DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

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Название DAS BUCH ANDRAS I
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия DAS BUCH ANDRAS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738007527



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Geschehnisse, sodass für mich eine unmittelbare Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und mir fehlte. Es fühlte sich aus diesem Grund eher so an, als wäre all dies nicht mir, sondern einer anderen Person widerfahren. Statt Scham empfand ich daher eher ein starkes Gefühl der Depersonalisation.

      »Während Ihres viertägigen Aufenthalts im Beruhigungsraum haben wir durch die richtige Dosierung des Beruhigungsmittels dafür gesorgt, dass Sie dreimal pro Tag zu sich kamen«, fuhr der Arzt fort. »Einerseits dienten diese Wachphasen dazu, Sie zu füttern und zur Toilette zu bringen, andererseits wollten wir natürlich überprüfen, ob sich Ihr Zustand verbessert hatte. Leider waren Sie aber bis heute kein einziges Mal ansprechbar. Ihr psychischer Zustand schien sich nach Ihrer Einlieferung nicht zum Besseren zu verändern. Wir waren daher gezwungen – zu Ihrem eigenen Schutz und dem unseres Personals –, Sie immer wieder in einen künstlichen Schlaf zu versetzen, und hofften, dass sich Ihr Zustand beim nächsten Erwachen wesentlich verbessert hatte. Dies war heute endlich der Fall. Nachdem Sie erwacht waren, stellte das Überwachungspersonal, das Sie mithilfe der Kamera im Beruhigungsraum ständig unter Beobachtung hielt, fest, dass Sie zum ersten Mal bewusst auf Ihre Umgebung reagierten. Ich wurde daher umgehend informiert und schickte Gabriel zu Ihnen, um Sie zu mir bringen zu lassen. Der Rest ist Ihnen bekannt.«

      »Ja.«

      »Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie noch irgendwelche Beschwerden?«

      Für den Moment drängte ich meine eigenen Fragen in den Hintergrund meines Bewusstseins, wo sie sich wahrscheinlich weiterhin fröhlich und ungebremst vermehrten, während ich nicht auf sie achtete, und konzentrierte mich stattdessen zunächst auf das, was der Arzt von mir wissen wollte.

      »Ich hatte nach dem Aufwachen einen ausgetrockneten Mund und leichte Kopfschmerzen«, informierte ich ihn, wie ich es bereits Gabriel gegenüber getan hatte. »Gabriel brachte mir freundlicherweise dieses Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Beides hat geholfen, meine Beschwerden zu lindern. Die Kopfschmerzen sind inzwischen kaum noch zu spüren. Aber …«

      »Aber …«, bohrte Dr. Jantzen sofort nach, nachdem ich verstummt war. Wahrscheinlich gehörte es zu seinem Beruf, beim kleinsten Zögern sofort unnachgiebig nachzuhaken und alles ans Licht des Tages zu zerren, was seine Patienten ansonsten nur widerstrebend von sich gaben.

      »Ich … kann mich an … an nichts … äh, erinnern«, sprach ich mein größtes Problem schließlich stotternd aus und sah Dr. Jantzen hilflos an, weil mir in diesem Augenblick die richtigen Worte fehlten, um das ganze Ausmaß meines inneren Zustands angemessen zu beschreiben.

      Doch anstatt mir mit Worten eine Art akustischer Hilfestellung zu geben, wartete er einfach schweigend ab, was ich noch aus eigenem Antrieb von mir geben würde. Unter Umständen wollte er meine Aussagen nicht beeinflussen oder unbewusst in eine falsche Richtung lenken.

      Ich schluckte, versuchte, mir in Gedanken die passenden Worte zurechtzulegen, und fuhr dann, immer noch stockend, fort: »Ich meine, … alles, was mich selbst betrifft, … meine Vergangenheit, mein Leben, ja, sogar mein Name …, das ist alles weg. Wie ausgelöscht, gewissermaßen wegradiert.« Wie zur Verdeutlichung meiner Erklärungen – irgendwie hatte ich wohl das Gefühl, es bedurfte einer solchen, da mir meine eigenen Worte absolut unzulänglich erschienen, um das Ausmaß der Leere in meinem Verstand auch nur annähernd anschaulich zu machen – klopfte ich mir mit den Handflächen mehrmals leicht von beiden Seiten gegen die Schläfen.

      Dr. Jantzen nickte verständnisvoll, als könnte er nachempfinden, wie mir im Augenblick zumute war, was ich jedoch stark bezweifelte, und vollführte mit der linken Hand eine besänftigende Geste. »Beruhigen Sie sich bitte, Frau Dorn. Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich im Moment fühlen, glauben Sie mir. Aber zunächst möchte ich Ihnen einige Fragen stellen, um das genaue Ausmaß Ihres Gedächtnisverlustes festzustellen. Sind Sie damit einverstanden?«

      Ich nickte knapp. Im Grunde war ich mit allem einverstanden, wenn es mir dabei half, den Verlust meiner Erinnerungen wieder rückgängig zu machen.

