Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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Dann los.« Er riss sie hoch und zog sie auf die Tanzfläche. Dort legte er den Arm um ihre Hüfte und wollte sie führen. Die Bewegungen kollidierten und weigerten sich, zu harmonieren. Sie schubsten sich, lachten und behinderten andere Tänzer. Lautes Gejohle aus der Nähe drang zu ihnen. Mara schwitzte und versuchte, sich auf sein Tempo einzulassen, aber dann war die Musik vorüber.

      »Ich habe Durst«, stammelte sie und erst jetzt sah sie, dass Manfreds Kumpels in den Uniformen der Waffen-SS am Rand der Tanzfläche standen und feixten. »Üben, üben«, riefen sie. »Das schafft ihr«, johlte der zweite und der dritte: »Hübsche Dame, wenn Sie erfahrene Führung brauchen, fragen Sie mich.«

      Mara lachte, langsam wuchs ihr Selbstbewusstsein. »Ich kann Foxtrott, aber du wohl nicht!«, sagte sie frech zu Manfred. Die Jungs hatten das gehört und lästerten laut. Sie winkten ihre Freundinnen zu sich. Die Kleine würde es Manfred geben, dass es sich gewaschen habe, zogen sie ihn auf. Die Stimmung war fabelhaft.

      »Doch«, rief der gegen die ersten Klänge des nächsten Liedes an. »Kann ich. Aber was du tanzt ist Slowfox, jetzt üben wir mal Quickstep.«

      Sie nahm die Herausforderung an und hielt mit. Sie beschleunigte die Schritte, die sie kannte und hüpfte bloß, wenn sie nicht weiterwusste und es war so oder so ein Heidenspaß. Außerdem, andere machten genau dasselbe, das sah auch nicht immer nach einem festen Muster aus. Manfred nahm sie in den Arm und drückte sie an sich, dann legte er ihn um ihre Hüfte und drehte sie zweimal um die eigene Achse, bis er sie wieder festhielt. Sie sah ihn an, von unten, denn er war einen guten Kopf größer. Seine Augen, die manchmal tagsüber hinter den dicken Brillengläsern gequollen und müde aussahen, glänzten jetzt fiebrig und erregt und voller Leben. Sie linste an dem Gestell vorbei gleich in seine Pupillen. Auf der Stirn perlten Schweißtropfen. Sie stieß ihn instinktiv ab und er zog sie wieder heran und auf diese unbeholfene Weise tanzten sie zu wunderlichen und wilden fremden Klängen.

      Mit dem Ende des Liedes drängte sie ihn zur Seite. »Jetzt müssen wir unbedingt was trinken«. Sie gingen zu ihrem Tisch und Manfred bestellte bei dem Kellner zwei Schoppen Wein. Mara wollte erst nicht, sie trank nie Alkohol. Dann beschloss sie insgeheim, einen Schluck zu probieren, aber sie mochte lieber vorsichtig sein. Sofort spürte sie die Wirkung. Ihr wurde warm und gleichzeitig auch fröhlicher zumute.

      Heftig stieß sie an seine Schulter. »Da, da, sieh doch!«, Manfred schaute in die angewiesene Richtung, aber er sah nichts Besonderes. »Na, die Blitzmädels meine ich doch.« Sie hatte die drei Mädchen entdeckt, die sie vor einiger Zeit in der S-Bahn gesehen hatte. Die durchquerten langsam den Raum, als suchten sie jemanden. Während sie vorübergingen, sagte Mara bewusst laut: »Schau mal, die hält Ausschau nach Lutz, der untreuen Tomate.« Dann tat sie hastig, als müsse sie ihre Fingernägel überprüfen. Manfred sah sie erstaunt an.

      Die drei blieben stehen. »Wen meinst du? Meinst du mich? Was weißt du von Lutz«, beugte sich eines der Mädchen fauchend zu ihr vor.

      »Hä?«, stellte Mara sich dumm. »Wer ist Lutz? Ich sprach von Trutz. Trutz, die untreue Tomate. Schutz, Trutz und so.« Sie kicherte laut, die Mädchen gingen konsterniert weiter.

      »Was ist mit dir?«, fragte Manfred leise, aber sie prustete nur.

      »Trutz und Lutz.« Ein neues Lachen.

      Er runzelte die Stirn. »Gott, du hattest doch nur einen Schluck!«

      »Ja, und jetzt nehme ich noch einen.« Sie wollte nach dem Glas greifen, das so gut wie voll war, aber Manfred stoppte sie, setzte es an seine Lippen und trank es halb aus.

      Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, bemerkte er: »Ich gehe mal austreten und schaue, ob ich einen Saft für dich bekomme, in Ordnung? Der Rest von dem Wein wird dir schon nicht schaden.« Dann stand er auf. Maras Enttäuschung verflog schnell. Er passte doch bloß auf sie auf und sie spürte ja, dass der Wein aufregende und ungewohnte Nebeneffekte hatte.

