Morgensonnenschein. Alina Haag

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Название Morgensonnenschein
Автор произведения Alina Haag
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783754928622



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mit den dreckigen Schnürsenkeln meiner ziemlich maroden erdbraunen Stiefeletten neue Schleifen auszuprobieren. Dora war einfach noch zu sehr Kind für diese harte und rücksichtslose Welt. Sanft wiegte ich Leo hin und her und strich ihm eine dunkelbraune Strähne seines Haars aus den geschlossenen Augenlidern. Im Schlaf wirkten die Züge seines Gesichts noch weicher und unschuldiger als im wachen Zustand, wenn er einen durch seine warmen braunen Augen anstrahlte, ein Lachen auf den Lippen. Wahllos bewegte er seine kleinen Fingerchen, die schließlich meinen Finger fanden und sich an diesen klammerten. Ich war sehr froh, dass der kleine Leo bei uns bleiben durfte, auch wenn er nur mein Halbbruder war und Essen ein wertvolles Gut geworden war. Beim genaueren Hinsehen sah der kleine Junge seinem Vater, der auch der von Dora war, in seinen Gesichtszügen sehr ähnlich mit der kleinen Stupsnase, den eng zusammenstehenden dunklen Augenbrauen und den Grübchen in den Mundwinkeln. Doch Kamlet, so hieß der Plantagenarbeiter und Vater meiner zwei Geschwister nämlich, lächelte nie, zumindest hatte ich ihn nie lächeln sehen. Er wirkte auf mich niemals glücklich, sondern eher verkniffen mit den dunklen Augen und den dunkelbraunen glatten Haaren, die so geschnitten waren, als hätte ihm jemand einen Topf aufgesetzt und an dessen Rändern die Haare abgetrennt. Ich hatte nie verstanden, was meine Mutter an diesem fast ungesund braun gebrannten Mann gefunden hatte, der das ganze Jahr über vor den Toren der Stadt Obst und Gemüse pflanzte, goss und erntete, hatte ihn nie in mein Herz geschlossen, auch, weil er sich nie für Dora interessiert hatte. Vielleicht überforderten Kamlet Kinder, jedenfalls hatte er sich seit Leos Geburt bei uns nicht mehr blicken lassen und anders als meine Mutter rechnete ich auch nicht mehr mit seiner Wiederkehr. Trauer durchzuckte mich, dass auch Leo keinen richtigen Vater haben würde. Andererseits war seine Zukunft in Limestone nicht gerade rosig, also warum sollte er da grundlos verhätschelt werden. Jedenfalls war in diesem Augenblick das Alles egal. In diesem Moment zählte nur, dass wir über den Abgrund gesprungen waren, auch wenn noch viel zu viele Hürden vor uns lagen. In der Stille hörte ich plötzlich ein Geräusch, ganz leise und gleichmäßig war es, wie Regentropfen in einen großen Teich. Doch dann drängte es sich weiter in den Vordergrund und ich hob den Kopf, das stechende Blatt einer Palme, von deren Art es hier mehr gab, im Nacken spürend. Die Schritte, die das Geräusch verursachten, kamen immer näher. Flüsternd forderte ich meine Schwester auf, sich wieder auf dem Stuhl niederzulassen. Das hallende Geräusch ebbte ab, als die kleine Gruppe den Gang erreichte, wodurch ich jetzt auch eine tiefe Männerstimme ausmachen konnte. Der Sprecher trat als Erster in den Vorraum, gefolgt von zwei weiteren jüngeren Männern. Die beiden Äußeren trugen schwarze wallende Gewänder, während der Mittlere eine ausgewaschene Jeans und einen braunen Pulli anhatte. Dies musste die Preisrichtergarde sein, die aus bereitwilligen Preisrichtern aber auch vertrauenswürdigen Pebblern oder Ardesianern bestand und im Namen der Preisrichter für Recht und Ordnung sorgte. Zweifellos waren die zwei in schwarz gekleideten jungen Männer Preisrichter, wenn sie sich in diesem Teil des Diamond Towers ohne weiteren Geleitschutz durch andere als Preisrichter erkennbare Personen befanden. Noch nie hatte ich so junge Preisrichter wie diese gesehen, denn im Preisrichterrat, der sich für die Limestoner am sichtbarsten in der Öffentlichkeit bewegte, waren nur erfahrene Preisrichter, also ältere, die auch bei Überraschungen keine Miene verzogen und ihr Urteil auch bei höheren Schichten ohne Vorurteile fällten. Dass letzteres nicht unbedingt immer gewährleistet war, war nicht zu bestreiten. Schon oft genug waren Vorwürfe der Korruption zwischen ranghohen Personen und den Preisrichtern laut geworden, doch solche Misstöne oder zumindest ihre Verursacher waren meist schnell weg vom Fenster. So hatte ich lediglich einen Teil des Unterrichtsstoffs wiederholt. Dass meine Meinung über die Preisrichter und deren Weltansichten in eine ganz andere Richtung als die der Schulleitung und des Bildungsministers gingen, war schon allein durch meine Mutter und deren Sicht der Dinge gewährleistet.

