Morgensonnenschein. Alina Haag

Читать онлайн.
Название Morgensonnenschein
Автор произведения Alina Haag
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783754928622



Скачать книгу

aus jeder Schicht zum Leiter des Neuanfangs zu ernennen. Eines Nachts trafen sich die Auserwählten, um die Gebiete aufzuteilen. Marpel hatte das Land in die Erde gemalt und überreichte jedem einen Stein, den er auf das Gebiet legen sollte, auf welches er Anspruch erhob. Er selbst hatte seinen Stein, einen Marmor, schon auf das Gebiet an der Küste gelegt, das heutige Marpel, da er das Meer und die sanfte Hügellandschaft der Küste liebte und die anderen folgten seinem Beispiel. Sein Bruder legte einen Kieselstein direkt neben den Marmor in das Gebiet, welches nun Pebble hieß, der Vertreter der 3. Schicht legte ein Stück Schiefer auf ein Gebiet südöstlich des Meeres, Ardesia, ein Mann aus der 4. Schicht warf seinen Kalkstein mit geschlossenen Augen und er landete neben Ardesia, dem heutigen Limestone. Der Mann aus der 5. Schicht, ein bescheidener Mensch, nahm ein Stück Kohle aus dem Feuer und legte es auf den einzigen noch freien Platz, fernab vom Glanz Marpels, um so den Standpunkt von Coalman zu begründen. Dies war also der Beginn des ganzen Unglücks, denn darauf folgten mehrere Aufstände gegen das System, die blutig niedergeschlagen worden waren. Da diese nicht in das Bild der Preisrichter passten, war es auch nicht verwunderlich, dass sie bei der Erzählung des Preisrichters unerwähnt blieben. Dieser knüpfte nahtlos das Heutige an die Legende von damals an, ohne die enorme Zeitspanne dazwischen zu beachten. „Das heutige Stones lässt sich von Historikern schon aus dieser frühen Legende herauslesen. Der Preisrichter stand weiter über den einzelnen Vierteln und über Marpel, die Anführer, die damals ihr Gebiet wählten, sind die heutigen Gouverneure von Stones. So fügt sich das eine in das andere. Die Preise drücken noch heute eure, unsere Bestimmung aus.“

      Weiter nannte er viele Vorzüge des Systems und erklärte, dass es unsere Aufgabe war dieses wichtige System zu schützen, dass die Genialität dieser Gesellschaftsordnung jeden Tag aufs Neue bewiesen werden musste, um revolutionäre Kräfte im Keim zu ersticken und dass wir unseren Teil dazu beitragen sollten, indem wir treu und folgsam waren und uns diesem fügten. Ungläubig hob ich den Blick, den ich seit mehreren Minuten auf die Bleistiftzeichnungen auf meinem Tisch gerichtet hatte, da ich einfach nicht glauben konnte, dass irgendjemand nur ansatzweise unterstützen konnte, was dieser Mann da vorne predigte. Prüfend schaute ich einigen meiner Klassenkameraden ins Gesicht und wurde nur so von Enttäuschung durchflutet, als ich deren leere Blicke untersuchte. Anscheinend interessierte sich keiner dafür, was von uns verlangt wurde und was wir haben könnten, ihre von Arbeit abgestumpften Sinne nahmen nicht mehr die Ungerechtigkeit war, die in den Worten des Preisrichters mitklang. Die Enttäuschung machte der Wut Platz und brodelnd suchte ich die Quelle der Lügen, die in gesprochene Worte umgewandelt wurden, und machte den Preisrichter auf einem Holzstuhl vor der Tafel aus. Als mein lodernder Blick auf seine fast schwarzen Augen traf, durchfuhr mich ein Schreck, der mir ein leises Keuchen entlockte. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Wie konnte er es wagen, seine Leute so zu verraten! Der Schreck verwandelte sich abermals in Wut, in eine Wut, von der mir der Kopf pochte und die mich erzittern ließ. Der Hass war so groß auf diesen Preisrichter, der seine eigene Schicht und damit meine, nämlich die vierte Schicht verriet, dass ich nur am Rande wahrnahm, wie dem Preisrichter kurz seine Gesichtszüge entglitten, bevor er in sachlichem Ton fortfuhr. Zum Ende der Stunde hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass mir das Ausmaß meines Handelns erst so richtig bewusst wurde. Bittere Galle stieg in mir hoch und als schließlich das schrille Geräusch der Schulglocke ertönte, war ich nicht mehr zu halten. Ohne einen weiteren Blick zurück ließ ich das Schulhaus hinter mir und ging zu dem einzigen Ort, an dem ich jetzt noch sicher war.

