DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

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Название DAS BUCH ANDRAS I
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия DAS BUCH ANDRAS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738007527



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die Ereignisse begreifbar macht.

      Dein Gesicht dreht sich nur widerwillig in die Richtung, in die das scharfkantige, schimmernde Ding gelenkt wurde. Dein Bewusstsein blickt in einen Spiegel, der deine eigene Gestalt nur verzerrt wiedergibt. Eine schreckliche Wunde klafft in der Seite des Körpers, und der kostbare Lebenssaft pulsiert rot und reichhaltig aus der Öffnung, obwohl dein Verstand keinerlei Schmerz aufgrund der schwerwiegenden Verletzung fühlen kann.

      Der Schrei aus dem weit aufgerissenen Mund inmitten des schmerzhaft verzerrten Spiegelgesichts geht in den schrillen Schreien und aufgeregten Rufen anderer unter.

      Der kreiselnde Wirbel erstarrt zu schwarzem Eis. Ein ohrenbetäubendes Brüllen löscht jeden anderen Laut aus und lässt die Trommelfelle deines von den Ereignissen geschockten Bewusstseins vibrieren. Dein Verstand spürt den Schmerz und schreit ihn ebenfalls hinaus.

      Ein glühend heißer Windstoß fährt von oben herab und presst deinen in Schweiß gebadeten Körper gegen den Untergrund. Er bringt den überwältigenden Gestank nach Schwefel, Moder, Fäulnis und Pestilenz mit sich, eine widerwärtige Mixtur, die deinen Würgereflex reizt.

      Dann verstummt das unmenschliche Gebrüll gnädigerweise. Gleichzeitig löst sich der erstarrte Wirbel in der Luft auf und verschwindet spurlos.

      Erneut dreht dein halb betäubtes Bewusstsein den Kopf und blickt in den Spiegel. Du hebst die Hand, um dein Ebenbild zu berühren, doch dieses entfernt sich plötzlich rasch.

      Enttäuschung macht sich in dir breit, als deinem Bewusstsein das Spiegelbild genommen wird. Du willst einen Namen, möglicherweise deinen eigenen

      (ANDRAS)

      rufen. Doch ehe du dazu in der Lage bist und dein Verstand neue Informationen erhält, die dich unter Umständen in die Lage versetzen, die Ereignisse zu erfassen, versinkst du wieder in der Finsternis, aus der du erst kurz zuvor emporgestiegen bist.

      Die aufgeregten Rufe zahlreicher Menschen und der alles übertünchende Gestank nach Blut begleiten dein Bewusstsein, als es wieder erlischt.

      Dann ersterben jäh alle Geräusche und Gerüche, und die Dunkelheit kehrt schlagartig zurück, als habe jemand alle Aus-Schalter auf einmal betätigt.

      Ganz am Ende schließen sich deine Augenlider, als würde sich der Deckel eines Sarges endgültig herabsenken.

      TAG EINS

      Donnerstag, 18. Juni

      I. Das Erwachen im Sanatorium

      Kapitel 1

      Mein Erwachen war beileibe keine leichte Angelegenheit, sondern im Gegenteil mühsam und langwierig, denn ich musste mich an die Oberfläche meines Verstandes kämpfen wie ein Taucher aus den dunklen, bodenlos erscheinenden Tiefen des Ozeans. Gleichzeitig spürte ich, wie bleischwere Gewichte an meinem Verstand zerrten, um ihn sofort wieder nach unten in die Finsternis zu ziehen, sollte ich in meinem Bemühen, das Bewusstsein wiederzuerlangen, auch nur einen einzigen Augenblick nachlassen.

      Währenddessen wirbelte eine unüberschaubare Vielzahl von Bildern durch meinen Kopf wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge. Entweder handelte es sich dabei um Erinnerungsfetzen oder wirre Sequenzen eines Traumes, die mich noch ein Stück des Weges aus dem Schlaf in den Wachzustand begleiteten. Die Bilder waren jedoch zu schnell und zu flüchtig für mein noch nicht vollständig erwachtes, zu träge reagierendes Bewusstsein, denn als ich sie zu fassen versuchte, vergingen sie und lösten sich einfach in nichts auf, bevor ich sie zu greifen bekam.

      Ich stöhnte schwach und öffnete die Augen, doch alles, was ich von meiner Umgebung zu sehen bekam, war ein winziger, unendlich fern erscheinender Lichtpunkt, fast so, als würde ich alles nur durch eine lange, dünne Röhre wahrnehmen. Aber dann, mit jeder Sekunde, die ich mich weiter an die Oberfläche meines Verstandes kämpfte, wuchs der Lichtpunkt rasch an, als würde ich mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern im Führerhaus eines ICE durch einen Eisenbahntunnel rasen, bis er schließlich mein Gesichtsfeld vollständig ausfüllte und mir einen ersten, wenn auch noch völlig unscharfen Blick auf meine Umgebung erlaubte.

