Fontanka. Markus Szaszka

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Название Fontanka
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170960



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Mama, aber darf ich jetzt gehen, bitte?«

      Dora hatte nicht vorgehabt, ihrem Kind ein Kompliment zu machen. Sie sorgte sich, weil sie wusste, wie gefährlich Mädchen lebten, die so schön wie ihre Anuschka waren.

      »Ja, lauf Mädchen, lauf und hab Spaß.«

      »Danke.«

      Dora konnte sich nicht entscheiden, ob es gut war, dass Anna aus ihrer Stummheit herausgewachsen war, auch wenn sie dafür gebetet und Gott ihre Gebete erhört hatte. Aber jetzt verstand sie die Bereitschaft ihres Kindes, mit anderen zu kommunizieren, als eine neue Gefahr. Dass sie nur an niemand Böses gerät, hoffte sie.

      »Wenigstens ist sie noch zu keinem Plappermaul geworden«, sagte Feodora zu sich, während sie Anna nachsah, die im Flur davonstürmte. »Und gegen sechs Uhr gibt es Abendessen, hörst du?«, schrie sie hinterher und ging zurück ins Innere der Wohnung. Just, als sie die Türe schließen wollte, hielt Anna sie auf, die zurückgelaufen war. Erst küsste sie ihre Mutter auf die Wange und dann ließ sie Misha Masha es tun.

      Manches änderte sich nie.

      »Ich habe das Kuchenstück für Polina vergessen, gibst du es mir bitte.«

      »Wenn dein Kopf nicht angewachsen wäre, würdest du auch ihn vergessen.«

      Masha wanderte in die Rocktasche und das in Papier eingewickelte Stück von dem Himbeer-Joghurt-Kuchen, den die drei Smirnow-Damen am vorigen Abend gemeinsam gebacken hatten, wurde von Anna behutsam in Empfang genommen, als ob es fragil wie ein frischgeschlüpftes Küken wäre.

      Das Kind war deshalb so fahrig, weil es sich beeilte. Es war erst zehn Minuten zuvor von der Schule nach Hause gekommen, um einen Apfel zu essen, ein Glas Milch zu trinken und den Schulranzen dazulassen, vor allem aber aus Gewohnheit, um Mutter Hallo zu sagen. Polina hatte in etwa das Gleiche getan und jetzt beeilten sich die beiden Mädchen wieder zueinander, weil sie einander noch viel zu erzählen hatten – wie immer.

      An diesem Tag hatten sie in der großen Pause begonnen, sich eine Geschichte auszudenken. Es ging um zwei Mädchen in ihrem Alter, die in einem verwunschenen Wald lebten. Dort hatte jedes der Mädchen ein eigenes Haus, es gab geheime Gärten, Labyrinthe und traumhafte Lichtungen, die versteckt waren und von denen nur sie beide wussten. An dieser Geschichte wollten sie noch ein bisschen feilen und bald vielleicht sogar ein Buch zusammen schreiben.

      Als Anna ihren Wohnblock, den westlichen der vier baugleichen Betonklötze, durch die hofseitige Tür verließ, sah sie Polina schon von weitem bei den Schaukeln auf sie warten. Sie lief ein Stück, stolperte über eine nach oben ragende, von Witterung und Zeit gelockerte Betonkachel, fing sich gerade noch rechtzeitig vor dem Fall und beschloss, lieber doch im Schritttempo weiterzugehen. Sie wollte Polinas Kuchenstück nicht vom Boden kratzen müssen.

      »Na, Tollpatsch, noch mal gutgegangen«, rief Polina ihr zu.

      »Ja, hier, habe ich gestern Abend mit meiner Mutter gebacken. Das Stück ist für dich.«

      »Danke. Apropos deine Ma. Ich glaube, sie will, dass du ihr winkst.«

      Anna drehte sich um, sah nach oben zum 14. Stockwerk und winkte Feodora, die beim Fenster stand und hinuntersah. Polina winkte auch.

      »Gehen wir an die Newa spazieren?«

      »Ich weiß nicht, lieber nicht. Bleiben wir hier. Ich muss in eineinhalb Stunden wieder da sein.«

      »Na gut, aber dann werden wir die ganze Zeit von deiner Mutter beobachtet.«

      »Stört dich das?«, fragte Anna verwundert.

      »Nein, ist schon okay.« Polina sah zu den Fenstern ihrer Wohnung, wo niemand zu sehen war.

      »Musst du dann nicht auch zu Abend essen?«

      »Nein, bei uns ist grad keiner. Mutter und Vater sind verreist. Aber wir haben Geld bekommen. Iwan hat gesagt, dass er uns später Hot Dogs besorgt.« Polina versuchte fröhlich zu klingen, klang aber betrübt.

