht alles dafür, dass er etwas Persönliches als Trophäe mitnahm, da gibt es kaum etwas Persönlicheres als Haut. Sie entblößt das Opfer nach außen. Hätte er die Opfer aber aus boshafter Rache getötet, würden wir hier einen blinden ´Wutmord´ vorfinden.“

      „Einen ´Overkill´, Ulman?“

      „Ja, wie Sie das auch immer nennen wollen! Aber eines ist klar, die Tat war geplant.“ Der großstädtische Kommissar warf wiederum einen Blick zurück in den Eingangsflur, um die Route und Bewegungen des Täters nachempfinden zu können. „Der Täter hat sich unter Kontrolle. Er ist nicht der Schlauste, aber er hat sich unter Kontrolle. Sogar die Hülsen hat er mitgenommen. Die Projektile aus der Wand gerissen. Er kommt rein, bumm! Gleich weiter, bumm! Definitiv geplant oder haben Sie immer ein Skalpell und eine 9 mm bei sich Herr Doktor Weiss?“

      „Ulman ich bin beeindruckt. Und warum hat er dem ersten Opfer nur elf kleine Gewebeteile herausgeschnitten, während er diesem hier gleich achtundzwanzig am ganzen Körper entfernte?“

      „Hat er das?“

      „Ja. Bei dem Opfer im Flur draußen zwei Zentimeter oberhalb der rechten Mamille, am Hals auf Höhe der Trachea und auf der hinteren linken Wade. Der Rest an Händen und Beinen.“

      „Mamilla?“

      „Brustwarze, guter Ulman.“

      „Bitte sprechen Sie mit mir wie mit einem normalen Menschen. Ich habe nichts für dieses feine Gefasel über!“, stellte das leicht erregte Sozialbaukind mit grimmigem Ton seiner tiefen, kehligen Reibbrettstimme fest und war wieder am besten Wege zu einem seiner cholerischen Ausbrüche.

      Als Dr. Weiss ein weiteres Mal zu einem Scherz ansetzte, um den aufbrausenden Ermittler zu besänftigen sah er, wie sich ein Polizist in Schutzanzug über der perlnachtblauer Uniform, näherte. Es war der blondgelockte, im Vestibül zurückgelassene Jungpolizist, der ohne Zögern und selbstbewusst auf die beiden Herren zuging.

      „Sie wollten mich sprechen Herr Ober-Kommissar?“, fragte er dienerisch. Die angespannte Stimmung aus der Vorunterhaltung mitnehmend, wurde Ulmans Stirn wieder immer runzeliger und zog seine Augenbrauen über seine tiefsitzenden Sehorgane: „Ich will einen Ermittler sprechen, nicht einen Lehrling!“, schrie er krächzend und heiser klingend, hinaus in das Stiegenhaus, zu den Spurensuchern. „Sie hat dieser Pinguin also geholt?“, resignierte der morbide Mittsechziger weiter, „wie viele Leute sind von unserem Dezernat hier?“

      „Mein Name ist Körner und wir sind insgesamt sechs Kollegen vom Morddezernat am Tatort, Herr Ober-Kommissar“, entgegnete der eingeschüchtert Wirkende, während er den glatzköpfigen Chef-Spurensucher hilfesuchend anblickende.

      „Ich habe Sie nicht nach Ihrem Namen gefragt. Wo sind die Kollegen?“, begann Ulman immer mehr seine noch vorhandenen Zähne zu fletschen.

      „Sie befragen Passanten und Mitarbeiter von den Geschäften unten an der Straße. Hier im Haus, in den Wohnungen, war niemand zuhause. Wir versuchen noch mehr als den einen Zeugen zu finden“, berichtete Körner in unterwürfigem Ton.

      „Es gibt einen Zeugen?“

      „Ja, er ist unten bei den Sanitätern.“

      „Na gut. Körner, oder wie?“, fragte der plötzlich euphorische Kommissar.

      „Richtig, Herr Ober-Kommissar“, antwortete der enthusiastisch wirkende sechsundzwanzigjährige Wachtmeister.

      „Nun sind ja endlich alle psychedelisch aufgeheizt. Können wir weitermachen?“, warf der, am liebsten schon in seinem Forensik-Labor sitzende Weiss, ein.

      „Ich will Antworten auf meine Fragen. Was ist das überhaupt für eine Art von Firma hier? Wer sind die Leichen? Gibt es noch weitere, die hier arbeiten und heute nicht anwesend sind? Gibt es an der Straße oder im Treppenhaus irgendwo Kameras?“, zählte Ulman, Finger für Finger hebend, die wichtigsten Ermittlungspunkte auf, welche er von seinen abwesenden Kollegen einforderte.

      Als sich Körner, salutierend, schon wieder ans Werk machend, wegbewegen wollte, hielt ihn der grimmige Kommissar mit blutabschneidenden Händedruck am Oberarm fest und zog in zu sich heran. „Ich bin noch nicht fertig Frischfleisch“, trat der raubeinige Ermittler auf die Stimmungsbremse und ermahnte den bedrängten Körner, der sich seine Nase, mit der freien Hand zuhielt, als er unweigerlich in den ungepflegten Mund seines Aggressors blickte und dabei eine Brise ekelhaften Geruchsgemischs aus Bier, Zigaretten, Knoblauch und Speiseresten zwischen den eingefärbten Zähnen des rauborstigen Mittsechzigers einatmen musste. „Irgendwie muss der Täter in das Haus hereingekommen sein? Die alte Massivholztüre knackt kein Amateur und Panzerknackerprofi war der Täter wohl nicht. Also, durchforsten Sie jeden Paketdienstlieferanten, jeden Briefträger und alle Angestellten der Wasser- und Elektrizitätswerke, die hier Zugang haben.“

      „Wird gemacht“, winselte Körner, der wohl alles bejaht hätte was von ihm verlangt worden wäre, hätte ihn nur sein kriminalistisches Idol losgelassen und aus seinem übelriechenden Gefängnis befreit. Der grobschlächtige Mittsechziger ließ alsbald von seinem neuen Handlanger ab und schupste ihn auf einen der teuren schwarzen Lederstühle, welche dicht an dicht im Wartezimmer standen. Sowie der Befreite sich aufraffen wollte, um die zu Büroräumen umfunktionierte