Stille Nacht. Johann Widmer

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Название Stille Nacht
Автор произведения Johann Widmer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754908129



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im allgemeinen Zynismus. Waffenruhe tönt doch immerhin besser als Kampf für den Frieden, Heiliger Krieg, Krieg gegen den Terrorismus, Kreuzzug, Befreiungskrieg oder wie wir Mord und Totschlag an Unschuldigen zu entschuldigen pflegen.

      Man spricht von Frieden und Freiheit, denkt aber nur an die reichen Bodenschätze dieses Landes: Öl, Erdgas, Gold, Diamanten, Kupfer, Kobalt und Bauxit.

      Und an allem klebt Blut.

      Ein Kollege übte mit den Schülern ein Krippenspiel ein.

      Jeder Schüler möchte gern den Josef spielen und jedes Mädchen träumte von der Rolle der Madonna.

      Eine blonde Barbiepuppe meiner Tochter durfte die eigentliche Hauptrolle übernehmen, ein blauer Plastikeimer, mit Stroh beklebt, diente als Krippe.

      Und nicht zuletzt waren da die andern Hauptdarsteller «Maria und Josef».

      Nomen est omen.

      Josef aus der Sechsten spielte die Rolle seines Namenspatrons und Maria Ndola, Schülerin der fünften Klasse, durfte die Puppe wiegen und bei der Flucht auf dem Rücken tragen.

      Herodes, in seiner Uniform glich sehr stark dem Herrscher des Nachbarlandes…

      Mit dem Schülerchor des Gymnasiums sollte ich die musikalische Umrahmung des Abends bestreiten. Wir würden ein paar frisch eingeübte Spirituals singen.

      Mit den Bässen aus der Maturaklasse verstärkt, bekamen die Gesänge die nötige Wucht und Feierlichkeit. Meine Sänger schienen sich aufs Fest zu freuen. Zu den Proben kamen sie immer vollzählig und pünktlich, was mir wie ein kleines Wunder erschien.

      Ich war auch erstaunt, ja sogar erschüttert, mit welcher Hingabe die Schüler in den Theaterproben spielten. Nein, das war kein Spiel für sie, das war Leben, das war Wirklichkeit, das waren keine Rollen, die sie rezitierten: sie verkörperten die zu spielenden Personen, wurden eins mit ihnen und als Zuschauer wurde man von dieser Echtheit sofort gepackt und mitgerissen.

      Ich freute mich auf die Aufführung. Es versprach ein denkwürdiger Abend zu werden.

      Auch meine Choristen übertrafen sich selbst.

      Diese Vorfreude schien ansteckend zu sein. Plötzlich war überall Weihnachtsstimmung.

      Meine Kinder bastelten mit Eifer Strohsterne aus Elefantengras und im Wohnzimmer wurde mit Lehmfiguren, Zweigen und Ästen die Szene von Bethlehem nachgestellt.

      Am 24. war schulfrei, damit wir in der Kirche noch die letzten Vorbereitungen treffen konnten für das abendliche Ereignis.

      Den ganzen Morgen über rollten schwere LKWs vom Hafen ins Flüchtlingslager hinüber. Waffen aller Art, diesmal als Weihnachtsgeschenke irgendeiner barmherzigen Gesellschaft deklariert.

      Feuerpause.

      Beim Mittagessen gab es natürlich nur ein einziges Gesprächsthema: unser Krippenspiel.

      In den Mittagsnachrichten wurde nochmals erwähnt, dass im Nachbarland ab 18 Uhr ein siebentägiger Waffenstillstand in Kraft trete, der auch für unser Gebiet Gültigkeit habe, dann erschallte feierliche Kirchenmusik, dem Tag entsprechend.

      Ich machte eine ausgedehnte Siesta, denn der Abend würde lange werden.

      Etwa um fünf Uhr nachmittags sass ich in meinem Arbeitszimmer, als ich plötzlich Flugzeuggedröhne und anschliessendes schweres Donnern hörte.

      Der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben. Ich eilte ans Fenster und sah, wie im Hafen unten mächtige, schwarze Rauchwolken zum Himmel aufstiegen.

      Das durfte doch nicht wahr sein!

