Traum-Zeit. Josie Hallbach

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Название Traum-Zeit
Автор произведения Josie Hallbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754183755



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Freundin, die grundsätzlich alles besser weiß.

      

       Gleichzeitig ist mir natürlich klar, dass Schwierigkeiten jede Menge Chancen bieten: Zum Beispiel die eigene Vergangenheit zu verarbeiten, unbequeme Entscheidungen zu treffen oder mehr über sich und seine Grenzen zu entdecken.

       Allerdings hätte ich auf einen Großteil dessen gut verzichten können. Ich habe sowieso den Verdacht, dass derart abgeklärte Lebensweisheiten tendenziell von Menschen stammen, die gerade in keiner akuten Krise stecken.

       Doch das eigentlich Verrückte an meiner Geschichte ist, dass ich das letzte Jahr fast unbeschadet überstanden habe.

       Aber am besten fange ich von vorne an. Soweit das eben geht...

      Kapitel 1:

      Der neue Teil meiner Vergangenheit begann eines sonntagnachts…

      Ich ging am Abend zu Bett, las noch ein paar Seiten in dem christlichen „Apokalypsen“-Roman, den mir meine Tante zu Weihnachten geschenkt hatte, betete, um für alle Eventualitäten - wie zum Beispiel eine unverhoffte Entrückung - gerüstet zu sein und schlief für meine Verhältnisse erstaunlich rasch ein.

      Als ich ruckartig erwachte, befand ich mich in einem anderen Raum und einer anderen Zeit.

      Na gut, genaugenommen ist das falsch, denn ich wachte nicht auf. In Wirklichkeit träumte ich. Ich träumte, ich läge in einem Himmelbett, das seinem Namen allerdings in keiner Weise gerecht wurde.

      Die Umgebung erinnerte stark an das Freilandmuseum meiner Kindheit. Meine Mutter hat mich jahrelang dort hingeschleppt, weil ihr eine Mitgliedschaft im Förderverein aufgeschwatzt worden war. Der Beitrag beinhaltete den freien Eintritt. Deshalb darf man mich getrost als Profi für vorsintflutliche Einrichtungsstile betrachten. Die Auswahl, Anordnung und Machart des Mobiliars inklusive der Wandgestaltung sprach mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Beginn des 20. Jahrhunderts.

      Was mir weiterhin auffiel, waren Kälte und Geruch. Der Raum besaß weder eine Heizung, noch roch er angenehm. Dies unterstützte meine Theorie. Beheizbare Schlafzimmer wurden früher als Luxus erachtet. Meine Haut und Nase haben sich aber an klimatisierte Wohnungen und Weichspüler mit Aprilfrische gewöhnt. Ich fror auf jeden Fall erbärmlich, während mein Nachthemd durchaus geeignet wirkte, Motten und anderes Ungeziefer abzuschrecken.

      Elektrisches Licht konnte ich nirgendwo entdecken. Dafür flackerten auf dem Nachttisch neben mir Kerzen.

      Ich lag also in einem museumsreifen Zimmer, träumte, fühlte mich aber gleichzeitig hellwach und nahm jedes Detail meiner Umgebung bis hin zum Geruch wahr. Dieses Phänomen ist mir neu, obwohl ich sonst mit reichlich Erfahrung aufwarten kann. Vor allem Albträume zählen zu meinem Spezialgebiet. Ich bin schon vor Räubern geflohen, von Gespenstern heimgesucht worden und unvorbereitet in Prüfungen gegangen.

      Nun betrat ich eine neue Dimension: Das interaktive Träumen.

      Mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen versuchte ich meine Situation zu analysieren. Dabei machte ich eine ganz wesentliche Entdeckung: Auf einem Stuhl, etwas versteckt in der Ecke des Raumes, lag ein Brautkleid. Ein Irrtum war trotz des Dämmerlichts und der ungewöhnlich dunklen Farbwahl nahezu ausgeschlossen, weil über der Lehne der dazu passende, blumenbekränzte Schleier hing. Außerdem drückte an meiner rechten Hand ein verdächtiger Goldring.

      Meine Faszination begann schlagartig, Richtung Unbehagen zu kippen. Da sich sonst niemand im Raum befand, bot sich nur ein logischer Schluss an: Ich musste die Braut sein. Was hieß, dass demnächst ein Mann ins Spiel kommen dürfte, zumindest im Rahmen meines persönlichen Vorstellungshorizontes.

      Mir fiel leider auf Anhieb kein männliches Wesen ein, welches ich gern geheiratet hätte. Nicht einmal Florian, obwohl er sich seit geraumer Zeit als mein Freund bezeichnet. Ich kenne ihn von der Bausparkasse. Meine beste Freundin und Kollegin Mona ist mit seinem Kumpel zusammen, deshalb gehen wir manchmal alle gemeinsam essen. Mona behauptete als Erste, er wäre mein Freund. Einfachheitshalber beließ ich es bei dieser Definition.

