Gewitter. Christa Dautel

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Название Gewitter
Автор произведения Christa Dautel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754176306



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Natur, den weiten Blick in die Berge hinein und auf der anderen Seite in das leicht hügelige Alpenvorland. Beim Abstieg begann wieder seine Hüfte zu schmerzen und er bedauerte, aus Eitelkeit keine Wanderstöcke mitgenommen zu haben. Ohne Stöcke wurde der Abstieg für ihn zur Qual und er beneidete den Fremden, der wohl in seinem Alter war und offensichtlich beim Gehen keinerlei Scherzen hatte. Sie hatten sich dann vor seinem Haus verabschiedet und der Fremde sagte zu ihm: “Lassen Sie sich doch die Hüfte operieren, ich hatte genau dieselben Beschwerden wie Sie und fühle mich mit meiner neuen Hüfte wie neu geboren“.

      Thomas war damals erschrocken, er hatte immer geglaubt, niemand würde etwas von seinen Schmerzen bemerken. Aber zu einer Operation, nein, dazu würde er sich nicht entschließen können. Er traute den Ärzten nicht so recht und nur manchmal gestand er sich selbst zu, dass er panische Angst vor einer Operation hatte. Man las doch auch ständig von “ärztlichen Kunstfehlern“, ein Ausdruck den er als zutiefst zynisch empfand.

      Die Tage hier oben verliefen ohne große Überraschungen, alles lief seinen geregelten Gang und doch waren sie für ihn ausgefüllt. Es gab im Haus immer etwas zu tun, er hatte immer neue Ideen, was er noch verändern, ergänzen könnte. Langweilig wurde es ihm nie. Seit er die Nachbarn nach Ende der Renovierungsarbeiten eingeladen hatte, kamen diese ab und zu vorbei oder luden ihn zum Sonntagsbraten ein. Er sagte immer zu, denn er wusste, dass er auf sie angewiesen war. Sie würden schon bemerken, wenn er eines Tages nicht mehr vor dem Haus erscheinen würde.

      Gisela hatte ihn immer wieder gedrängt, er solle doch endlich einen Telefonanschluss legen lassen oder sich ein Handy kaufen. Wenn ihm irgendetwas zustoßen würde, könne er nicht einmal Hilfe holen. Er wollte kein Telefon, er wollte auch kein Handy haben, das war doch nur etwas für all die Leute, die meinten, immer reden zu müssen. Seine Frau hatte ein Handy, natürlich und sie telefonierte auch ständig. Sie waren nun über 30 Jahre verheiratet, aber er hatte sich noch immer nicht an die lebhafte Art seiner Frau gewöhnt. Es war nie die große Liebe gewesen, für ihn nicht und für seine Frau vermutlich auch nicht, aber sie hatten sich arrangiert.

      Schließlich war Thomas doch noch eingeschlafen, es war ein unruhiger Schlaf voller Träume gewesen, an die er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte. Wie er es erwartet hatte, regnete es immer noch, es war nun auch im Haus sehr kühl geworden, Thomas musste als erstes den großen Kachelofen einheizen. Er würde heute damit beginnen, alles für den Winter vorzubereiten, in den nächsten Tagen würde er zurück nach Berlin fahren.

      Plötzlich fiel ihm wieder sein Traum von der vergangenen Nacht ein: Er hatte von Barbara geträumt! Barbara war seine große Liebe gewesen, sie hatten beide in München studiert, sich an der Uni kennen gelernt und waren bald unzertrennlich gewesen. Sie hatten alles gemeinsam gemacht, sie hatten sich wunderbar ergänzt und alle hatten erwartet, dass sie bald heiraten würden. Sobald sie das Examen bestanden hätten, wollte Thomas eine große Hochzeit feiern, er hatte schon alles geplant und dann hatte Barbara ihn plötzlich verlassen. Er war von einem Vorstellungsgespräch nach Hause gekommen und hatte Barbara nicht mehr vorgefunden. Ihre persönlichen Sachen waren nicht mehr da; ihr Schreibtisch, die alte Biedermeierkommode – alles war weg. Nichts mehr, das an sie erinnert hätte. Auf dem Küchentisch lag ein Brief von ihr.

      Sie hatte ihm geschrieben:

      „Lieber Thomas, ich habe deine Abwesenheit genutzt und meine Sachen gepackt. Wenn du zurückkommst, werde ich schon in Hamburg sein, ich habe dort eine Stelle angenommen.

      In den letzten Monaten habe ich immer wieder versucht, dir klar zu machen, dass ich meinen eigenen Freiraum brauche, aber du hast leider nie zuhören wollen. Für dich mag es perfekt gewesen sein, alles gemeinsam zu machen, mir fehlte dabei aber immer mehr die Luft zum Atmen. Es sollte immer alles nach deinen Vorstellungen gehen, an mich hast du dabei wenig gedacht. Du hast eine Hochzeit geplant, ohne mich jemals gefragt zu haben, ob ich dich hei-raten wollte. So stelle ich mir eine Partnerschaft nicht vor, so kann und möchte ich nicht leben…..“

      Fassungslos hatte Thomas den Brief, ohne ihn zu Ende zu lesen, in tausend kleine Fetzen zerrissen. Einen Monat später hatte er seine Stelle in der Firma, in der er bis zu seiner Pensionierung geblieben war, angetreten.

