Stadtflucht. Stephan Anderson

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Название Stadtflucht
Автор произведения Stephan Anderson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753193090



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die Seitengasse entlang zur Prachtstraße, wo sich die mobile Einsatzzentrale aller Exekutivorgane befand. Verstört blickte ihm Aaron hinterher, der zwar nichts von den leisen Ansagen des herrischen Kommissars gehört hatte, sich aber bereits ein deutliches Bild von jenem Mann machte, in dessen knöchrigen Fingern nun sein weiteres Wohlergehen lag. War es denn nicht gesellschaftlicher Usus, dass man sich seiner beruflichen Stellung und Funktion entsprechend kleiden sollte? Zwar fing Aaron mit diesem ungeschriebenen Dress-Code-Gesetz, warum ein Bankangestellter immer Anzug und Krawatte oder Busfahrer immer lange Hosen zu tragen hatten, ohnehin nichts an. Aber der Mensch ist eben auch nur ein Sklave seiner wilden Triebe und der imaginäre Gesellschaftsvertrag, so seine Interpretation der Welt, der ab der Sekunde der Geburt unterschrieben wurde, hatte nun einmal vorgesehen, dass man mit Vertrauen am besten Geld machen konnte. Und Geld war nun mal ein Schlüssel zu Macht und Macht bedeutete Aufstieg im Rudel. Und es gab im Rudel nun mal kluge Anführer, die den Kampf gegen andere Rüden nicht scheuten, aber dafür ständig im Fokus standen und es gab Anführer wie ihn. Die, welche eine Leitungsfunktion innehaben hätten können, es aber nicht wollten, weil sie sich nicht auf Grabenkämpfe mit Betarüden, wie es Sebastian Ulman einer war, einlassen wollten. Zu aufwendig, zu energieraubend, zu rastlos und zu ärgerlich waren für den faulen Aaron diese ständigen gesellschaftlichen Zwänge nach Führungsanspruch und Überlegenheit. Wenn jemand zu einem Bankangestellten mehr Vertrauen hatte, nur weil dieser, auch bei vierzig Grad im Schatten Anzug und Krawatte trug, dann suchte er, so Aaron, lediglich nach Vertrauen und Führung. Wer nicht anecken wollte und den Grabenkämpfen ausweichen, der musste klug handeln. In des selbsternannten Gesellschaftsphilosophen Werkzeugkoffer war die Schauspielerei, und er war ein guter Schauspieler, der durch die harte Schule jahrelanger Verkaufsgespräche und Preis-Feilschereien gegangen war, sein zwischenmenschliches Mittel zum Zweck. Auch im Handel spielte Vertrauen eine tragende Säule des Verhandlungsgeschicks. Den Gegenüber loben, ihn schwafeln lassen und in seiner geglaubten Erhabenheit bejahen. Sein innerstes Verlangen finden und es ihm doppelt geben. Und erst bei der Vertragsunterschrift kam der Gepriesene drauf, dass er gelinkt wurde. Der Wohlstandsbauchträger war nach außen ein aufoktroyierter Schleimer, Heuchler und Jasager. Im Inneren ein passionierter Nörgler, Zweckpessimist und arroganter Besserwisser. Ein willensbildender Manipulator der es, durch kaufmännisches Geschick, immer wieder schaffte seine egozentrische Impertinenz zu verschleiern, wenn es zu seinem Vorteil gereichte. Aber warum dann ein Mordermittler, der ebenfalls Vertrauen projezieren sollte, so auftrat, war Aaron ein Rätsel. Schwarze, ausgelatschte 80er-Jahre Lederslipper, eine verschlissene graue Stoffhose mit sprödem Ledergürtel, gelb-braun-grün gestreiftem Hemd, wie aus einem Retro-Laden und einer dünnen, für diese Jahreszeit komplett ungeeigneten Frühlingsjacke aus hellem Kunststoffleder. Dazu noch der wildwuchernde Dreitagesbart und das mitgenommen dreinblickende sowie faltige Gesicht von unzähligen Räuschen und Nikotindröhnungen gezeichnet.

      In seinem fortwährenden Streben zwischenmenschliches Vertrauen aufzubauen schien dieser alte, hagere Mann ein Härtefall zu werden. Als Aarons Musterung bei den, mit Fett gebändigten und zu einem Zopf gebundenen Haaren ankam, musste er feststellen, dass der Begutachtete ihm nun wieder seine volle Aufmerksamkeit schenkte: „Und sind Ihre Daten korrekt?“

      „Ja, das sind sie“, antwortete er, mit schwacher Stimme, aus dem Rettungswagen hinaus.

      Gleich von Beginn an, wollte er das ärmlichste Häufchen Elend darstellen, welches die Polizei je gesehen hatte, um mitleidsbekundet so schnell als möglich nach Hause zurückkehren zu können. Was genau in den letzten Stunden passiert war, schob sein Gehirn vollkommen zur Seite. Sein natürlicher Fluchttrieb wollte ihn einfach nur in emotionaler Sicherheit wiegen, um diese unangenehme Situation so schnell als möglich zu meistern. Eine Mär aus egozentrischer Selbsttäuschung.

