Название | GRABESDUNKEL STEHT DER WALD |
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Автор произведения | Eberhard Weidner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738053609 |
Cora musste nicht lange darüber nachdenken. Schließlich kannte niemand Markus besser als sie. Und falls es sich um einen Betrüger handelte, dann würde sie das sofort erkennen und der Polizistin mitteilen, noch ehe der Mann auch nur einen Fuß in ihr Haus setzen konnte.
Sie erklärte sich einverstanden und diktierte ihrer Gesprächspartnerin ihre E-Mail-Adresse, während sie mit dem Telefon am Ohr in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock ging. Sie war noch immer etwas wacklig auf den Beinen, als hätte sie einen anstrengenden Marathonlauf hinter sich, fühlte sich ansonsten aber, abgesehen von den Kopfschmerzen, wieder gut. Den ersten Schock, der sie mit der Wucht eines Faustschlags getroffen hatte, hatte sie mittlerweile überwunden. Sie hatte nun wieder das Gefühl, sicher im Sattel zu sitzen und die Zügel in der Hand zu halten.
In ihrem Arbeitszimmer setzte sie sich hinter den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und schaltete ihn an.
»Die E-Mail mit dem Foto als Anhang ist jetzt an Sie unterwegs«, meldete sich die Polizistin. »Es müsste jeden Moment bei Ihnen ankommen. Sehen Sie es sich genau und in aller Ruhe an und sagen Sie mir dann, ob es sich bei der abgebildeten Person Ihrer Ansicht nach um Ihren vermissten Mann handelt. Lassen Sie sich jedoch nicht von seinem verwahrlosten Äußeren irritieren.«
»Okay«, sagte Cora und starrte ungeduldig auf den schwarzen Bildschirm, weil der blöde Computer immer eine Ewigkeit brauchte, bis er hochgefahren war. Wurde allmählich Zeit, dass sie sich ein neueres und schnelleres Gerät zulegte. »Ich sehe es mir an und rufe Sie dann zurück.«
Sie achtete nicht auf das, was Anja Spangenberg noch sagte, sondern unterbrach die Verbindung kurzerhand und legte das Telefon neben dem Laptop auf den Schreibtisch. Sie wollte ungestört sein, wenn sie sich das Foto ansah und herauszufinden versuchte, ob es tatsächlich Markus war. Und auch wenn die Polizistin nicht körperlich, sondern nur als körperlose Stimme anwesend gewesen wäre, hätte sie das irritiert und abgelenkt.
Nachdem der Computer endlich hochgefahren war und die gewohnte Windows-7-Oberfläche zeigte, rief Cora ihr E-Mail-Programm auf, das nach Eingabe des korrekten Passwortes automatisch ihre Mails herunterlud. Sie sah, dass sie seit gestern mehrere Mails bekommen hatte; bei den meisten handelte es sich allerdings nur um unerwünschte Werbung. Dann entdeckte sie am Ende der Liste als Absendereintrag den Namen der Ermittlerin von der Vermisstenstelle.
Sie bewegte ihren Zeigefinger auf dem Touchpad und klicke die Mail an, die allerdings keinen Text, sondern nur eine Bilddatei als Anhang enthielt.
Coras Finger bewegte den Mauszeiger auf den Namen der angehängten Datei, verharrte dann jedoch regungslos.
Sollte sie sich das Bild tatsächlich ansehen? Vermutlich handelte es sich ohnehin nur um jemanden, der ihrem Ehemann halbwegs ähnlich sah und zufällig ähnliche Kleidung trug. Wieso ersparte sie es sich dann nicht gleich, einen Blick auf die Aufnahme zu werfen, rief die Polizistin an und teilte ihr mit, dass es sich nicht um ihren Mann, sondern um einen Betrüger handelte. Gleichzeitig verspürte sie jedoch auch den Zwang, sich vergewissern zu wollen, dass es tatsächlich nicht Markus war.
Also atmete sie noch einmal tief ein, bevor sie sich einen Ruck gab und die Datei anklickte.
Zuerst geschah ein paar Sekunden lang gar nichts, und Cora dachte schon, die Datei wäre fehlerhaft und könnte nicht geöffnet werden. Dann öffnete sich jedoch ein Bildbetrachtungsprogramm und begann damit, die Bilddatei zu laden und auf dem Bildschirm darzustellen.
Cora hielt unwillkürlich den Atem an, während sich die Aufnahme rasch Reihe für Reihe vor ihren Augen aufbaute, als würde sich ein Gespenst nach Beginn der Geisterstunde vor den Augen eines schreckhaften Schlossbesuchers materialisieren.