      Noch ziemlich benommen, aber zumindest halbwegs wach, blinzelte ich einmal, dann in rascher Folge mehrmals hintereinander, um ein klareres, vor allem schärferes Bild zu bekommen. Und in diesem Augenblick wurde ich mir plötzlich – so als hätte ich erst durch die körperliche Tätigkeit des Blinzelns einen Körper erhalten und wäre vorher nur auf meinen Verstand reduziert gewesen – meines Körpers und seiner gegenwärtigen Bedürfnisse bewusst.

      Auch wenn ich soeben erst erwacht war, fühlte ich mich müde und zerschlagen, als hätte ich in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, auch wenn ich aufgrund des mühsamen Erwachens eher vermutete, dass ich sehr lange und besonders tief geschlafen hatte. Ein Widerspruch, den ich im Augenblick nicht klären konnte. Mein Mund und meine Kehle fühlten sich staubtrocken und wund an, und ich litt unter schrecklichem Durst. Und in meinem Kopf fühlte ich ein leichtes, aber unangenehmes Pochen, das mir bereits jetzt in Aussicht stellte, im Laufe der nächsten Stunde zu hämmernden Kopfschmerzen heranzuwachsen. Ich wusste zwar nicht, welchem berauschenden Mittel ich diesen Kater zu verdanken hatte, hoffte aber, dass ich wenigstens meinen Spaß gehabt hatte, wenn ich jetzt auch die Folgen zu erdulden hatte.

      Nach dieser kurzen, aber schmerzhaften Bestandsaufnahme meines körperlichen Befindens richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung, die nur langsam klarere Konturen annahm, während mein Blick sich allmählich fokussierte. Allerdings gab es nur wenige Konturen, an denen meine Augen ihre wiedererwachte Sehschärfe trainieren konnten, denn der Raum, in dem ich zu mir gekommen war, war klein und in seiner Ausstattung karg und trostlos. Eierschalenfarbene Wände, eine ebenfalls eierschalenfarbene Decke und eine Tür, die nur unwesentlich heller war, umgaben mich. Möbel gab es, soweit ich sehen konnte, mit Ausnahme des Bettes, auf dem ich lag, keine. Dass es sich um ein Bett handeln musste, schloss ich allein aufgrund der weichen Oberfläche unter meinem ausgestreckt daliegenden Körper, denn als ich meinen Kopf zur Seite bewegen wollte, um mich zu vergewissern, schoss ein schmerzhaftes Ziehen von meiner Nackenmuskulatur bis in mein Gehirn und gesellte sich dort zu seinem entfernten Verwandten, dem heranwachsenden Kopfschmerz.

      Wenigstens gelang es mir ohne größere Beschwerden, eine kleine rechteckige Scheibe in der oberen Hälfte der Tür zu entdecken, durch die man einen Blick in dieses Zimmer werfen konnte, ohne die Tür öffnen zu müssen. Allerdings war die Sicht durch das Fenster im Augenblick durch eine Klappe versperrt.

      Mein umherwandernder Blick verharrte jedoch nicht, sondern huschte weiter durch den Raum. Er blieb schließlich am letzten Gegenstand hängen, der sich noch im Raum befand. An einem Gestell in einer Ecke des Raumes hing eine Kamera von der Decke. Und das schimmernde Objektiv war genau auf meine auf dem Bett liegende Gestalt gerichtet.

      Ich riss schockiert die Augen auf und stöhnte erneut, dieses Mal etwas lauter. Zu differenzierteren verbalen Äußerungen war ich im Moment ohnehin noch nicht in der Lage.

      Mein Verstand fühlte sich noch immer so an, als wäre er zuerst in eine dicke Schicht Watte gehüllt und dann in einen zu kleinen Karton gepackt worden, um demnächst per Luftfracht nach Kalkutta oder irgendeinen anderen weit entfernten Ort verschickt zu werden. Meine Gedanken rollten daher so langsam und schwerfällig wie tonnenschwere Bowlingkugeln durch meinen Verstand.

      Wer beobachtet mich im Schlaf? Und was noch viel wichtiger war: Aus welchem Grund werde ich im Schlaf beobachtet?

      Die dumpf klingenden Worte hörten sich an wie eine Tonbandaufnahme, die mit zu geringer Geschwindigkeit abgespielt wurde, und rollten zunächst ziellos und scheinbar auch sinnlos wie die durcheinanderkullernden Perlen einer zerrissenen Kette durch meinen Kopf, um sich dann doch noch zu vernünftigen Sätzen aneinanderzureihen. Erleichtert erkannte ich, dass es nur meine eigene innere Stimme war, die zu mir sprach.

      Doch meine Erleichterung währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, denn meine Empörung darüber, dass mich jemand mithilfe dieser Kamera mehr oder weniger heimlich beobachtete, steigerte sich mit jeder Sekunde. Direkt