      So wild wie die Musik war, schwirrten ihr bald die Sinne. Wenn sie die Augen schloss, wähnte sie sich auf einem fremden Planeten voller Farben, Klänge und Licht. Ein akustisches Blumenmeer erblühte um sie herum, sie wandelte auf einem Grasteppich aus hellen Strahlen. Ihr war warm von innen und von außen und … das Herz wärmte sie wie ein kleines Heizöfchen. Welche Wirkung doch Alkohol haben konnte. Oh, der Wein. Da wollte sie gleich einen weiteren Schluck nehmen, bevor Manfred mit dem Saft käme.

      Sie fingerte nach dem Glas und öffnete die Augen. Vor ihr saß lächelnd ein junger blonder Mann in feldgrauer Ausgehuniform. Fein geschnittene Gesichtszüge und ausgesprochen volle Lippen über einem markanten Kinn füllten den Raum zwischen seinem weißen Hemdkragen und dem grauen Schiffchen, das er keck etwas schräg auf das Haupt gesetzt hatte.

      »Ach, du bist nicht Manfred«, stieß sie hervor.

      Er rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang und spielte Bedauern. »Nein, damit muss ich mich seit meiner Geburt abfinden, dass ich Helmut heiße.«

      »Oh, und wo ist Manfred?« Sie hörte sich dummes Zeug reden, aber die Atmosphäre um sie herum war so betäubend, der Wein berauschend – oder andersrum – dass ihr jede Schlagfertigkeit abging.

      »Ich kann Ihnen nicht helfen, junges Fräulein. Ich sah den leeren Stuhl und dachte, hier wäre etwas frei.«

      »Nein, ist es nicht. Hau ab«, tönte es von der Seite. Manfred war zurück, neben sich der Kellner, der neue Getränke brachte. Und Saft.

      Der Junge in Feldgrau erhob sich, bewegte die Hand zur Mütze und grüßte Mara. »Bin schon weg, einen schönen Abend noch.«

      »Einen schönen Abend«, sagte sie leise zurück. Dann trank sie einen Schluck und bemühte sich, in das Gespräch einzusteigen, das er mit ihr entspann, aber sie hörte gar nicht richtig zu. Dieser Junge … so hübsch, so fremd, so überraschend aufgetaucht war er, wie eine Fata Morgana.

      »Wen suchst du«, fragte Manfred spitz, nachdem ihm aufgefallen war, dass Mara abwesend schien und ihre Blicke durch den Raum schweifen ließ.

      »Ehm, deine Freunde. Die Jungs von der SS.«

      »Jemineh, die waren doch in Begleitung.« Er schmunzelte. »Die sind schon weg. Du verstehst?«

      Nein, tat sie nicht. Obwohl, wenn sie nachdachte, verstand sie jetzt schon. Und stellvertretend für deren Freundinnen errötete sie schweigend. Manfred spürte, dass etwas anders war, und fragte danach.

      »Die Listen heute«, log sie. »2. SS-Panzerdivision. Sauerland wollte, dass wir die Verluste schnell bilanzieren, weil die nach Frankreich verlegt werden zur Auffrischung. Auf dieser Liste ... da hätten die drei sein können.«

      Manfred nickte. »Lass uns nicht jetzt davon sprechen. Wir sollten lieber tanzen.«

      Sie gab sich einen Ruck und ging mit ihm auf die Tanzfläche. Er würde sie nach Hause bringen müssen. Wenigstens bis zum Fasanenplatz. Die letzten Meter sollte sie alleine schaffen. Dann war sie vor dummen Bemerkungen der Winklers sicher – oder dem starrenden Blick von Heinz, obwohl der wahrscheinlich bereits schlief. Wenn der überhaupt jemals schlief.

      Montag, 20. März 1944

      Feierabend. Endlich. Mara blätterte Zeitschriften durch und Herr Darburg bekam Besuch von dem hochgewachsenen Herrn, den sie schon einmal kurz hier gesehen hatte. Der ehemalige Botschafter in Moskau, wie sie nun wusste. Auch er hatte sie erkannt und sogar mit einem beiläufigen Nicken gegrüßt. Herr Darburg und sie hatten vorher über Büroarbeit gesprochen und sie hatte die Liebe zu ihrer Remington erwähnt, als der stattliche Herr herangetreten war.

      Der Fremde, Graf von der Schulenburg, hatte lächelnd gesagt, dass er Remington kenne, aber seine Lebenserinnerungen wolle er dereinst auf einer großen schwarzen Continental schreiben. Dann hatten sich die beiden nach hinten in den Laden zurückgezogen. Dort flüsterten sie. Mara konnte trotzdem fast alles hören.

      »Siehst du Wilhelm? Es ist so gekommen wie ich es vermutet habe. ›Operation Margarethe‹ macht