3
»Großer Gott, er ist es tatsächlich!«, flüsterte Cora, als hätte sie Angst, es laut und deutlich auszusprechen, noch ehe sie Gelegenheit gehabt hatte, das Foto genauer in Augenschein zu nehmen. Dennoch war sie sich absolut sicher, schließlich war sie mit diesem Mann seit über dreiundzwanzig Jahren – in guten wie in schlechten Zeiten – verheiratet.
Die Aufnahme zeigte einen Mann, der vor einer weißen Wand stand und mit ausdruckslosem Blick in die Kamera starrte. Er sah mindestens um fünf Jahre älter aus als die 51 Jahre, die er tatsächlich war, und um mehrere Zentimeter kleiner als die ein Meter achtzig, die er maß, als wäre er in den letzten drei Monaten nicht nur über alle Maßen gealtert, sondern auch geschrumpft. Außerdem schien er abgenommen zu haben und ein halbes Dutzend Kilo weniger zu wiegen als die 85 Kilo Körpergewicht, die er in den letzten Jahren permanent auf die Waage gebracht hatte. Aber das alles war im Grunde auch kein Wunder, wenn er die letzten neunzig Tage tatsächlich auf der Straße verbracht und von Almosen, Diebstählen und der Hand in den Mund gelebt hatte.
Denn trotz all dieser offensichtlichen Veränderungen war der Rest seiner äußeren Erscheinung unverkennbar, auch wenn der Schädel, den er sich schon seit vielen Jahren täglich rasierte, jetzt von einem Kranz kurzer rotblonder Haare umgeben war. Der kahl geschorene Schädel war immer sein Markenzeichen gewesen, neben dem breiten, jetzt unrasierten Kinn mit der ausgeprägten Kinnspalte und den grünen Augen, die einen in einem Moment so warm und liebevoll, im anderen aber auch so dominant und kalt ansehen konnten.
Er trug sogar noch immer dieselbe Kleidung, die er bei seinem Verschwinden angehabt haben musste: eine hellblaue Jeans, dazu einen schwarzen Rollkragenpullover und an den Füßen braune Boots-Schuhe von Timberland.
Cora fühlte sich unbehaglich unter seinem Blick, obwohl sie sich nur einem Foto gegenübersah und nicht dem wirklichen Menschen, und rutschte unruhig auf der Sitzfläche ihres Drehstuhls hin und her. Sie fragte sich, was diese Augen in den letzten drei Monaten gesehen hatten. Und ob das Gehirn ihres Mannes tatsächlich alles vergessen hatte, was vor seinem Verschwinden passiert war. Aber was hätte er davon, allen einen Gedächtnisverlust vorzuspielen? Und wieso hätte jemand wie er drei Monate lang auf der Straße leben sollen, wenn er nicht dazu gezwungen gewesen war.
Nein, Cora war überzeugt, dass der Verlust seiner Erinnerungen echt sein musste. Und zum ersten Mal, seit die Polizistin ihr mitgeteilt hatte, dass Markus noch lebte, erlaubte sie es sich, zu lächeln.
Vielleicht, so dachte sie, wird doch noch alles gut.
Der Gedanke an Anja Spangenberg erinnerte sie daran, dass sie der Ermittlerin versprochen hatte, sie zurückzurufen und ihr mitzuteilen, ob es sich bei dem in Regensburg aufgetauchten Mann tatsächlich um ihren Ehemann handelte. Cora warf einen Blick auf die Wanduhr und sah, dass sie geschlagene zwanzig Minuten vor dem Laptop gehockt und das Bild angestarrt haben musste. Es war ihr gar nicht so lang vorgekommen.
Sie nahm das Telefon und ließ es die Nummer des zuletzt eingegangenen Anrufs wählen.
»Spangenberg.«
»Er ist es!« Es waren nur drei kurze und einfache Worte, dennoch spürte Cora ihre enorme Tragweite und Bedeutung, als wögen sie Tonnen und würden wie Mühlsteine an ihr hängen und sie herunterziehen.
»Sind Sie sich auch wirklich hundertprozentig sicher?«, fragte die Polizistin nach, obwohl sie selbst bereits davon gesprochen hatte, dass sie davon überzeugt war, dass es sich tatsächlich um Coras Mann handelte.
»Ja, das bin ich. Es ist Markus, ohne jeden Zweifel.«
»Wie schön.« Cora konnte die Erleichterung und Freude der Ermittlerin aus diesen beiden Worten heraushören. »Es freut mich für Sie und natürlich auch für Ihren Mann, dass er nach all der Zeit doch noch unversehrt aufgetaucht ist.«