Stille Nacht. Johann Widmer

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Название Stille Nacht
Автор произведения Johann Widmer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754908129



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umgeschmissen worden, ein Blitz hatte ihn, sozusagen aus heiterem Himmel getroffen, mitten in seine Ahnungslosigkeit hinein.

      Man sollte vergessen können, alles vergessen, auch dass heute Weihnachtsabend war.

      Zum ersten Mal in seinem Leben war er an diesem Abend allein und einsam.

      Es war aber nicht nur das Alleinsein, das ihn schmerzte, er war ausgestossen worden.

      Ob seine Familie, die nicht mehr die seinige war, wohl in der Wohnstube versammelt war, wie jedes Jahr? Lichterbaum, Geschenke, das festliche Weihnachtsmahl angerichtet.

      Ohne ihn?

      Er sah, wie seine beiden Söhne am Klavier musizierten, er sah Isabella...nein, das wollte er nicht sehen, das war vorbei, für immer.

      Vielleicht wohnte Gerd, Isabellas Freund und Geliebter noch nicht bei ihnen, vielleicht...

      Nein, er wusste ganz genau, dass der andere nun seine Stelle eingenommen hatte, endgültig.

      Man musste vergessen, Zeit heile Wunden, sagt man.

      Aber dass sich seine Söhne ohne zu Zögern für ihre Mutter entschieden hatten, das würgte ihn.

      In seiner grossen Enttäuschung wollte er nun auch von seinem Besuchsrecht keinen Gebrauch machen.

      Trotz und beleidigter Stolz bäumten sich in ihm auf.

      Sie hatten sich entschieden, basta.

      Sie waren gestorben, hatten nie existiert.

      Vielleicht gelang es ihm, sich wieder aufzufangen, vielleicht auch nicht, was machte dies schon aus. Eine neue Familie zu gründen, lag finanziell nicht mehr drin, denn er musste weiterhin für das Wohlergehen seiner Familie, die nicht mehr die seinige war, aufkommen.

      Es reizte ihn nicht mehr, mit irgendeinem anderen Menschen in Kontakt zu treten.

      Wozu auch?

      Er war weder je ein Kneipenhocker noch ein Vereinsmeier gewesen, jene Kreise widerten ihn an und zudem konnte er es sich als höherer Beamter gar nicht erlauben sich mit dem kleinen Volk gemein zu machen.

      Nun, sein Höhenflug würde ja demnächst einen argen Knick bekommen, denn man munkelte schon seit Monaten von Stellenabbau und Rationalisierung. Da würde seine Arbeitsstelle bestimmt davon betroffen. Aber das war ihm im Augenblick völlig egal. Sollten sie. Man würde ihm ein anderes Arbeitsfeld zuweisen. Oder auch nicht.

      Seine Alkoholprobleme hatten sich mittlerweile im ganzen Betrieb herumgesprochen.

      Ein Arbeitsloser mehr oder weniger, darauf kam es nun auch nicht mehr an.

      Und wenn er nun den Bettel einfach so hinschmiss?

      Einfach so, ist gar nicht so einfach.

      Und dann mit dem Ersparten verschwinden. Nach Brasilien vielleicht, oder nach Tahiti? Und wenn das Geld alle war, dann konnte man immer noch zurückkommen und vom Sozialamt leben.

      Er war kein Robinson, er hatte schon immer Abenteuer vermieden, wenn möglich…

      Wenn er sich in der Wohnung umschaute, so schien es ihm, er sei bereits auf die Stufe des hilflosen Sozialhilfeempfängers herabgesunken. Aber so in der Eile hatte er nichts Besseres finden können als diese etwas heruntergekommene Einzimmerwohnung. Einen jahrelangen Hotelaufenthalt konnte er sich nicht leisten. Ausserdem kannte niemand diesen seinen jetzigen Aufenthaltsort.

      War auch gut so.

      Vor allem seine Familie nicht. „Seine“ Familie! Er würde sich nicht so rasch daran gewöhnen, dass er keine Familie mehr hatte.

      Komisch.

      Noch vor kurzer Zeit schien es ihm, als ob die Welt völlig in Ordnung sei und dann kam plötzlich diese abrupte Wende, die alles umgeschmissen hatte.

