Tod im ewigen Eis. Hans Säurle

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Название Tod im ewigen Eis
Автор произведения Hans Säurle
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753128030



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Ein Feuer brannte in der Mitte der Hütte, in dem auch seltene Kräuter, Tierknochen und Vogelfedern verbrannt wurden. Die Schwänin saß dicht neben dem Kranken und blies auf ihrer aus einem Schwanenknochen gefertigten Flöte unaufhörlich dieselben Melodien. Danach rauchte die Schwänin einen mit zerriebenem Mohn versetzten Stängel aus Schilfgras und blies den Rauch dem Kranken ins Gesicht. Dann saugte sie aus seinem Bauch und seiner Brust kleine Steine heraus, spuckte sie ins Feuer, wo sie unter lautem Geprassel verbrannten. Die Schwänin sprang über und um ihren Patienten, schlug die Arme wie ein Vogel auf und nieder und krächzte wie ein Schwan, so dass sie in der dunklen und verrauchten Hütte von einem wahren Schwan bald nicht mehr zu unterscheiden war.

      Jetzt konnte sie Kontakt zu den Göttern aufnehmen, ihnen vom Schicksal ihres Patienten berichten und Anweisungen der Götter erhalten, die genau und sofort umzusetzen waren. Es konnte sein, dass der Patient ein großes Opfer bringen musste für eine bestimmte Gottheit, gegen die er sich vergangen hatte, oder dass er das Dorf für eine Weile meiden musste. Es konnte aber auch sein, dass die Schwänin ihn verletzen musste, seinen Körper mit einem Stein aus scharfem Feuerstein zu öffnen hatte. Oft flossen aus diesem Schnitt Eiter oder andere übel stinkende Flüssigkeiten. Die Zeremonien dauerten üblicherweise die ganze Nacht und gingen bis zur Erschöpfung aller Beteiligten. Denn nur bei vollkommener Aufgabe seiner irdischen Person konnte ein Schamane den Kontakt zu den Göttern herstellen.

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      Auch die Schamanin hatte einen Mann genommen und drei Kinder bekommen, wobei eines gleich bei der Geburt und das zweite – noch ohne einen Namen erhalten zu haben – schon wenige Wochen nach der Geburt gestorben waren. Ihr drittes Kind hatte die gefährlichen ersten Monde überlebt. Der kleine Junge wurde den Göttern und allen Dorfmitgliedern bei einem Fest zu seinen Ehren vorgestellt und hatte bei dieser Gelegenheit seinen Namen bekommen: Gilger. Sein linkes Bein war in seiner Beweglichkeit ein wenig eingeschränkt, dieses Hüftleiden fiel zunächst nur der Mutter auf.

      Gilger wuchs zufrieden und glücklich in der kleinen Dorfgemeinschaft auf, wo sein Vater Rodo und die Schwänin ein paar Ziegen und Schafe hielten. Gilger liebte diese Tiere. Er genoss ihren Geruch und mochte es gerne, wenn die Tiere sich an ihm rieben. Dies erzeugte wohlige Gefühle in ihm.

      Mit der Zeit lernte er die einzelnen Tiere nach ihren Eigenheiten zu unterscheiden. Als er größer geworden war, arbeitete er als Hütejunge. Diese Arbeit gefiel ihm, denn dabei hatte er Muße und konnte unbehelligt auf seiner Flöte spielen. Wenn sein Vater ihn aufforderte, begleitete er ihn auch zur Jagd, aber lieber war er draußen bei der Herde, bei den friedlichen Tieren. Häufig schlief er nachts unter freiem Himmel bei den Ziegen und Schafen, ihm schien, als funkelten die Sterne draußen auf den Weiden strahlender als in ihrem Dorf.

      Ziegen und Schafe hatten verschiedene Besitzer, wurden aber gemeinsam in Herden gehalten. Die Tiere waren sehr wertvoll, denn außer der Wolle lieferten sie Fleisch, Fett, Leder, Sehnen, Knochen und nach dem Lammen auch Milch. Ihre Weiden lagen oft weit entfernt von den Dörfern. Hirten bewachten sie und schützten die Herden vor Raubtieren. Im Frühsommer wurden die Tiere ins Dorf getrieben, wo ihre wenige harte Wolle geschoren wurde. Winters blieben sie in Pferchen in der Nähe des Dorfes. Wenn die Weiden von Schnee bedeckt waren, gab man ihnen Laubheu zum Fressen. Dazu mussten im Sommer viele Zweige von Laubbäumen geschnitten und getrocknet werden. Schließlich musste das Laubheu bis zum nächsten Austrieb reichen.

      Ohne ersichtlichen Grund wurde Gilgers Vater krank. Er begann zu husten, Blut zu spucken, wurde immer schwächer und konnte schließlich nicht mehr gehen. Die Schwänin und Gilger versorgten ihn aufopferungsvoll in seiner Hütte, brachten ihm die leckersten Speisen und Getränke. Trotz vieler aufwändiger Zeremonien hatte die Behandlung der Schwänin keinen Erfolg. In diesem Fall versagten sich ihr die Götter. In ihrer Not rief die Schwänin auch andere Schamanen zu Hilfe, doch auch die konnten nicht den bösen auf Gilgers Vater liegenden Zauber bannen. Blutspuckend und bis auf Haut und Knochen abgemagert verstarb Rodo. Gilgers Vater hatte diese Welt verlassen und sich auf die lange Reise zu den Göttern begeben. Gilger vermisste seinen Vater sehr.