      »Das tut mir leid.« Anna verstand, dass es ziemlich langweilig sein musste, den ganzen Tag allein zu Hause zu sein. Das kannte sie von früher. Und immer nur Hot Dogs zu essen, die Iwan brachte, weil weder er noch seine Schwester wussten, wie man kochte, war sicher auch nicht besonders lecker.

      »Wieso? Ist doch alles gut.« Polina wollte weder Schwäche zeigen noch bemitleidet werden und schämte sich ein bisschen, weil ihr anscheinend beides nicht gelang. Um ihre Freundin zu überzeugen, versuchte sie es mit einem »Sturmfrei, juhu!«, das allerdings gekünstelt und wenig froh klang.

      »Okay«, erwiderte Anna verunsichert.

      »Gut.« Polina vermochte weder sich selbst noch ihre beste Freundin davon zu überzeugen, dass es ihr nicht an elterlicher Führsorge fehlte. Offen konnte sie darüber aber auch nicht sprechen.

      Nun schmollten beide, aber da Anna sich noch sehr gut daran erinnern konnte, wie schlecht und einsam sie sich gefühlt hatte, als sie häufig alleingelassen wurde, wusste sie auch, was Polina in ihrer Situation am meisten brauchte, und zwar ein bisschen Aufmunterung. Also ging sie zu ihr, die sich auf eine der beiden Schaukeln gesetzt hatte, umarmte sie und setzte sich dann auf die Schaukel daneben.

      »Na gut, dann lass uns weiter überlegen, was Chloe und Sarah noch alles in ihrem verwunschenen Wald anstellen können.«

      »Gut«, Polinas Kinn zitterte ein wenig, weil sie von der körperlichen Nähe, die sie nicht gewohnt war, gerührt war. Um ihre Gefühlsregung zu kaschieren, packte sie ihr Kuchenstück aus, biss herzhaft hinein, sah nach oben zu Dora, die nach wie vor dastand, und streckte ihr einen Daumen entgegen. Erst jetzt, zufrieden mit dieser Reaktion, zog sich die wachsame Mama zurück. »Mhh, der ist wirklich gut!«, murmelte Polina mit vollem Mund und fühlte sich besser, was das ehrliche Lächeln in ihrem Gesicht bestätigte.

      Auf diese Worte hatte Anna gewartet. »Das freut mich.« Sie holte ihr Stofftierbärchen aus ihrer Rocktasche, setzte es sich in den Schoß und begann zu schaukeln. »Auf jeden Fall brauchen wir noch ein drittes Haus, aber ein kleineres, damit Misha Masha drinnen wohnen kann. Dort kann sie den ganzen Tag machen, was sie am liebsten macht, nämlich naschen, richtig, Misha?«

      Ja, genau richtig!

      Die eineinhalb Stunden vergingen unbemerkt und viel zu schnell, wie meistens, wenn die beiden besten Freundinnen zusammen waren. In fünfzehn-Minuten-Abständen prüfte Feodora, ob es ihren Mädchen gutging, was Anuschka und Polina die ersten beiden Male noch bemerkten und mit Zurückwinken honorierten, später aber nicht mehr beachteten. Dafür waren die Tiere, Fabelwesen und vielleicht sogar Prinzen, die sich in ihrem verwunschenen Wald tummelten, zu spannend gewesen.

      Erst als Iwan ihnen auf einem der vier Wege entgegenspazierte, die zwischen den vier Blockbauten der Puschkin-Siedlung ein Kreuz bildeten und in deren Mitte der Spielplatz lag, sah Anuschka wieder hoch zu ihrer Mama, die ihr mit heftig winkenden Handbewegungen deutete, nach oben zu kommen. Wieso diese Blocks von den Anwohnern als Puschkin-Blocks bezeichnet wurden, das wussten sie selbst nicht mehr so genau, aber es ging das Gerücht um, dass ein Nachkomme des berühmten Dichters Alexander Sergejewitsch Puschkin hier gewohnt haben soll.

      »Essenszeit, Polina. Ich muss nach oben.«

      »Hallo, Zwerge«, rief Iwan von weitem.

      »Was zum…«, begann Polina zu fluchen. Iwan wankte, hielt eine in einer Papiertüte eingewickelte Flasche in der einen Hand und in der anderen nichts.

      »Iwan! Du hast gesagt, dass du etwas zum Essen mitbringst! Und was ist das?« Sie ging zu ihrem Bruder, riss ihm die Flasche aus der Hand und roch daran. »Wodka? Spinnst du? Das darfst du nicht.«

      Iwan grinste sie betäubt und gleichgültig an, ohne etwas zu sagen. Polina zögerte kurz, ihre Oberlippe zuckte einmal, dann schmierte sie ihm eine Ohrfeige – und was für eine.

      »Aua!«, schrie er, mit einer Gesichtshälfte roter als der anderen.

      »Du kleines Arschloch! Du wirst jetzt wieder zurückgehen und uns etwas zu essen kaufen, so wie du es