Stille Nacht. Johann Widmer

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Название Stille Nacht
Автор произведения Johann Widmer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754908129



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gute Frau Schnalke den Jesus ersetzte.

      Wir hatten auch sehr interessante Gäste, an die ich mich noch gut erinnern kann. Handwerksburschen auf der Walz, Vaganten, einen Flüchtling, der nachts über den Rhein geschwommen war, eine Frau, die mit ihren zwei Kindern vom Ehemann aus dem Haus geprügelt worden war und dann eben die periodisch wiederkehrenden Hausierer, jeder mit seinem Gebresten.

      Holzbein, blind, schwerhörig, einarmig und der «Schoggi Bommer» in seinem Rollstuhl.

      Jesus war nie unser Gast, vielleicht, weil es bei uns kein Tischgebet gab, aber Vater mochte das nicht. Er machte sich nicht viel aus Religion. Die Kirche gehörte zwar ins Dorf, wie er immer sagte, für all jene, die es «nötig hätten». Wer sich aber ehrlich durchs Leben schlage, niemand was zuleide täte und denen helfe, die Hilfe brauchten, der brauche kein jüngstes Gericht und weder Himmel noch Hölle.

      Meine Mutter hatte ihren Katechismus brav auswendig gelernt, liess den Herrgott einen guten Mann sein, aber sie verfluchte seine Kirche und seine Pfaffen.

      Sie mochte ihre Gründe gehabt haben.

      Bei ihrer Heirat trat sie zu den Reformierten über, um, wie sie sagte, ihre Kinder «vor dem Bösen zu bewahren.»

      Eine besondere Abneigung hegte sie auch gegen die vielen «Stündeler» in der Verwandtschaft, die sie verächtlich «Heilandshausierer» nannte.

      Die Kurzfassung ihrer Religion war: «Wenn du deine Sache recht machst, hast du nichts und niemanden zu fürchten,»

      Sie plädierte für «Angewandtes Christentum» und der Jesusteller war der Ausdruck ihres Glaubens.

      Als ich sie mal wegen des Tellers zur Rede stellte und wissen wollte, ob sie dafür eine göttliche Belohnung erwarte, meinte sie nur, wenn man aus Eigennutz handle, wäre das nur ein billiger Kuhhandel.

      Nein, sie war tatsächlich daran interessiert den armen Teufeln eine Suppe zu spendieren, weil sie ihr leidtaten.

      Wenn ich denke, dass bei uns kein Überfluss herrschte, es war eher so, dass der «Schmalhans unser Küchenmeister war»

      Damit wir über die Runden kamen, verdingte sie sich als Wasch- und Putzfrau.

      Für mich, als Kind, war alles in Ordnung, so wie es war. Ich wusste nichts anderes, aber ich muss gestehen, dass ich im Geheimen immer auf den Herrn Jesus gewartet hatte oder vielleicht auf einen verkleideten Prinzen, der uns zum Dank für die Gerstensuppe mit Wohltaten überhäufte.

      Neue wasserdichte Winterschuhe, ein neues Fahrrad für meinen Vater, schöne Bücher … ja, ich hätte schon Wünsche gehabt.

      Dann kam aus heiterem Himmel die Nachricht herein, dass der Onkel Alois aus Amerika zurückgekehrt sei.

      Ich hatte gar nichts vom reichen Onkel in Amerika gewusst, man hatte diesen Namen bisher nie erwähnt, aber ich fand, dass mein Vater endlich ein Motorrad verdient hätte und dass Mutters Traum vom Staubsauger in Erfüllung gehen könnte und meine Traum-Winterschuhe waren nun schon innen mit Pelz ausgefüttert …

      Alois war ein grosser Bruder meiner Mutter und sie war zugleich noch sein Patenkind gewesen, aber sie konnte sich nur schwach an ihn erinnern.

      Sie mochte etwa acht Jahre alt gewesen sein als er nach Amerika ausgewandert war.

      Sie wusste nur noch, dass er bei der Abreise ihr Sparschwein geklaut hatte …

      ebenso das monatliche Haushaltungsgelt der Oma … sowie die Geldtasche des Polizisten, der ihn zum Zug nach Hamburg gebracht hatte.

      Die Überfahrt hatte die Gemeinde bezahlt. Ein beliebtes Mittel damals, um unbeliebte Mitbürger abzuschieben, verbunden mit der guten Absicht, ihnen eine Chance zu geben, sich im fernen Amerika zu bessern.