      Schon am ersten Tag war er Gisela begegnet und da auch sie alleine war, sind sie hin und wieder zusammen ins Kino gegangen. Nach wenigen Wochen hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Zuerst hatte sie nur gelacht, sie würden sich doch gar nicht kennen und das hätte doch keine Eile. Sie würde ihn mögen, sicher, aber so schnell könne man sich doch nicht zu einer Heirat entschließen. Er hatte darauf beharrt, entweder sofort oder dann gar nicht mehr, er wolle klare Verhältnisse haben und letztendlich hatte sie der Heirat zu seinen Bedingungen zugestimmt.

      Von seiner Seite war es keine Liebesheirat gewesen, über Gisela hatte er nie nachgedacht. War sie denn glücklich geworden in dieser Ehe, hatte sie andere Vorstellungen gehabt?

      Gisela hatte damals eine große Hochzeitsfeier haben wollen, aber er hatte dies abgelehnt. Eine große Feier hatte er mit Barbara geplant, jetzt wollte er nur eine standesamtliche Trauung. Die beiden Trauzeugen waren Kollegen aus der Firma, keine Freunde, keine Familie.

      Für alle war ihre Hochzeit völlig überraschend gewesen, viele hatten gedacht, dass diese Ehe nicht lange halten würde. ‚Aber vielleicht hat es deswegen so einigermaßen geklappt, weil wir beide nicht die großen Erwartungen an unsere Ehe gehabt hatten. Wie wäre es wohl mit Barbara gewesen? Er hatte nie wieder von ihr gehört und plötzlich stellte er verwundert fest, dass er sie gar nicht mehr deutlich vor Augen hatte. Er versuchte, sich an ihre Stimme, ihre Sprache, ihr Lachen zu erinnern, es gelang ihm nicht. Mehr als 30 Jahre waren seither vergangen. Die Zeit mit Barbara hatte nur wenige Jahre gedauert und doch hat sie mein Leben bis heute beeinflusst. Ich habe zugelassen, dass ich nicht von ihr los kam, dass ich mein wirkliches Leben darüber vergessen habe. Diese Gedanken hatten etwas Erschreckendes für ihn. Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn er Barbara besser zugehört, wenn er sie besser wahrgenommen hätte. Wäre er mit ihr glücklich geworden? Was hatte er denn falsch gemacht, hatte er ihr wirklich keinen Freiraum gelassen?

      Gisela hatte sich nie beschwert, sie hatte ihn so genommen, wie er war. Obwohl gerade sie beide doch so grundverschieden waren, hatte sie ihn mit allen Eigenheiten akzeptiert. Thomas musste sich eingestehen, dass er längst nicht so tolerant war, er hatte sich öfters über manche ihrer Eigenschaften mokiert. Ihr lautes Lachen, ihr ständiges Reden, dass sie immer Leute um sich herum haben musste, das alles hatte ihn immer gestört und das hatte er ihr auch oft genug deutlich gemacht. An Barbara hatte ihn nichts gestört, sie war einfach perfekt gewesen, das hatte er damals gedacht, bis sie dann plötzlich ohne Vorwarnung weggegangen war. Verstehen konnte er das bis heute nicht, aber er stellte verwundert fest, dass es ihn jetzt nicht mehr interessierte, es war ihm vollkommen gleichgültig geworden, warum Barbara damals weg gegangen war.

      Sein Leben hatte er mit Gisela verbracht, sie hatten eine Familie gegründet und plötzlich war es ihm wichtig, zu wissen, ob sie sich in dieser Ehe arrangiert hatte. Er konnte nicht erwarten, dass sie glücklich geworden ist, aber vielleicht wenigstens zufrieden. Ob sie sich wirklich eine Ehe vorgestellt hatte, in der jeder seine eigenen Wege ging?

      Thomas setzte sich auf die Bank vor dem Haus. Es regnete noch immer, dicke Nebelschwaden zogen vom Tal herauf, es war ungemütlich geworden. Die Berge, die er so sehr liebte, wirkten wie bedrohliche, dunkle Riesen. Seltsam, dachte er, so habe ich die Berge noch nie gesehen, für Gisela waren sie immer bedrohlich, aber nicht für mich.

      Er dachte an Gisela, nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie sie sich ihr Leben mit ihm vorgesellt hatte. Hatte sie ihn aus Liebe geheiratet, wie hatte sie seine Schroffheit, sein Zurückweisen ertragen können? Nie hatte sie sich beklagt. Mit Barbara hatte er alles gemeinsam machen wollen. In der Ehe mit Gisela hatte er keine Gemeinsamkeit zugelassen. Er war kein guter Ehepartner, er war kein guter Vater gewesen, er hatte keine Nähe zugelassen.

      Warum nur hatte er sich so verhalten, hatte er Angst gehabt, hatte die Enttäuschung mit Barbara ihn unfähig für eine gute Partnerschaft gemacht?

      Nachdenklich ging er ins Haus, ging von einem Raum in den anderen. Vor seiner Abreise musste er das