Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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ihn zu beruhigen. Er sei wichtig und erledige so viel, dass sie das nicht glauben wolle. Aber er hatte nur genickt und nichts gesagt und schnell seine Pause beendet. Er war so schüchtern und wirkte etwas unbeholfen hinter seinen dicken Brillengläsern und sein braver Mittelscheitel machte ihn erst recht nicht zum Draufgänger. Oft sah er sie nicht einmal direkt an.

      »Wieso müssen wir eigentlich selbst Listen aus einem Stammlager holen?«, fragte sie laut in den Raum. Da sonst niemand antwortete, erbarmte sich die Brünette, Frau Stucht.

      »Weil Postsäcke brennen, Kindchen!«

      Lange Augenblicke sahen Mara und die Frau sich an, während das Mädchen sich versuchte vorzustellen, was die andere genau meinte.

      Dann seufzte die Kollegin, als erwarte sie Mitleid. »Wenn Thüringen den Verlust von Abschriften bemerkt, fragen sie bei uns nach. Anscheinend ist eine Lieferung nach Saalfeld und Meiningen während der Angriffe am 9. März verloren gegangen. Also besorgen wir die aufs Neue.«

      »Aha. Danke.« Mara war zufrieden. Sie wünschte sich, dass die anderen sie langsam mal als Kollegin und nicht wie einen Fremdkörper behandelten. In die Pausen verschwanden die drei nach wie vor gemeinsam und nicht ein einziges Mal hatte man sie gefragt, ob sie vielleicht mitgehen wolle.

      Den Rest des Vormittags tippte Mara ihre Listen und bemerkte erst nicht die einsetzende Stille, nachdem die anderen längst in die Mittagspausen verschwunden waren. Sie war in Gedanken woanders, verdrängte die Lebensschicksale, die sie mit dem Übertrag von den Namen für die Angehörigen offiziell beendete und stellte sich eine Welt der Wissenschaft und der Entdeckungen vor. Und sie entschied, heute wieder einmal zum Bahnhof Zoo zu gehen und zu schauen, was es beim alten Darburg Neues gab. Oder wollte sie mal dem Tipp von Manfred folgen und den Kellerladen am Schlesischen Bahnhof suchen?

      »Mahlzeit«, erklang es fröhlich von der Tür.

      »Manfred! Du bist zurück.«

      Er blickte sich schnell um und schlüpfte in das Büro.

      »Hast du die Schokolade gefunden?«

      Ihre Stimme fühlte sich plötzlich belegt an und sie krächzte, daher nickte sie im Anschluss an ihre Antwort umso deutlicher. »Das war so nett von dir. Ich liebe Schokolade.« Das war ja nicht wahr, aber sie liebte seine Geste und nur das zählte.

      Er hob einen prallen Aktenordner. »Das habe ich holen müssen. Listen der Kriegsgefangenen. Ich erzähle es dir später.«

      Neugierig stand sie auf und ging zu ihm. »Lass mal sehen.« Sie spürte seine Körperwärme, als er neben ihr den Ordner aufschlug und sie zaghaft die eingehefteten Blätter hier und dort anhob. Es waren Listen wie die, die sie täglich bearbeitete.

      »Die leben alle noch?«

      Er lachte. »Natürlich. Es sind Kriegsgefangene. Wir geben dem Roten Kreuz regelmäßig Auskunft und die leiten das weiter.«

      »Und die erste Lieferung ist verbrannt?«

      Manfred sah sie fragend an.

      »Frau Stucht erwähnte sowas.«

      Er grinste. »Klar, kann sein. Aber ich glaube eher, dass die fehlgegangen sind. Kriegsgefangenenangelegenheiten gehen nicht nach Meiningen oder Saalfeld, sondern laufen über Torgau. Vielleicht hat da jemand nicht aufgepasst und die aus Genf haben nachgefragt. Wenn das Ausland sich muckt, spuren hier immer alle. Im schlimmsten Fall bekommt Genf eine doppelte Lieferung.«

      Mara nickte schweigend und blätterte durch die Akte. Sie bemerkte die fremdländischen Namen. ›Morrow‹, ›Beauvoir‹, ›Sandlock‹. Bei den deutschen Gefallenen stellte sie sich manchmal etwas vor über die Personen. Das war ganz leicht, wenn sie wenigstens die Heimatorte erkannte. Aber hier?

      »Das sind Kanadier«, sagte Manfred.

      »Oh, aber der da klingt französisch.«

      Manfred erklärte ihr, dass in Kanada die Vorfahren vieler Menschen aus England und aus Frankreich stammten und man dort heute noch beide Sprachen verwende. Das erstaunte sie.