      Vor seiner Abreise hatte Mutter ihren Paten fast nie gesehen, weil er all die Jahre im Bezirksgefängnis Tüten geklebt hatte, als Lohn für zwei jämmerlich missglückte Raubüberfälle.

      Auch Dummheit ist strafbar.

      Nun war er also wieder zurückgekehrt als alter Mann, und wie man gerüchtweise vernahm, als stinkreicher Amerikaner mit Taschen voller Goldmünzen.

      Vor seinem Tod wollte er alle seine Verwandten in der Schweiz und im Schwabenland besuchen und sie um Verzeihung bitten.

      Hiess es.

      Mutter meinte dazu trocken: «Der Alois geht der lateinischen Zehrung nach»

      Bei uns war er für die Weihnachtszeit angekündigt.

      Zum Weihnachtsessen am 25. Dezember.

      Ich sah ihn vor meinen geistigen Augen am Tisch sitzen am «Jesusplatz» natürlich. Ein grossgewachsener Amerikaner, so wie die Soldaten der Besatzungsmacht in Deutschland, aber er trug ein buntes Hemd und in seinen schwarzen Haaren sah man so etwas wie einen Heiligenschein…

      … meine überbordende Fantasie schürte aber auch noch den Neid meiner Klassenkameraden und ich merkte bald, dass sich alle von mir abwandten…

      …ach der mit seinem reichen Onkel …

      Er kam mit dem Zug am Nachmittag des 24. Dezember in Effretikon an. Ganz vorne am Zug, bei der ersten Klasse stieg nur eine dicke Frau mit Pudel aus dem Wagen.

      Kein Onkel Alois aus Amerika.

      Aber meine Mutter hatte ihn schon gesichtet, ganz hinten bei der dritten Klasse stand ein kleiner, gekrümmter alter Mann in grünem Lodenmantel und winkte ungeduldig mit seinem Gehstock.

      Eine armselige verhutzelte Gestalt mit einem kleinen

      Rattan Koffer neben sich, stand etwas verloren auf dem Perron und Mutter meinte gleich, das müsse «Götti» Alois sein.

      Meine Enttäuschung war abgrundtief und ich hoffte fest, dass dieser Wurzelzwerg wieder in den Zug einsteige, bevor die Türen geschlossen wurden.

      Aber er blieb.

      Mein Onkel Alois aus Amerika.

      Aus seinem verrunzeltem Gesicht blickten zwei listige Äuglein und sein kleiner Mund war immer in Bewegung. Heute wäre es ein Kaugummi, Onkel Alois kaute Tabak mit seinen wenigen schwarzgelben Zahnstummeln, die ihm noch geblieben waren.

      Er verbreitete einen säuerlichen Geruch, das musste der Tabak sein der Rest war der Gestank von altem ungepflegtem Mann.

      Mir war gleich klar, dass der gute Onkel Alois kein Nabob war, der kam aus keiner Villa in Miami, der war kein Besitzer eines Amischlittens, der war sein Leben lang Fussgänger gewesen.

      Der kam per Schub nach Hause.

      Wenn er atmete, kam immer ein Pfeifen und Rasseln aus seiner Kehle und wenn er redete, war er kaum zu verstehen.

      Da war mal sein «Schigg» (Pfriem) im Mund, das Gerassel aus seiner Kehle und dann war seine Sprache so komisch, dass ich vorerst glaubte, das wäre nun Amerikanisch.

      Es war ein Gemisch von Deutsch, Amerikanisch und Entlebuchisch ohne R und W, diese kamen als Quaktöne und Gurgellaute aus seinem Mund.

      Ich konnte ihn rasch gut nachahmen und hatte mit meinem Amerikanisch grossen Lacherfolg in der Schule.

      Da ihm das Sprechen offensichtlich Mühe bereitete, schwieg er und ich erfuhr nur ganz wenig von seinem Leben.

      Wir erfuhren lediglich von ihm, dass er in die Schweiz zurückgekehrt war zum Sterben. Er wollte noch einmal seine Geschwister sehen, die er dort drüben vermisst hätte. Das Heimweh habe ihn immer geplagt.

      Beim Weihnachtsmal sass der Onkel Alois natürlich am Ehrenplatz des «Herrn Jesu».

      Es war irgendwie eine Zumutung für unsere Nasen. Diese Stinkmorchel.

      Sogar der Braten schien nach Alois zu duften, der Knoblauch, die Zwiebel und alle Gewürze kapitulierten.

      Aber trotzdem faszinierte mich dieser seltsame Gast.

      Sein lederbraunes Gesicht sah aus wie eine zerknitterte Landkarte.