      »Gut. Dann lassen Sie uns anfangen.« Dr. Jantzen zog ein unbeschriebenes Blatt Papier aus der Akte und machte den Kugelschreiber schreibbereit, den er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Umfasst Ihre Erinnerungslücke ausnahmslos Aspekte Ihrer persönlichen Lebensgeschichte?«

      Ich nickte, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. »Soweit ich das feststellen konnte, ist es so.«

      Der Arzt schrieb ein paar selbst aus der Ferne krakelig erscheinende Worte auf das Blatt und stellte währenddessen schon die nächste Frage: »Sie können allgemeine Informationen, die Sie im Verlauf Ihres bisherigen Lebens gesammelt haben, also bei Bedarf problemlos abrufen und nutzen?«

      »Ja. Genauso ist es! Ich habe es selbst schon überprüft. Fremdsprachen, mathematische Berechnungen, geschichtliche Personen und Ereignisse, an vieles aus diesen und anderen Bereichen kann ich mich problemlos erinnern. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, woher ich bestimmte Kenntnisse habe. Ich kann also nicht sagen, was ich beispielsweise in der Schule gelernt habe oder auf andere Weise – aus Büchern oder dem Fernsehen – aufgeschnappt habe.«

      Die Spitze der Kugelschreibermine verursachte ein kaum hörbares, schabendes Geräusch, als sie rasch über die Oberfläche des Papiers huschte und ihre wohl nur für Dr. Jantzen lesbaren Schriftzeichen hinterließ.

      »Umfasst die Lücke in Ihren Erinnerungen, soweit Sie das zu diesem Zeitpunkt überhaupt beurteilen können, sämtliche autobiografischen Informationen Ihres ganzen bisherigen Lebens, oder beschränkt sie sich nur auf einen bestimmten, eingrenzbaren Zeitraum?«

      »Ich denke, dass …« Ich stockte, überlegte kurz, wie ich es formulieren sollte, und setzte dann noch einmal neu an. »Nach meinem Gefühl ist … alles weg.«

      »Wie steht es mit Ihrem Kurzzeitgedächtnis? Können Sie sich zum Beispiel lückenlos an alle Ereignisse seit Ihrem Erwachen erinnern?«

      »Ja, sicher«, bestätigte ich, insgeheim froh, dass wir uns wieder auf vertrauterem und ungefährlicherem Terrain bewegten. »Damit habe ich überhaupt keine Probleme.«

      »Können Sie mir dann sagen, wie ich heiße?«

      Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Sie sind Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Außerdem sind Sie der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub«, wiederholte ich nahezu wortwörtlich seine eigenen einleitenden Sätze, mit denen er sich vorgestellt hatte. Es handelte sich zwar nur um einen kleinen Test, mit dem der Arzt mein Kurzzeitgedächtnis prüfen wollte, doch ich fühlte mich, als hätte ich soeben eine wichtige Prüfung erfolgreich gemeistert und konnte mir daher auch ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

      Dr. Jantzen erwiderte mein Lächeln sogar für einen kurzen Moment und nickte anerkennend. »Ausgezeichnet, Frau Dorn. Ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht nur tadellos, Sie haben außerdem auch ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen.« Erneut huschte der Kugelschreiber in seiner Hand über das Papier und fügte dem bisher Niedergeschriebenen weitere Einzelheiten hinzu, die am Ende, wenn unterm Strich alles zusammengezählt wurde, zu einer hoffentlich nicht zu niederschmetternden Diagnose über meinen Zustand führen würden.

      »Aber an die Zeit vor Ihrem heutigen Erwachen können Sie sich im Grunde überhaupt nicht erinnern?«

      Ich dachte diesmal etwas länger nach, bevor ich antwortete. Noch einmal näherte ich mich mit meinen gedanklichen Fühlern dem Flecken umfassender Leere in meinem Verstand, fand dort jedoch weder einen Widerhall auf die Frage des Arztes noch sonst einen Erinnerungsfetzen. Wenn ich bewusst an mein Leben vor dem heutigen Tag dachte und versuchte, mir Bilder oder Ereignisse davon ins Gedächtnis zu rufen, erntete ich lediglich anhaltendes Schweigen und undurchdringliche Finsternis. Also zog ich meine blind umhertastenden Gedankenfühler rasch wieder zurück, als ich erneut den leichten Sog zu spüren glaubte, der mein Bewusstsein mit sich reißen wollte, und schüttelte den Kopf, einerseits aus Resignation, andererseits als Antwort auf die Frage des Doktors. »Ich kann nichts finden! Absolut gar nichts. Es ist fast so, als … als wäre ein bestimmter, abgegrenzter