Das Rubikon-Papier. Christoph Güsken

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Название Das Rubikon-Papier
Автор произведения Christoph Güsken
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754179727



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Erinnerungen, Ideen und Assoziationen reihten sich wie von selbst in seinen Gedankenfluss ein. Blockaden lösten sich, und Banales trennte sich von Wichtigem. Oft hatte er das Gefühl, wenn er nur lange genug joggte, würde sich sein Leben wie von selbst ordnen, ohne dass er et­was dazu beitragen musste.

      Eine schöne Illusion. Sein Leben würde sich nicht von selbst ord­nen, auch wenn er selbst alle seine Mühe darauf verwendete, es würde ihm nicht mehr gelingen. Dafür war es zu spät. Ich kann froh sein, ging es von Zabern durch den Kopf, während er einem entgegenkom­menden Radfahrer auswich, dass es mir wenigstens vergönnt war, ei­nen unge­schönten Blick auf das Chaos zu werfen. Jahre, Jahrzehnte lang habe ich mir in der Rolle des unbequemen Analysten gefallen. Als mir die Augen geöffnet wurden, sah ich im selben Moment, dass ich mir auf nichts etwas einbilden kann. Nicht einmal darauf, reinen Tisch ge­macht zu haben, denn das wird die Dinge nicht mehr ins Lot bringen. Die ganze Zeit war ich mir darüber bewusst, dass ich mir selbst etwas vormache, doch ich habe es eben gern getan. Es war be­quem und brachte mir Ansehen ein.

      Der alte Mann verließ den See und bog nach links auf einen Weg ab, der an der Gartenseite seines Grundstücks vorbeiführte. Es war ein großes Grundstück in einer sündhaft teueren Lage, Innenstadt und Parklandschaft in einem. So etwas konnten sich nur wenige leisten. Er gehörte zu ihnen.

      Von Zabern musste grinsen. Sich etwas vorzumachen, zahlte sich aus. Nicht nur jetzt, sondern auch später. Vielleicht war das Haus samt Grundstück schon bald nicht mehr viel wert, doch heutzutage konnte man sich selbst aus der Hölle freikaufen, wenn man nur über das nöti­ge Kleingeld verfügte. Die berühmte Volksweisheit, der zufolge ein To­tenhemd keine Taschen hatte, war widerlegt.

      Der Jogger verfiel in Schrittempo und stoppte vor seiner Gartentür. Er überquerte den Rasen in Richtung Terrasse. Wenigstens hatte er rei­nen Tisch gemacht. Das war es eigentlich, was seine gute Stimmung aus­machte, nicht nur die Endorfine, die das Joggen freigesetzt hatte. Nach außen hin schien er sich dem Ende seines Lebens zu nähern. Und doch hielt er die Chance eines Neuanfangs in den Händen. Ob­wohl er es nicht verdient hatte.

      Am Ende zählt immer nur, was du nicht verdient hast. Das hatte er ir­gendwo gelesen.

      Die Terrassentür stand offen. So weit von Zabern sich erinnerte, hatte er sie verschlossen, als er vor einer halben Stunde das Haus ver­lassen hatte. Er blieb stehen und machte ein paar Dehn- und Streck­übungen. Und wenn es das letzte Mal gewesen ist, dass ich diese Stre­cke gelau­fen bin?, fragte er sich. Er war kein Dummkopf und hatte diese Mög­lichkeit von Anfang an in Betracht gezogen.

      Benno von Zabern beugte sich vor, um mit seinen Fingern die Zehens­pitzen zu berühren. Richtete sich wieder auf und nahm einen tie­fen Atemzug. Er verwarf den düsteren Gedanken und betrat das Haus. Erst würde er eine Dusche nehmen und danach in aller Ruhe seinen Brief fertigstellen.

      Im Arbeitszimmer befand sich ein Mann. Er trug eine braune Leder­jac­ke und stand, dem Ankömmling den Rücken zukehrend, über den Schreibtisch gebeugt.

      Von Zabern trat auf ihn zu und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich eine zweite Person aus dem Schatten der Tür löste. Also doch, dachte er.

      „Suchen Sie etwas Bestimmtes, meine Herren?“, erkundigte er sich.

      Der Mann am Schreibtisch drehte sich zu ihm um. Er war sehr groß, kräftig gebaut und trug eine spiegelnde Sonnenbrille, was sei­nem Ge­sichtsausdruck etwas Hartes und Unpersönliches gab.

      In der Hand hielt er eine Waffe, auf dessen Lauf ein Schalldämpfer ge­schraubt war.

      2. Kapitel

      Kerkhoff sah auf seine Uhr, schon zum x-ten Mal. Fünfundzwanzig Minuten. So lange wartete er jetzt schon auf seine Verabredung. Er griff nach der leeren Kaffeetasse vor ihm auf dem Tisch und drehte sie in der Hand, was die Kellnerin dazu veranlasste herbeizueilen.

      „Darf‘s noch etwas sein?”

