DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner

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Название DAS BUCH ANDRAS I
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия DAS BUCH ANDRAS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738007527



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Fetzen einer Information, die mir einen Anhaltspunkt für die Antworten auf Gabriels Fragen geben könnte. Plötzlich hatte ich das starke Empfinden, ganz nah dran zu sein, so als würde mir der Name gleich auf der Zunge liegen, sodass ich ihn nur noch aussprechen musste. Doch dann stießen meine Gedankenfinger unvermittelt ins Leere. Sie tasteten umher wie der Stock eines Blinden, trafen jedoch nirgends in ihrer unmittelbaren Umgebung auf den geringsten Widerstand. Ein ziemlich ausgedehnter Bereich aus absolutem Nichts schien sich an dieser Stelle meines Gedächtnisses zu befinden, an der eigentlich Tausende von Erinnerungen zu finden sein müssten. Wie eine ausgedehnte Fläche Ödland inmitten eines grünen, wuchernden Regenwaldes, auf der absolut nichts, nicht einmal ein winziger Grashalm wuchs.

      Ich glaubte, einen schwachen Sog wahrzunehmen, der von dieser unheimlichen Leere in meinem Gedächtnis ausging, nach meinem tastenden Verstand griff und ihn in das unheimliche Nichts zerren wollte wie in ein schwarzes Loch. Ich zog meine Gedankenfinger daher so schnell wie möglich wieder etwas zurück, konnte es jedoch nicht lassen, weiterhin die Ränder dieses Leerraums prüfend abzutasten, so wie man mit der Zunge immer wieder ungewollt über eine wunde Stelle im Zahnfleisch streicht, obwohl man genau weiß, dass man das besser bleiben lassen sollte. Ich stellte dabei fest, dass es im Grunde keinen gleitenden Übergang gab, sondern der Bereich mit intakten Erinnerungen – die allerdings nur allgemeine und keine persönlichen Dinge betrafen – schlagartig endete, so als wäre mit einem scharfen Skalpell ein bestimmter Bereich meines Gehirns herausgeschnitten worden. Das war natürlich absoluter Blödsinn, wie selbst mir als Laie im Bereich der Gehirnchirurgie klar war.

      Ich testete Erinnerungen und Fähigkeiten, die in den unbeschädigten Bereichen meines Verstandes gespeichert waren. Ich konnte mich an zahlreiche Personen der Zeitgeschichte, Orte, geschichtliche Ereignisse und eine Unmenge anderer Dinge erinnern. Ich war problemlos in der Lage, einfache und sogar kompliziertere Rechenaufgaben zu lösen und ganze, willkürlich gewählte Sätze ins Englische, ins Französische und teilweise sogar ins Lateinische zu übersetzen, obwohl ich bei Letzterem schon größere Schwierigkeiten hatte.

      Insgesamt betrachtet machte es mir also keine besondere Mühe, mich innerhalb kurzer Zeit an all diese eher allgemeinen Informationen zu erinnern. Doch sobald ich wieder in den Bereich vorstieß, in dem sich die persönlichen Erinnerungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens in seinem Gedächtnis abspeichert, hätten befinden müssen, fand ich nichts anderes als die schrecklich gähnende Leere. Alles, was mich persönlich betraf – mein Name, meine gesamte Vergangenheit, im Grunde mein komplettes bisheriges Leben –, war wie ausgelöscht. Beinahe kam es mir so vor, als hätte ich vor meinem Erwachen überhaupt nicht existiert.

      Ein furchtbarer Gedanke, der mir Angst machte.

      Kapitel 3

      Schließlich gab ich auf, zog meine gedanklichen Finger aus den Tiefen meines Verstandes und öffnete die Augen.

      Es waren scheinbar nur wenige Sekunden vergangen, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, denn Gabriels Gesichtsausdruck hatte sich nicht im Geringsten verändert. Immer noch sah er interessiert und freundlich auf mich herab und wartete auf eine Antwort, ohne zu ahnen, welches Drama sich soeben in meinem Verstand abgespielt hatte.

      Ich spürte den Schweiß, der mir unter anderem in Form unzähliger kleiner Perlen auf der Stirn stand, und hatte plötzlich Mühe, ein Schluchzen und die Tränen zurückzuhalten, die meine Augen zu überschwemmen drohten. Zu groß war in diesem Moment die Enttäuschung über die niederschmetternde Erkenntnis, dass ich eine Frau ohne Namen und Vergangenheit war.

      Da ich befürchtete, in lautes, unkontrollierbares Schluchzen auszubrechen, sollte ich versuchen, auch nur ein einziges Wort zu äußern, beschränkte ich mich darauf, den Kopf zu schütteln. Dabei lösten sich zahlreiche Schweißtropfen von meiner Stirn, liefen mir übers Gesicht und vermischten sich mit ein paar Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte und die mir aus den Augenwinkeln rannen.

      Gabriel verstand, was ich damit ausdrücken wollte. Er nickte, während sich ein mitfühlender Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. In diesem Moment glaubte ich zu erkennen, dass in der breiten Brust dieses im wahrsten Sinne des Wortes großen Mannes auch ein mindestens ebenso großes Herz schlagen musste.

