Stadtflucht. Stephan Anderson

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Название Stadtflucht
Автор произведения Stephan Anderson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753193090



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zur Eingangstüre der Garconniere, wo er Dienstwaffe, Marke und seine billige Armbanduhr, dessen Lederband bereits spröde und ausgeleiert war, anlegte.

      „Heute mal Frühstücken?“, überlegte sich der großstädtische Ermittler, „ja, heute nehme ich mir die Zeit.“

      Vorbei an seiner mit ungewaschenem Geschirr zugepflasterten Küchenarbeitsfläche, kämpfte sich die hagere und knöchrige Gestalt nochmals über den, am Boden befindlichen Unrat, zu einer Kommode, welche die einzige in dem Wohnraum war, die nicht mit Modellschiffen, übervollen Aschenbechern oder eingegangenen Topfpflanzen bestückt war. Sein rechter Zeigefinger streifte über eine Aneinanderreihung von sorgfältig angeordneten Glasflaschen. Der großstädtische Ermittler war sich unschlüssig: „Rum, Whisky, Wodka oder doch Gin?“ Seine Frühstücksmusterung endete bei einer Flasche ´Don Papas´-Rum, den er sich friedlos in ein schmutziges Glas leerte und hinunterschlang.

      War Sebastian Ulman vielleicht nicht der gesprächigste, best-gekleidete oder Körperhygiene hochachtungsvollste Kommissar des Morddezernats, er hielt jedoch viel von hochwertigem Hochprozentigen. Und entgegen seiner Kneipenbesuche, die er mal gesprächig am Tresen, mal leise trinkend in einer dunklen Ecke verbrachte, bis er kein Glas mehr halten konnte, genoss er es, dass zumindest ein etwas anspruchsvolles Zuhause auf ihn wartete. Es konnte auch schon einmal vorkommen, dass ihn seine Spirituosensammlung sogar hie und da dazu verleitete eines von zwei Fenstern seines Wohnraums zu öffnen und mit einem guten Glas in der Hand, das darunter befindliche, städtische Parktreiben zu beobachten.

      Sicherlich war es auch sein Alter von Anfang sechzig, das seiner Meinung nach die tiefen Falten auf seiner Stirn und seinen hohlwangigen Wangen mit sich brachte, doch diese Art von Frühstück trug sicher einen großen Teil dazu bei, dass die tiefblauen Augenringe, welche sein Gesicht markant zierten, seinen genetisch, vorbestimmten Zellverfallsprozess deutlich beschleunigte. Sein Spiegel vermochte ihm keinen genauen Anblick seiner selbst zulassen und tief in seinem Inneren wusste er auch wohl, warum der nächste Wohnungs-Putzgang schon seit zwei Monaten auf sich warten ließ, denn wie er es auch hasste von anderen belogen zu werden, so belog er sich selbst täglich am meisten. Keine fünf Sekunden dauerte es, da war des Modellbauers Frühstück auch schon Geschichte. Und weg waren die Kopfschmerzen. Er surfte wieder auf seiner Welle.

      Gekonnt platzierte er das gebrauchte Glas auf dem Geschirrberg in der Küche, ohne dass dieser aus dem Gleichgewicht kam. Das verhasste Mobiltelefon eingesteckt und nur mit einer dünnen Frühlingsjacke bekleidet, verließ er seine Festung der deprimierenden Einsamkeit in Richtung Tatort.

      In seinem himmelblauen Citroen AX sitzend, die Standheizung voll aufgedreht, machte sich der alternde Ermittler daran, die von der Polizei-Leitstelle per SMS zugsandte Adresse nachzulesen. Wie er zum wiederholten Male die falsche Tastenkombination seines Nokia 105 drückte und noch immer nicht in das gewünschte Sub-Menü vorstoßen konnte, schleuderte er es mit einem lauten Schrei auf die Innenseite der Beifahrertür, so dass es auf dem Beifahrersitz zum Liegen kam. Der Grobmotoriker aus einem anderen Jahrzehnt hatte keine Nerven für diesen technischen Firlefanz und stieg aus seinem Auto aus, um dem Beisel auf der anderen Straßenseite einen kurzen Besuch abzustatten. Während sich sein, in die Jahre gekommenes Fortbewegungsmittel, noch immer unverschlossen auf offener Straße per Standheizung aufwärmte, trat Ulman in die, ihm gut bekannte, Spelunke ein und bat um Benützung des Festnetztelefons.

      „Guten Morgen Basti!“, begrüßte ihn der verwunderte Wirt, der gerade mit Gläsern abtrocknen beschäftigt schien, „schon wieder im Dienst nach der harten Nacht?“

      Die wenigen Gäste, die aufgeteilt auf dem Tresen und den gut zehn Bistrotischen des dunklen Etablissements saßen, blickten alle auf den wiederkehrend Eintretenden und erwarteten in ihrer nichtstuerischen Neugier eine Antwort.

      „Das Verbrechen schläft nie. So wie ich. Was ist nun mit dem Telefonat?“, entgegnete, der in Eile geratene Kommissar.