      „Gut, Sie müssen mit aufs Morddezernat kommen und eine Aussage machen. Ich habe hier nicht die nötigen Daten, die ich brauche. Das steht alles auf gutem altem Papier.“

      Aaron stieg wieder das Blut in den Kopf und ihm wurde leicht schwarz vor Augen. Mitkommen, Morddezernat, Aussage? Konnte er denn nicht einfach in sein Bett zurückkehren und seine Ruhe vor der Welt haben? Aber in solchen Situationen kam eben seine Kämpfernatur zum Vorschein. Sein schauspielerisches Talent, welches ihm schon so oft ermöglichte, Gespräche und Bekanntschaften, mit einem gespielten Interesse seinerseits so zu versehen, so dass sein Gegenüber glaubte Aaron läge wirklich etwas an seiner Person und seiner Geschichte, würde ihn schon irgendwie aus dieser emotionalen Sackgasse herausmanövrieren. Innerlich ordnete er sich neu: zusammenreißen und am besten jenen stillen Jasager geben, den man wohl von ihm verlangte und dem rüpelhaften Kommissar glaubhaft versichern, dass auch sein grausames und unterdrückerisches Verhalten zur Rudelführung führte. Für diese Variante schien sich der alternde Ermittler entschieden zu haben und Aaron wollte ihm bei seinen gesellschaftlichen Ambitionen keinesfalls im Wege stehen.

      „Natürlich Herr Kommissar“, gab sich der Zeuge geknechtet, „worum geht es eigentlich? Ist jemand tot? Was ist genau passiert?“

      „Was, Ich dachte Sie sind Zeuge der Morde?“, zeigte sich Ulman verwundert über die Unwissenheit seines im Rettungswagen kauernden, einzigen Kronzeugen.

      „Morde?“, fragte der Geschockte nochmals nach, nicht glauben könnend, was er da hörte.

      Die beiden im vorderen Teil des Notarztbusses sitzenden Sanitäter nickten ihm gequält zu.

      „Ja, wir haben hier ein Massaker vorliegen und ich muss Sie dazu befragen! Bitte kommen Sie mit“, pfiff der zeichengebende Kommissar den desillusionierten Zeugen aus dem Wagen.

      Als dieser nur einige Sekunden, unter langsamer Rückkehr seiner Besinnung, zögerte, packte ihn Ulman grob unter den Achseln und zog ihn aus dem rettungsdienstlichen Kleinbus.

      „Warten Sie, der Zeuge steht noch unter Schock. Es war noch kein Arzt oder Psychologe hier, der bestätigt, dass er vernommen werden kann!“, versuchte der fürsorgliche Suppen-Sanitäter den stürmischen Ermittler Zeugen blindlinks zu verschleppen.

      „Wo ist der Arzt?“, entgegnete Ulman kratzig und harsch.

      „Der Psychologe sitzt in der U-Bahn fest. Es gab ein Gebrechen bei den Gleisen.“

      „Deshalb fahre ich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln“, lachte das Sozialbaukind und setzte seinen Gang, mit festem Handgriff unter Aarons Oberarm, zu seinem Auto fort.

      Die Herangehensweise, wie er sich diesen cholerischen und aufbrausenden Beamten zurechtrücken konnte, war Aaron nun klar. Das Ziel musste es sein, dass er ihm wohlgesonnen war und dabei spielte dessen Drang zur Diskreditierung anderer, um die Selbstabneigung vor seinem innersten Spiegel verdeckt zu halten, eine wichtige Rolle. Schnell analysierte der drangsalierte Kaufmann die Simplizität dieses alten Mannes und machte sie als seine größte Schwäche aus. Genau diese Leute waren es, die Aaron so sehr zur Weißglut trieben. Menschen, die geistig limitiert waren und trotz ihres beschränkten Horizonts, anständige Bürger wie ihn, einfach so am Arm packen konnten. Menschen, die zu allem eine Meinung hatten, obwohl sie intellektuell nicht dazu berechtigt waren und Menschen, die anderen mit ihrem Verhalten nur Unbehagen bereiteten.

      „Ich hasse es auch U-Bahn zu fahren“, stellte der anbiedernde Zeuge beschwichtigend fest, woraufhin Ulman seinen Griff lockerte und wenig später ganz löste.

      „Hören Sie zu“, wandte sich der großstädtische Kommissar seinem einzigen Zeugen zu, der sich, ob der nun verminderten Gesprächsdistanz beider Gesichter, die Hand vor die Nase hielt, um nicht weiter den üblen Mundgeruch des ungepflegten Polizisten, einatmen zu müssen, „Sie sind, wie es scheint, der einzige Zeuge und ich bin schon lange Zeit dabei. Das heißt, für mich sind Sie vielleicht mehr als ein Zeuge. Verstehen Sie mich?“

      Nein, Aaron verstand es nicht, nickte aber, um seine angebotene Kooperation und Unterwürfigkeit zu bekräftigen. „Kann ich noch meinen Rucksack und meine Haube mitnehmen?“

      „Ja, holen Sie sie und dann Abfahrt“, zeigte sich der alternde Ermittler ungewohnt ein- und nachsichtig.

      Der innerlich aufgelöste Zeuge lief die paar Meter zum Rettungswagen zurück, schnappte sich seine Sachen, bedankte sich bei den Sanitätern und betonte ihnen gegenüber, dass alles gut werden wird. Schnellen