      Da es nun an ihm lag, ab und an Fleisch nach Hause zu bringen, musste er jagen lernen. Er hatte nie gerne gejagt und deshalb auch nicht richtig aufgepasst, wenn sein Vater ihn in der Jagd unterwies. Um seine Bogenschusstechnik zu verbessern, übte er immer wieder mit Pfeil und Bogen, wenn keiner ihn sehen konnte. Mit dem großen Bogen seines Vaters zu schießen war nicht einfach, allein ihn zu spannen kostete viel Kraft. Dann begannen seine Arme zu zittern, was seine Zielgenauigkeit deutlich minderte.

      Bei seinen Übungen schoss er auf eine Zielscheibe, die er in den Formen einer Frau in eine große Buche ritzte. Oft stellte er sich dabei die Mädchen vor, die sich wegen seines hinkenden Gangs über ihn lustig machten. Insbesondere die kichernde Maluga war sein bevorzugtes Zielobjekt. Allmählich wurde er ein besserer Schütze, er zielte auf die Stirn von Maluga, auf ihre Brüste, ihren Bauch und am liebsten noch etwas tiefer. Wenn sein Pfeil diese Stelle seiner Zielscheibe traf, stieß er einen Freudenschrei aus. Schließlich hatte er seine Treffsicherheit soweit verbessert, dass er mit Aussicht auf Erfolg auf die Jagd gehen konnte. Gelegentlich brachte er ein kleines oder krankes Reh, eine Ente oder einmal sogar einen Biber mit nach Hause.

      Die Schwänin war inzwischen eine der anerkanntesten Heilerinnen im weiten Umkreis geworden. Die Kranken kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Zu ihren Zeremonien kamen Männer und Frauen mit chronischen Wunden, mit Potenzstörungen, Leistungsschwäche und Kurzatmigkeit. Menschen, die in tiefer Dunkelheit und Traurigkeit lebten, Frauen, die keine Kinder gebären konnten, Kinder mit Durchfall und Hautauschlägen, mit Eiterbeulen und mit Knochenbrüchen. Für sie alle erhob sich die weiße Schwänin unter Aufgabe ihrer eigenen irdischen Identität in große Höhen empor, um mit den Göttern die Angelegenheit des Kranken zu besprechen und ihre Anweisungen zu hören.

      Eines Tages wurde eine junge Frau zu ihr gebracht. Maluga war erst vor Kurzem von ihrem ersten Knaben entbunden worden. Nun hatte sie eine entzündete Brust, außerdem Fieber und sie stöhnte vor Schmerzen. Die Schwänin untersuchte Maluga, gab ihr einen Sud aus Weidenrinde, band die entzündete Brust hoch. Weil dies der kranken Frau aber keine große Linderung verschaffte, flößte sie ihr auch eine genau bemessene geringe Menge an Mohnsaft ein. Maluga fiel daraufhin in tiefen Schlaf, am nächsten Morgen ging es ihr nur wenig besser. Deshalb mussten nun in einer speziellen Zeremonie die Götter um Rat gefragt werden.

      Die Schwänin tanzte um den Körper der jungen Frau, immer wilder tanzte sie und plötzlich trug sie ihr weißes Federkleid. Sie bewegte sich wie ein Vogel und begann zu fliegen, bis hinauf zum Sitz der Götter flog sie, um deren Rat zu erhalten.

      „Ein vergifteter Pfeil durchdrang ihre Brust,“ sprachen die Götter. „Wer hat auf diese unschuldige junge Frau geschossen?“ fragte die Schwänin mit gesenktem Kopf. Denn nie wagte sie es, den Göttern ins Gesicht zu blicken. Die geflüsterte Antwort der Götter ließ ihr Gesicht und sogar ihren Schnabel bleich werden. Der weiße Schwan kehrte zurück in die Hütte, zu ihrer Patientin und ihrem Helfer. „Sie wurde durch einen magischen Pfeil verletzt.“

      „Ein Pfeil fliegt nie von selbst, immer gibt es einen Schützen. Wer sollte auf diese junge Frau schießen?“ fragte der Helfer.

      Noch halb in Trance flüsterte die Schwänin mit versagender Stimme: „Die Götter sagten, es sei Gilger gewesen, mein Sohn.“ Sie hämmerte mit beiden Fäusten auf Maluga ein, sah mit irrem Ausdruck ihren Helfer an. „Was machen wir nur?“ fragte die Schwänin mit krächzender Stimme. „Wir können Gilger doch nicht…“ Ihr Helfer aber hörte sie schon nicht mehr.

      „Menschen, die Pfeile auf andere Dorfbewohner schießen, haben in unserer Siedlung nichts verloren. Bist Du denn ganz sicher, dass Du auch alles richtig verstanden hast?“ Der Häuptling blickte streng auf den Helfer der Schwänin, fragte mehrmals nach und formte seine Gedanken langsam zu Worten: „Der Sohn der Schwänin hat auf Maluga mit einem Pfeil geschossen und deshalb ist Maluga erkrankt, das hat die Schwänin selbst gesagt. Wenn es die Götter ihr selbst mitgeteilt haben, dann kann daran wohl kein Zweifel bestehen.“

      Er wiegte bedächtig seinen Kopf,