      Eine Stunde vor Beginn des Waffenstillstandes wurde unser Hafen bombardiert!

      Einen Augenblick später hörte ich zwei oder drei weitere dumpfe, starke Explosionen, diesmal aber viel näher.

      Maschinengewehrfeuer.

      Das musste aus der Gegend der Flüchtlingslager kommen.

      Dann hörte man, wie sich die Flugzeuge entfernten und nun breitete sich über der Gegend eine tiefe Stille aus,

      Totenstille.

      Ich schaltete sofort das Radio ein.

      Militärmusik.

      Um halb sechs wurde eine Rede des Staatspräsidenten angekündigt.

      Er tobte sich aus. Verbrecherischer Akt, der schwere Folgen haben werde und so weiter.

      Man werde Vergeltung üben in noch nie dagewesener Form.

      Ich stellte am Radio auf einen andern Sender um.

      Das Nachbarland war schon mit billigen und faden Entschuldigungen da.

      Das mit dem Hafen sei ein Versehen gewesen. Es hätte einem illegalen Waffentransport gegolten.

      Die zwei verantwortlichen Piloten würden zur Rechenschaft gezogen.

      Der Angriff auf den Unterschlupf der Rebellen hingegen war ihre Sache, ein rein militärisches Ziel, eine gerechtfertigte Aktion.

      «Der geheime Unterschlupf» war ein offizielles Flüchtlingslager der UNHCR…

      Aber in der Weltpolitik zählt ein Menschenleben nichts.

      Die verkohlten Leichen im Flüchtlingslager sind sogenannte Kollateralschäden.

      Die Wogen glätteten sich rasch, schliesslich war ja Weihnachten, das grosse Fest der Liebe, des Friedens und der Bescherungen.

      Um sechs Uhr stiegen im Hafengebiet immer noch schwarze Rauchwolken auf. Die Palmölzisternen brannten lichterloh. Der stinkende Rauch zog wie Nebelschwaden durch die Unterstadt.

      Unser Boy meldete uns, dass es im Flüchtlingslager unzählige Tote und Verletzte gegeben habe. Viele mit schweren Verbrennungen.

      Napalm.

      Mit sehr eigenartigen Gefühlen machten wir uns für den Kirchgang bereit.

      Irgendwie war jegliche Weihnachtsstimmung verflogen, es war uns allen mehr ums Heulen als ums Feiern.

      Als wir vors Haus traten, kam eine Gruppe Jugendlicher auf uns zu. Es waren Schüler aus meiner Klasse. Sie waren gänzlich verstört und ich brauchte lange, bis ich begriffen hatte, dass unsere Maria, die Maria Ndola beim Bombenangriff umgekommen war.

      Stille Nacht

      Weihnachten 1998

      Gedankenverloren zerbröselte er das Brot in seinem Teller, schob die Krümel mit dem Finger zu kleinen Häufchen, zerstreute sie wieder, schob sie wieder zusammen, während sein Blick unstet an der gegenüberliegenden Wand den Rissen im Putz folgte, ohne auch nur etwas von dem was er sah, wirklich wahrzunehmen.

      Manchmal gab es so etwas wie ein Erwachen, dann seufzte er, griff zur Bierflasche und nahm einen grossen Schluck.

      Widerliches Gesöff.

      Er blickte um sich, als ob er aus einem Traum erwachen würde, aber was ihn da umgab, diese armselige, vergammelte Behausung, diese kalte und leere Höhle, den Schimmel an den Wänden …braune Wasserflecken an der Decke…

      … das wollte er nicht sehen.

      Heute jedenfalls nicht.

      Er wollte keine Fragen, keine Antworten, nichts. Er wollte abschalten, vergessen, denn jede Erinnerung, die in ihm aufstieg, war sehr schmerzhaft.

      Manchmal packte ihn eine heilige Wut, in der er alles hätte kurz und klein schlagen können, aber er brachte keinerlei Kraft mehr auf, um seinem wilden Zorn Ausdruck zu geben. Was hätte es auch gebracht?

      Dann überfiel ihn plötzlich eine tiefe Trauer, Selbstmitleid und schwarze Gedanken. Das Spiel war zu Ende und er hatte verspielt, jämmerlich versagt.

      Man sollte Schluss machen,