      Ich spürte einen leichten Druck auf meinem Schuh, als mich meine Schwester aus meinen Gedanken zurückholte. Beschämt senkte ich den Blick, als ich merkte, dass ich die drei Männer immer noch anstarrte. Diese waren mittlerweile vor einer der beiden Aufzugtüren, während sie dem grün blinkenden Rand des Knopfes nach zu schließen auf den Lift warteten. Keiner der beiden in schwarz gekleideten hatte meinen Ausrutscher bemerkt. Nur der andere Junge betrachtete mich interessiert. Ich hob den Blick, um seinen zu erwidern, als mir ein Keuchen entfuhr. Seine Stirn über den dunkelblauen Augen war leer, dort, wo eigentlich sein Preis hätte stehen müssen, war ein schwarzes Nichts, das mein letztes Stück Selbstbeherrschung verschlungen hatte. Weil der Junge wohl das Entsetzten in meinem Gesicht gesehen hatte, verdunkelten sich seine Augen und er drehte sich in die Richtung, in die die anderen schauten. Langsam machte dem anfänglichen Schreck einer Panik Platz, die nichts mit dem fehlenden Preis des Jungen zu tun hatte. Er hatte meinen Blick gesehen, er wusste, was ich gesehen hatte und somit war es für ihn nicht schwer zu erraten, welche Fähigkeiten in mir schlummerten. Mein Bauch zog sich ob dieser Erkenntnis zusammen, auf meiner Haut bildete sich Schweiß. Das Ticken der Uhr, die über meinem Platz hing, kam mir unheimlich und viel zu laut vor, als ob sie wüsste, dass mein Geheimnis kurz vor der Offenbarung stand. Eins, zwei, drei, vier. Ticktack, ticktack. Die Sekunden verstrichen und nichts passierte. Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken, als sich die Aufzugtüren öffneten, dann das leise Rumpeln, während sie sich wieder schlossen. Ich atmete einmal, zweimal. Dann richtete ich meine Augen auf die Stelle, wo vor kurzem noch der Mensch gestanden war, der jetzt mein Schicksaal in der Hand hatte.

      Ich beruhigte mich erst wieder, als nach zwei weiteren Minuten meine Mutter ins Zimmer trat und mit freudiger Miene verkündete, sie habe die Papiere für Leo. Der Weg zur Tür über den Aufzug und die Empfangshalle war kurz und wir alle waren froh, als wir dem Diamond Tower den Rücken zukehren konnten. Als wir vor diesem standen, die Sonne, die bereits den Zenit überschritten hatte, im Gesicht, konnte meine Schwester das freudige Jauchzen, das über ihre Lippen kam, nicht unterdrücken. Endlich war die schwer lastende Sorge weg, endlich hatten die Wolken in unserem Leben der Sonne Platz gemacht. Für einen Moment vergaß ich all die anderen Sorgen und zusammen mit meiner Schwester drehte ich mich um unsere Mutter, das Gesicht zum Himmel gestreckt. So tanzten wir am Fuße des Diamond Towers.

      Kapitel 6

      Bald schon hatten wir Strecke zwischen das Hauptquartier der Preisrichter und uns gebracht. Die Sonne stand bereits tief und schien uns ins Gesicht, als wir endlich den Pfad erreichten, dem wir dann bis zum Südtor folgen mussten. Bei Anbruch der Dunkelheit kamen wir schließlich dort an und nahmen die nächste Straßenbahn nach Limestone. Irgendwo zwischen Marpel und Ardesia war meine vom Tag erschöpfte Schwester eingeschlafen, ihr Kopf lag schwer auf meiner Schulter. Auch ich verspürte große Müdigkeit, allerdings war der Drang, den Schlaf meiner Schwester zu bewachen größer. Ihr langes glattes kastanienbraunes Haar erzitterte bei jedem ihrer gleichmäßigen Atemzüge. Auch meine Mutter hatte ihren Blick auf Dora gerichtet. Sie sah ebenfalls müde aus, ihre tiefen Augenschatten ließen keinen Zweifel daran, und doch war da das lebhafte Funkeln in ihren blauen Augen, das ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Doch da nun die alles überlagernde Sorge weg war, hatte ich in meinem Kopf viel zu viel Platz für meine anderen Probleme. Was war mit dem Jungen von heute Mittag? Hatte er mich doch noch verraten? Würden morgen die Preisrichter kommen, um mich zu holen? Und wenn er mich doch nicht verraten hatte? Aber warum sollte er das tun? Viel zu viele Fragen gingen mir durch den Kopf und als wir schließlich Limestone erreichten und ich meine Schwester aufweckte, schwirrte mir dieser vom vielen Denken. Den Weg nach Hause durch die dunklen Gassen hasteten wir nur so dahin. Wir alle waren froh, wieder zu Hause zu sein. Aber mir war bewusst, dass ich auch daheim keinen Schutz vor meiner selbst finden würde. Ich spürte, dass mein Geheimnis kurz vor der Enthüllung stand.

      Trotz allem fiel auch von mir die Anspannung ab, als wir schließlich vor unserer Haustür standen. Meine Mutter schloss auf und schnell schlüpften wir in den schmuddeligen Flur, in dem wir heute früh noch gestanden hatten, nichtsahnend, was uns die Zukunft bringen würde. Nach einer weiteren Tür befanden wir uns in unserer Wohnung, die mir nach dem großen Zeremoniensaal noch kleiner vorkam. Sie bestand nur aus zwei Räumen, der Küche und dem gemeinsamen Schlafzimmer, die beide nicht nennenswert voneinander abgetrennt waren. Nur ein Tuch hing da, wo die Tür hätte sein müssen. Es diente dazu Essensgerüche, von denen es bei uns eher nicht so viele gab, aus dem Schlafraum zu halten und Gästen den jämmerlichen Anblick unserer „Betten“, zweier Matratzen und einem Gitterbett für Leo, zu ersparen. Ansonsten befand sich im Schlafzimmer