      Der exzentrische Wirt presste seine Lippen zu einem Kussmund zusammen und deutete zum Standort des gewünschten Apparates, um dann die so oft gestellte Frage aller Fragen in Richtung des immer wiederkehrenden Gastes zu stellen: „Und was darf es zum Trinken sein, Rum?“

      „Nein. Heute nicht“, lehnte Ulman dankend ab, während er die Telefonnummer der Leitstelle skoptisch eintippte. Nach dem ersten Wählton fuhr er dann doch mit seiner Ausführung fort: „Heute nehme ich einen „Black Label.“

      „Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Wie kann ich Ihnen helfen?“

      „Ja, Kommissar Sebastian Ulman hier“, sprach er in den Hörer und beobachtete zugleich das Einschenken seines hochprozentigen Getränkes.

      „Der Kommissar Ulman? Es ist mir eine Ehre. Warum rufen Sie auf der Notrufnummer an?“

      „Egal. Bitte. Ich wurde zu einem Einsatz gerufen und kann die Adresse von diesem Mobiltelefon nicht ablesen. Es muss kaputt sein.“

      „Haben Sie schon versucht in das Menü zu gehen und auf ‚Nachrichten abrufen‘ zu tippen?“

      „Los, geben Sie mir einfach nochmals die Adresse durch.“

      „Entschuldigen Sie Herr Kommissar, aber ich darf Ihnen die Adresse nicht per Telefon durchsagen. Vorschriften. Ich habe alles über Ihre schwierigsten Fälle in der Polizeischule gelernt. Ich möchte Ihnen sagen wie sehr ich Sie bewun …“

      „Geh scheißen!“, schrie der passionierte Choleriker und nippte lieber an seinem frisch servierten Whisky.

      Der alternde Ermittler drosch den Hörer auf das Wählgerät und rannte aus dem Beisel, um mit dem Slalomlauf durch die stauenden Autos, auf die andere Straßenseite, zu seinem parkenden französischen Oldtimer, zu gelangen. Wenn ihm eines im Leben wichtiger war, als sich sein derbes Dasein schön zu saufen, dann seine Arbeit. In seinem nun vollständig auf fünfundzwanzig Grad aufgeheizten Fahrzeug angekommen, erinnerte er sich nochmals, was ihm sein junger Kollege im Telefon vorgeschlagen hatte. Der Technikverächter replizierte nochmals seine Worte, während er sein Mobiltelefon genau betrachtete. „Menü drücken. Dann Nachrichten abrufen. Ha!“, jubelte er, „ich habe es geschafft. Niemanden brauche ich, außer meinen Verstand!“

      Freudig legte er den ersten Gang seines Citroen AX ein und machte sich auf den Weg zu der gesandten Tatortadresse. Während er sich von Ampel zu Ampel staute, stand ein breites Grinsen inmitten seines Dreitagesbartes. Endlich schien wieder ein spannender Fall, in einem gut betuchten Wohnviertel seinen tristen Arbeitsalltag aufzupeppen.

      Karriere über seinen Kommissarsposten hinweg wollte der morbide Mittsechziger sowieso nie machen, da er den übermäßigen Umgang mit dilettantischen Menschen sowieso nur aus dem Weg ging, wo er nur konnte und ihm mögliche Personalverantwortung an den Schreibtisch fesseln würde.

      Kommissar Sebastian Ulman war ein Kind der Großstadt. Ein Mann, der knifflige und schwierige Fälle durch seine Kombinations- und Beobachtungsgabe löste und dabei, von seiner Kindheit in einem übervölkerten Sozialbau, profitierte. Musste er schon Menschen um sich herum dulden, dann zumindest solche, welche seine rauborstigen Sprache und Umgangsformen verstanden. Diese empathischen Fähigkeiten gegenüber der einfachen Bevölkerung konnte man auf keiner Polizeiakademie erwerben und mit ausgelerntem Kadetten-Frischfleisch, wie er seine nachrückenden, jungen Kollegen nannte, wollte und konnte er sich nicht herumschlagen. Keiner von denen würde mit einem Schritt den rechten Pfad der Vorschriften verlassen. Ulman schon. Und das war, mitunter, sein Erfolgsrezept.

      Die Wartepausen bei unzähligen roten Ampeln nutzte er mit einem routinierten Griff in das Handschuhfach seines 1988 vom Band gelaufenen französischen Vehikels, welches schon so gut wie reif für die Schrottpresse war, allerdings noch immer zweiunddreißig Jahre weniger auf dem Buckel hatte als sein Besitzer und holte eine Tablette Aspirin Akut hervor, welche er prophylaktisch runterschluckte.

      Nur im Schritttempo vorankommend kurbelte der nikotinsüchtige Mordermittler das Fahrertürfenster nach unten, um den überheizten Wagen durchzulüften und zündete sich dabei gleichzeitig eine Zigarette an. Der nun hereintönende Straßenlärm machte ihm nichts aus, denn was für einen Landmensch das erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war des Großstädters,