      Doch im Lauf der Monate begann mich einiges an ihm zu stören. Er trinkt zum Beispiel gern Alkohol und tut sich anschließend schwer, Grenzen zu akzeptieren. Unser letztes diesbezügliches „Missverständnis“ war in eine Beziehungskrise übergegangen. Teile meines beruflichen Umfelds reden mir seither kontinuierlich ins Gewissen.

      Aus dem Grund reagiere ich, was Männer anbelangt, zurzeit etwas übersensibel. Jetzt gleich Florian in meinen Traum hereinspazieren zu sehen, würde mich definitiv überfordern. Vor allem, weil mein Standardargument zum Thema Sex mit diesem Brautkleid und Ring mehr oder weniger hinfällig wirken dürfte.

      Genau in dem Moment öffnete sich die Tür und ein mir völlig unbekannter Mensch betrat den Raum. Gut an ihm fand ich, dass er in keiner Weise an Florian erinnerte. Als schlecht erschien mir, dass dieser jemand wahrscheinlich mein Bräutigam war, denn er trug einen gediegen wirkenden Anzug, schaute mich prüfend an und sagte: „Wir hätten uns besser im Sommer vermählt, Marie. Ende Oktober ist dieses Gemach merklich zu klamm.“ Seine Stimme klang voll, dunkel und unmissverständlich, trotz der althergebrachten Wortwahl.

      Meine Bedenken verwandelten sich im Rekord-Tempo zur handfesten Besorgnis: Ich heiße nicht Marie, sondern Ronja und besitze davon abgesehen keinerlei Interesse, die Nacht mit einem Fremden zu verbringen, nicht mal im Schlaf. Dies wäre folglich ein guter Zeitpunkt, um aufzuwachen. Doch mein Steuermechanismus versagte, wie üblich. Ich habe es bisher noch nie geschafft, einen Traum eigenmächtig zu beenden. Vermutlich musste ich so lange durchhalten, bis die Synapsen in meinem Gehirn das erlösende Signal gaben oder die REM-Schlafphase endete.

      Eine zusätzliche Herausforderung war, dass ich gerade weder sprechen, noch mich bewegen konnte. So etwas passiert in Träumen ja öfter: Man versucht wegzurennen und kommt nicht von der Stelle. Dadurch wurde ich zur hilflosen Zuschauerin verdammt. Mein Zimmermitbewohner begann sich nämlich ungeniert auszuziehen und nahm mir damit meine letzten, ohnehin irrationalen Hoffnungen. Erst kam der Sakko dran, dann das Hemd. Nachdem er beides sorgsam und gekonnt knitterfrei über die Stuhllehne der zweiten Sitzgelegenheit gehängt hatte, trennte er sich von seinem Unterhemd.

      Jetzt stand er bereits mit nacktem Oberkörper da und mir blieb nichts übrig, als ihn die ganze Zeit anzustarren, wie ein Kaninchen die Schlange. Mein Körper verweigerte mir den Gehorsam.

      Was man bei trübem Kerzenschein erkennen konnte, besaß mein mir unbekannter Bräutigam ungewöhnlich bleiche Haut. Von diesem Makel abgesehen, machte er aber einen robusten, keineswegs unsportlichen Eindruck. Für Florians schmächtige Statur mochte meine Wehrhaftigkeit zwar reichen, diesem testosterongesättigten Hünen gegenüber befand ich mich jedoch eindeutig im Nachteil.

      Obwohl ich mich nicht rühren konnte, schaffte ich es innerlich zu zittern.

      Als es ans Ausziehen der Hose ging, schlossen sich meine Augen endlich, wie auch immer das zugegangen sein mochte. Nun war ich schwerpunktmäßig auf mein Gehör angewiesen, was sich keineswegs beruhigend auf meinen Zustand auswirkte. Ich vernahm das Rascheln weiterer Kleidungsstücke, dann plätscherte Wasser. Das Geräusch kam aus der Nische neben dem Kleiderschrank. Dort befand sich, wie ich in meiner ersten Raumanalyse festgestellt hatte, eine altmodische Waschschüssel samt dem dazugehörigen Wasserkrug auf einer niederen Anrichte. Ich durfte somit annehmen, dass sich mein vermeintlicher Ehepartner gerade wusch. Immerhin schien er reinlich zu sein.

      Jetzt hörte ich ihn barfuß durchs Zimmer tappen.

      Ohne jegliche Vorwarnung zogen sich die Vorhänge des Betthimmels zu. Das unerwartete Geräusch ließ mich mit einem unterdrückten Aufschrei hochfahren, das Federbett wie ein Schutzschild an mich gepresst. Meine Nerven lagen inzwischen mehr oder weniger blank. Der unerwartete Adrenalinschub bewirkte zudem, dass sich meine Augen wieder öffneten und in der nächsten Sekunde vor Schreck weiteten, als sie eine mächtige Gestalt in weißem Gewand neben mir erblickten. Wie ein geisterhaftes Wesen aus einem unterbelichteten Schwarzweiß-Film.