      Gut, Isabella hatte ihm kein Theater vorgespielt, hätte sie auch nicht gekonnt, es wäre zum billigen Schmierenstück herabgesunken, aber so frei und offen, so direkt ihm ins Gesicht zu sagen, dass die Zeit der Gemeinsamkeit vorbei sei, dass da ein anderer...

      ..und ausgerechnet Gerd, sein ehemaliger Studienkollege, den er nie hatte riechen können

      ...und jetzt, ja, jetzt war Heiligabend...

      Seine Finger kneteten Brotkügelchen, im Treppenhaus stritten sich zwei Kinder, der lärmende Verkehr auf der Strasse beruhigte sich allmählich, die Brotkügelchen wurden an den Tellerrand gepresst, zu einer Kugel geformt und dann wieder zerbröselt.

      Er musste unbedingt etwas unternehmen, um aus seiner Depression herauszukommen.

      Sich besaufen gehen?

      War nicht besonders verlockend, wenn man schon im Säuferelend steckte.

      Zur Weihnachtsmesse?

      Er musste unwillkürlich lachen. Ausgerechnet er! Der engagierte 68-er, der damals gegen Kirche, Staat und Familie ins Feld gezogen war. Nein, das war auch nichts, die konnten es nun wohl auch ohne ihn machen.

      Ins Kino?

      Würde auch nicht viel bringen, denn es war ihm unmöglich, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, das nichts mit seiner gegenwärtigen Lage zu tun hatte.

      Aber er konnte und wollte nicht den ganzen Abend heulend seinen trüben Gedanken nachhängen, er durfte nicht länger in seinen vier Wänden versauern, sonst würde er noch durchdrehen.

      Er nahm abwechselnd einen Schluck Bier und dann einen tüchtigen Schluck Grappa.

      Das wärmte die Seele.

      Doch was kann man an so einem verschissenen Abend überhaupt unternehmen? Kinos, Kneipen und Theater sind sicher geschlossen.

      Es ist zum Verrücktwerden.

      Er ging ans Fenster.

      Am oberen Ende der Strasse flimmerte der riesige Weihnachtsbaum vor dem Kaufhaus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Aus vielen Fenstern der gegenüberliegenden Häusern drang rötlichgelber Kerzenschein. Jetzt wurde gegessen, gesungen, musiziert und beschert.

      Jedenfalls dort, wo Kinder waren.

      Kinder.

      Dass die beiden Jungen ihn als Vater abgelehnt hatten, dass sie zu ihrer Mutter hielten, gegen ihn, das hatte ihn am schwersten getroffen.

      Am unmittelbarsten.

      Was war denn geschehen? Warum hatte er nicht gemerkt, dass man sich entfremdet hatte?

      Gut, er war vielleicht etwas streng mit ihnen gewesen, oder eben nicht? Hatte er nicht alles getan, damit sie eine glückliche Kindheit erleben durften?

      Er hatte sie nie geschlagen, alle Probleme wurden mit Vernunft und Einsicht gelöst.

      Gemeinsame Wanderungen an den Sonntagen, gemeinsamer Skiurlaub im Winter, sommers en famille am Meer oder in den Bergen, viel wurde auch für die Bildung getan, er kontrollierte die Hausaufgaben, sie bekamen Musikunterricht, Nachhilfestunden in Latein...ach was!

      Manche Dinge lassen sich nun mal nicht erklären.

      Mangelnde Vaterliebe?

      Er hatte sie tatsächlich geliebt, seine beiden Söhne, keine Affenliebe, nein, er hatte auch versucht, zu ihnen ein kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen als sie grösser geworden waren...aber was soll das Ganze?

      Es war unerklärlich.

      Er konnte sich nicht vorstellen, wie es zu diesem plötzlichen Bruch gekommen war, es gab da kein Ereignis, das die Haltung seiner Söhne erklärbar gemacht hätte.

      Dass ihn seine Arbeit zeitweise aufgefressen hatte, da konnte er nichts dagegen tun, er brauchte das Geld der vielen Überstunden für die immer teurer werdenden Wünsche der Familie.

      Die Brotkrümel wurden zu länglichen Würstchen geformt, draussen wehte der Wind, Regen klatschte an die Scheiben. Regen.

      Kein weihnächtliches Schneegestöber, hier fällt Dreck