      »Das haben wir befürchtet!« Gabriel runzelte nachdenklich die Stirn, ließ aber offen, wen er mit wir meinte. »Aber wenigstens kann ich Ihnen in einer Sache weiterhelfen: Ihr Name ist Sandra Dorn.«

      Sandra Dorn – Sandra Dorn – Sandra … Dorn – Sandra … Dorn – San…dra … Dorn – Sa…n…d…ra … D…or…n …

      Der Name wirbelte durch meinen Kopf wie eine aufgeregte Fliege in einem verschlossenen Marmeladenglas, erzeugte immer wieder neue Echos, die von den Innenwänden meines Schädels abprallten wie verbale Querschläger, sich überlagerten und in ihre Einzelteile, ihre Silben, ja sogar ihre einzelnen Buchstaben zersplitterten, bis die beiden Worte jegliche Bedeutung verloren hatten, ohne während all dessen auch nur einmal ein Gefühl von Vertrautheit oder Wiedererkennen in mir auszulösen.

      Zunächst hatte ich noch gehofft, die Nennung meines Namens würde, einer Initialzündung gleich, eine Flut weiterer Erinnerungen auslösen, die aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hervorströmten und meinen Verstand überschwemmten, doch nichts dergleichen geschah. Es schienen nur zwei einfache Worte zu sein, die Bezeichnung einer Person zwar, aber ohne eine besondere Beziehung zu mir oder eine tiefere Bedeutung für mich persönlich.

      Dennoch war dieser Name im Augenblick scheinbar alles, was mir von meinem bisherigen Leben geblieben war, sodass ich ihn trotz seiner anfänglichen Fremdheit dankbar annahm wie ein kostbares Geburtstagsgeschenk und sogleich in verschiedenen Variationen in Gedanken benutzte, um mich daran zu gewöhnen: Sandra Dorn. Mein Name ist Dorn, Sandra Dorn. Ich heiße Sandra Dorn. Hallo, ich bin Sandra. Vielleicht, so hoffte ich, würde er mir mit der Zeit und mit dem Grad seiner Anwendung vertrauter werden, so wie man neue Schuhe auch erst einlaufen muss, bevor sie hundertprozentig passen.

      »Frau Dorn?«

      Gabriel hatte mich wohl schon mehrmals mit meinem Namen angesprochen, bevor ich endlich darauf reagierte. Einerseits war ich tief in Gedanken versunken gewesen, zum anderen hatte ich noch Startschwierigkeiten, mich an den für mich in meiner gegenwärtigen Situation noch unvertraut klingenden Namen zu gewöhnen und dementsprechend zu reagieren, wenn ich ihn hörte.

      »Hat Ihr Name weitere Erinnerungen in Ihnen ausgelöst?«, fragte Gabriel, als ich ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit schenkte.

      »Nein!« Es gelang mir, dieses eine Wort zu sagen, ohne in Tränen auszubrechen. Die Traurigkeit darüber, all meine wertvollsten Erinnerungen an mein früheres Leben und mein Ich verloren zu haben, war noch nicht vollständig abgeklungen, sondern für den Augenblick allenfalls an den Rand meines Bewusstseins verlagert worden. Ich hegte jedoch die Befürchtung, dass sie dort geduldig darauf wartete, um zu gegebener Zeit und aus gegebenem Anlass erneut über mich herzufallen. Es sei denn, es gelang mir vorher, meine Erinnerungen auf andere Art und Weise wiederherzustellen, so wie man nach dem versehentlichen Löschen der Festplatte eines Computers auf eine zuvor erstellte Sicherheitskopie zurückgreift. Ich besaß zwar kein solches Backup meiner Erinnerungen, möglicherweise konnte ich die Lücken aber durch Informationen füllen, die ich von anderen erhielt. Schon formte sich in meinem Kopf ein wahrer Katalog weiterer Fragen, die meine Aufmerksamkeit so vollständig gefangen nahmen, dass mir schon aus diesem Grund keine Zeit blieb, weiterhin Trübsal zu blasen.

      Gabriel musste mir angesehen haben, dass ich mich wieder gefangen hatte und ihn jeden Moment mit einem weiteren Bombardement an Fragen eindecken würde. Bevor ich auch nur eine einzige davon stellen konnte, nahm er mir aber schon den Wind aus den Segeln, indem er sagte: »Ich bin im Augenblick leider nicht in der Lage, Ihnen weitere Fragen zu beantworten, Frau Dorn. Vielleicht kann Ihnen aber Dr. Jantzen dabei helfen, die eine oder andere Lücke in Ihrem Gedächtnis zu füllen. Sobald er erfahren hatte, dass Sie aufgewacht und allem Anschein nach wieder bei Sinnen sind, wies er mich an, Sie zu ihm zu bringen.«

      »Wieder bei Sinnen …?«, wiederholte ich nachdenklich. Zumindest wurde mir nun ansatzweise bewusst, warum ich mit Ledergurten ans Bett gebunden worden war. Ich war wohl nicht