      »Und Deutsch? Wo spricht man Deutsch?«

      Er lächelte müde. »Nur hier. Bis zum Weltkrieg sprach man in Amerika sehr viel Deutsch. Gerade in Neu York gab es sehr viele Deutschstämmige, die das im Alltag gesprochen hatten. Aber im Weltkrieg wurde es schwieriger für sie und sie stellten sich um.«

      »Das ist traurig«, murmelte sie und Manfred nickte.

      Sie entdeckte etwas anderes. »Da, das ist doch ein Deutscher!« Sie las: »Sam Goldstone. Nein, doch nicht. Ich dachte Goldstein. Aber das klingt hübsch.«

      Er zuckte die Schultern. »Vielleicht ein Jude.«

      »Ein Jude?«, entfuhr es ihr ohne gespielte Überraschung. »Wie kommt der denn dahin?«

      Unbewusst schüttelte er den Kopf. »Mara, Juden leben überall und manche werden Soldaten und kämpfen.«

      Sie nickte. Natürlich, der Gedanke war einleuchtend. ›Sam Goldstone‹, irgendwie kam ihr der Name bekannt vor.

      »Goldstein, Rothstein, Silberstein, Goldziher… alles jüdische Namen. Liest man doch überall. Geh mal ins Nikolaiviertel und sieh dir die Ladenschilder an. Wenn da noch welche sind.«

      »Aber sie klingen Deutsch«, beharrte sie.

      Er verdrehte die Augen, aber besann sich sofort wieder. Sie war ja fast noch ein Kind. »Das sind sie doch auch. Deutsche.« Er ließ die Liste sinken. Kein gutes Thema für eine Plauderei im Dienst.

      »Lass nochmal sehen«, sie griff nach den Unterlagen und suchte einen Namen, den sie leise vorlas: »Sam Goldstone«. Das wunderte ihn wohl. Ausgerechnet dieser Name auf einer vertraulichen Liste erregte ihr Interesse. Und dann klang er noch jüdisch. Er druckste herum. Anscheinend wollte er jetzt das Thema wechseln. Und tatsächlich.

      »Sag mal, Mara. Im Tauentzienpalast spielen sie heute nochmal Die Feuerzangenbowle. Hättest du Lust?«

      Ihre Miene hellte sich wieder auf. Film! »Natürlich, ja. Gerne«, dann wurde sie ruhiger. »Aber ich muss nach Hause, Vater weiß nicht wo ich bin und er hatte Frühdienst. Er würde sonst warten und das gibt dann Ärger.«

      »Das macht nichts. Ich kann dich abholen. Sagen wir um 19 Uhr?«

      »Nein, lieber treffen wir uns dort, es ist ja nicht weit. Oder am Bahnhof Zoo vor dem UFA-Palast

      Er nickte. »In Ordnung, ganz wie du willst. Bleibt’s beim Film?«

      Sie konnte nur breit strahlen. Er hob winkend den Ordner und schloss die Tür. Erst jetzt merkte Mara, dass sie hungrig war. Lächelnd schlug sie das Taschentuch auseinander und machte sich über die zwei großen Stücke Schokolade her. Als die drei anderen aus der Pause kamen, war längst nichts mehr übrig.

      ***

      Die Tage wurden zwar länger, aber jetzt, wenige Minuten nach 19 Uhr, war es noch immer dunkel. Ganz anders in der Nürnberger Straße. Gäbe es nicht die Tarnnetze, die über die Straßen gespannt waren, hätte man glauben können, es sei Frieden. Überall waren Menschen und auch einige Autos fuhren, vor allem Taxis und sicherlich manche Dienstfahrzeuge.

      Den Tauentzienpalast kannte sie, also wartete sie dort. Mara war schick zurechtgemacht. Wenn sie auch ein wenig fror, hatte sie sich doch für die dünne halblange Jacke entschieden sowie einen alten seidenen Schal, den sie um den Kopf geschlungen hatte. Dazu passten die silbernen Ohrringe, die sie nur selten benutzte, denn die stammten von ihrer Mutter. Vater hatte sie ihr vor einigen Monaten feierlich gegeben. Sie sei jetzt alt genug, sich adrett zu machen, hatte er gesagt. Ihr Herz schlug aufgeregt, wann immer sie an diesen Moment dachte. Sie waren schon ein gutes Pärchen, Paps und sie. Meistens jedenfalls.

      Das Kino, direkt neben dem Femina-Palast, war gut besucht. In großen Lettern wurde die Feuerzangenbowle beworben und verkündet, dass Heinz Rühmann mitspiele. Manfred erblickte sie noch nicht. Immer wieder sah sie sich um. Im Femina