      Kerkhoff verneinte dankend, erwägte aller­dings für einen Moment, ob er nicht von Kaffee auf Bier umsteigen soll­te. Er ent­schied sich dage­gen.

      Dabei sah es ja nicht so aus, als würde aus dem Interview etwas wer­den. Irgendwie hatte er sich das schon gedacht, er war schließlich nicht neu in seinem Geschäft. Kerkhoff hatte schon viele Große aus Po­l­itik und Wirtschaft um ein Interview gebeten und immer gern ge­wartet, wenn man ihn hatte warten lassen. Dafür hatte er sogar Ver­ständnis. Prominente lebten von dem Gefühl, bedeutend zu sein. Dass man sie um ein Interview bat, zeugte von ihrer Bedeutung, aber auch dass man dafür Wartezeit in Kauf nahm. Je mehr, desto bedeutender.

      In diesem Fall jedoch sagte ihm sein journalistischer Instinkt, dass er vergeblich wartete.

      Dr. Jörg Eichendorf, Abgeordneter des Europapar­laments, würde nicht kommen. Also warum nicht ein Bier bestellen und den Fall abhaken? Es von der positiven Seite sehen: Das hier war Hamburg von seiner schönsten Seite. Heutzutage hatte man nicht oft einen solchen blauen Himmel, der den bevorstehenden Frühling gera­dezu schmeckbar machte. Und an einem solchen Tag saß er in einem lauschigen Café und sah hinaus zu den Landungsbrücken, auf denen sich ameisen­gleich Touristen tummelten. Im Grunde genommen war das nämlich ein gutes Zeichen. Eichendorf ging einem Interview aus dem Weg, als ahnte er, dass unangenehme Fragen auf ihn warteten - das bedeutete doch, dass er, Kerkhoff, auf dem richtigen Weg war. Dass er mit seinen Vermutungen richtig lag. Und das war erstmal das Wichtigste. Wenn der Mann denkt, mich abwimmeln zu können, in­dem er mich einfach versetzt, dann ist er schief gewickelt.

      Kerkhoff war vielleicht kein Athlet, aber ein Stehauf-Männchen. Einer, der viel Erfahrung damit hatte, zu Boden zu gehen. Eine echte K.O.-Erfahrung war Gold wert. Strahlenden Siegertypen fehlte sie meistens, deshalb verschwanden sie auch in der Versenkung, sobald es irgendjemandem gelang, sie einmal ins Wanken zu bringen. Kerkhoff dagegen gab niemals auf. Sich immer wieder aufzurappeln, machte den eigentlichen Kämpfer aus. Und dazu gehörte auch, das Gequat­sche anderer Leute nicht besonders ernst zu nehmen, vor allem dann, wenn sie ihn damit nur von den eigenen Zielen abbringen wollten.

      „Viele Leute messen einen Journalisten an dem Aufsehen, das seine Story hervorruft“, hatte einer seiner ehemaligen Chefs ihm gepredigt. „Wollen unbedingt die Meldung des Jahrhunderts herausbringen – neueste Enthüllungen über das schwarze Loch, den Yeti oder die Marsmenschen. Du bist zu alt für so etwas.“

      Kerkhoff wusste es besser. „Hast du dir schon einmal klargemacht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir Menschen die einzige In­telligenz in diesem riesigen Weltall sind, so gut wie bei Null liegt?“

      „Don Quichotte ist auch in die Geschichte eingegangen, weil er davon überzeugt war, gegen Ritter zu kämpfen. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um Windmühlen handelte.“

      „Abwarten“, sagte Kerkhoff.

      Das sagte er meistens. Abwarten. In seinen dunklen Stunden kam es ihm oft so vor, dass dies das Motto seines Lebens war. Und dass er eines Tages genauso wie der berühmte Mann aus La Mancha enden würde, nämlich als Witz der Weltgeschichte. An solchen Tagen geneh­migte er sich meistens einen zu viel oder mehrere. Das machte ihn ab­geklärter und versetzte ihn in die Lage, über seinen eigenen be­schränkten Horizont hinauszusehen, über morgen und sogar übermor­gen hinaus, und meistens schwindelte ihn, wie schnell die Zeit, die noch vor ihm lag, schrumpfte. Wenn seine große Chance nicht bald kam, würde sie ihn gar nicht mehr antreffen, und es würde dabei blei­ben, dass er sein ganzes Leben mit dem Warten an einer Bushaltestelle verbracht hatte. Und all die Leute, die sich rechtzeitig mit dem mage­ren Durchschnitt beschieden hatten, würden triumphieren.

      Eine Frau betrat das Café und Kerkhoff starrte auf ihre Beine, die halbdurchsichtige Strümpfe sehr vorteilhaft zur Geltung brachten. Dann stoppte die Frau plötzlich und setzte sich ungefragt an seinen Tisch.

      Kerkhoff war überrumpelt. „Kennen wir uns?”, fragte er.

      Die Frau widmete sich erst der Kellnerin und bestellte einen schwar­zen Kaffee, dann erst setzte sie ihre Sonnenbrille ab. „Grit van Basten”, sagte