      Kapitel 8

      Früher hatten meine Schwester und ich, als wir noch nicht in der Schule waren, immer in der Nähe der Fabrik gespielt, in der meine Mutter tagsüber arbeitete. Dort hatten wir uns in einer Ecke eine Höhle gebaut, in der wir uns bei Regen aufhielten. Diese war auch nicht weit entfernt von der Schule und so war ich nach wenigen Minuten dort und setzte mich noch rechtzeitig in den kleinen Raum aus Holz und Wellpappe, bevor mich die Tränen übermannten. Wie konnte ich nur so dumm sein, wie konnte ich nur! Ich hatte, ohne es zu bemerken nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Familie aufs Spiel gesetzt. Warum hatte ich die Beherrschung verloren, warum nur? Hätte ich nicht darauf vorbereitet sein können, dass es auch Preisrichter aus niederen Schichten gab? Nun war alles aus, unser Glück zerstört. Ich gab mir vielleicht noch einen Tag, dann würden mich die Preisrichter holen, um mich zu einer von ihnen zu machen. Schließlich war es für den Preisrichter ein leichtes gewesen, meine Überraschung und anschließende Wut darauf zurückzuführen, dass ich des Zahlensehens mächtig war. So saß ich nun da, auf der festgetretenen Erde, zusammengekauert und tränenüberströmt. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, bald verdunkelte sich der Himmel, dann begann es zu regnen. Dicke Tropfen drangen durch das löchrige Dach, fielen auf meine leichten Klamotten, die alsbald durchnässt waren und ließen mich frösteln und schließlich beschloss ich, dass es keinen Zweck hatte, es weiter hinauszuschieben. Ich musste meiner Mutter die Wahrheit erzählen, bevor es die Preisrichter tun würden. Ich stand auf, streckte meine steifen Glieder und machte mich durch den Regen auf den Weg nach Hause, eine dunkle Gestalt auf grauem Hintergrund.

      Glücklicherweise war es noch nicht allzu spät, als ich mich unserem Haus näherte, vielleicht drei oder vier Uhr. Der Glockenturm war schon vor langer Zeit baufällig gewesen und so war es kein Wunder, das auch die darin eingebaute Uhr kurz darauf ihren letzten Schlag getan hatte, was aber nicht weiter schlimm war, da sich die meisten Leute eh mehr auf die Sonne, als auf ein von den Preisrichtern kontrolliertes Messgerät verließen. Zu Hause angekommen, befreite ich mich im engen Flur zuerst von den nassen, schlammigen Schuhen und der dünnen Jacke, bevor ich unsere Wohnung betrat. Wie erwartet war meine Mutter noch nicht zu Hause und nur meine Schwester saß an dem kleinen Holztisch in der Küche, ihre Schulsachen vor sich ausgebreitet; wir nutzten eben jede Minute aus, in der wir einmal Strom hatten. Als sie mich bemerkte, hob sie den Kopf und ich sah in ihren Augen Erleichterung. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Keine einzige Minute hatte ich daran gedacht, dass meine Schwester sich sicherlich Sorgen machen würde, wenn ich zum Schulende nicht am Schultor erscheinen würde, um mit ihr nach Hause zu laufen. Tausende Entschuldigungen rasten mir durch den Kopf. Ich hatte nacharbeiten müssen, ich war noch einkaufen gegangen… Doch keine dieser Ausreden schien der Wahrheit gerecht zu werden. Ich hatte mir vorgenommen mein Geheimnis zu offenbaren, mich der Wahrheit zu stellen. Warum sollte ich also nicht jetzt anfangen? Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl ihr gegenüber und begann mit matter Stimme zu sprechen. „Hi, wie war dein Tag?“

      Sie hob abermals den Kopf, dieses Mal ein spöttisches Funkeln in den Augen. „Gut. Und wie war der Vortrag des Preisrichters? War er so schlecht, dass du danach gleich fliehen musstest?“, fügte sie sarkastisch hinzu.

      Ich bewunderte meine Schwester immer wieder dafür, wie sie immer sofort ins Schwarze traf und ärgerte mich gleichzeitig darüber, dass ich nicht bedacht hatte, dass meine plötzliche Flucht in Verbindung mit der vorausgegangenen Rede des Preisrichters eine explosive Tratschmischung abgab, die dazu führte, dass die ganze Schule binnen weniger Minuten über meinen Abgang Bescheid wusste und dass meine Schwester zur ganzen Schule zählte.

      „Nicht direkt“, beantwortete ich wage ihre letzte Frage, dann holte ich tief Luft. „Ich habe heute etwas sehr Dummes gemacht…“

      „Das sehe ich auch so“, sagte eine Stimme hinter mir.

      Erstaunt fuhr ich herum und sah meine Mutter im Türrahmen stehen, auf dem Gesicht eine Mischung aus Sorge und Wut. Meine Mutter war bei einer ihrer Kundinnen gewesen, als deren Tochter von der Schule nach Hause gekommen war und erzählt hatte, dass ich die letzte Stunde Kunst geschwänzt hatte. Für die Lehrer an unserer Schule war es normal, dass der ein oder andere gelegentlich Schulstunden schwänzte, doch meine Mutter war bei dieser Information hellhörig geworden, da es normalerweise so gar nicht meine Art war, einer Stunde fernzubleiben. Also hatte sie auf dem Nachhauseweg einen Abstecher zur Schule gemacht, um dann dort zu erfahren, dass wir in den nächsten Tagen mit Besuch zu rechnen hatten. Meine Mutter hatte eins und eins zusammengezählt und stand nun mit einem heißen Tee in der Hand an die Küchenzeile gelehnt da und erwartete von mir eine Erklärung. Aber wie sollte man bei so einer Sache anfangen? Schließlich beschloss ich der Vollständigkeit zuliebe mit dem Tag anzufangen, an dem ich meine Gabe entdeckt hatte. Ich war gerade einmal fünf gewesen, als ich zum ersten Mal einen Preis gesehen hatte. Damals waren wir ganz frisch in diese Wohnung