Mit Weite im Herzen. Ronja Erb

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Название Mit Weite im Herzen
Автор произведения Ronja Erb
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742749482



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mir saß, musterte mich mit besorgtem Blick und fragte nach einer Weile: „Haben Sie Flugangst? Sie wirken so aufgeregt.“

      Ich zögerte einen Moment und nickte dann. Sie tätschelte mir die Hand, und ich spürte, wie ihre Berührung alle Barrieren in mir aufbrechen ließ. Die Kraft und die Zuversicht, die mich in den vergangenen Wochen getragen hatten, waren verpufft. Tränen schossen mir aus den Augen, und ich wollte mich am liebsten an diese alte Dame schmiegen, wie ein Enkelkind an seine Großmutter. Sie redete beruhigend auf mich ein und wiederholte mehrmals, dass sie früher auch unter Flugangst gelitten habe und mich daher gut verstehen könne. Ich nickte immer wieder und war froh, für mein Verhalten eine simple Erklärung zu haben. Ihre sanfte Stimme und ihre Nähe beruhigten mich, sodass ich mich nach einer Weile wieder gefasst hatte.

      Als wir uns am Ende des Fluges voneinander verabschiedeten, hatte ich das Gefühl, sie bereits Jahre zu kennen.

      Kapitel 4

      „Sprechen Sie Deutsch?“, fragte mich jemand. Nur langsam drang die Frage in mein Bewusstsein. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, aber die Lider fühlten sich schwer an. Ich nahm eine drückende Hitze wahr. „Oder Englisch?“, wurde ich wieder angesprochen, und jetzt hörte ich auch ganz viele andere Stimmen und sogar Musik.

      Ich lag auf etwas Hartem, Kaltem. Jemand schob mir ein kleines Kissen unter den Kopf. Die Kühle lies mich langsam wieder zu Bewusstsein kommen. Als ich die Augen öffnete, sah ich, erst unscharf und dann immer klarer, viele Menschen, die um mich herumstanden und durcheinanderredeten. Ein Mann hielt meine Hand und fragte mich nach meinem Namen. „Helen Kramm“, antwortete ich.

      „Ich bin Nahas Utbiteb, ich bin Arzt“, sagte er auf Englisch. „Wo kommen Sie her?“, fragte er.

      „Aus Deutschland.“

      „In Ordnung, dann können wir deutsch miteinander sprechen“, sagte er und fügte auf Deutsch hinzu: „Sie sind in Namibia, genauer gesagt in Windhoek. Sie hatten einen Kreislaufzusammenbruch. Sie brauchen ärztliche Hilfe. Sind Sie schwanger?“

      „Ja“, sagte ich und fasste an meinen Bauch. „Ist was mit meinem Kind?“

      „Das weiß ich nicht, wir müssen Sie untersuchen, dann können wir mehr sagen. Ich werde Sie mit in meine Praxis nehmen. Heute ist der einundzwanzigste März, der Nationalfeiertag in Namibia, fast alle Arztpraxen sind geschlossen, und auch die Krankenhäuser haben heute nur eine Notfallbesetzung. Daher ist es besser, wenn Sie mit zu mir kommen.“

      Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fürchtete mich zwar ein bisschen, aber der Mann sah vertrauenerweckend aus und hatte ein sehr freundliches Gesicht, sodass ich zustimmte. Ich wollte aufstehen, aber er sagte, dass ich besser liegen bleiben solle. Er sprach mit ein paar von den Leuten, die um mich herumstanden, ich konnte aber nicht verstehen, was er sagte, denn er unterhielt sich mit ihnen in einer mir unbekannten Sprache, und außerdem wurde der Lärm, der von der Straße hereinkam, immer lauter.

      Ich sah, wie jemand mit einem großen Tuch kam, einer Tischdecke oder einem Laken. Es wurden an allen vier Ecken Knoten hinein gemacht, und vier Männer hielten das Tuch anschließend wie eine Trage. Einige andere Männer hoben mich an und legten mich auf das Tuch, das nach unten sackte, mir aber, bevor ich den Boden berührte, Halt gab. Ich hörte, wie der Mann, der sich mir als Arzt vorgestellt hatte, etwas zu den anderen Männern sagte.

      Angeleitet von ihm, trugen sie mich auf die Straße hinaus und schlängelten sich durch die Menschenmassen. Die Menschen schienen einem Umzug zu folgen, denn sie bewegten sich singend und tanzend alle in die gleiche Richtung, und immer wieder hörte ich Musik und Fanfaren. Ich sah unendlich viele Beine, die rechts und links an mir vorbeistoben. Ich legte meine Arme fest um meinen Bauch, da ich fürchtete, in dem Gewühl einen Tritt abzubekommen. Ich versuchte zu fühlen, ob sich das Baby bewegte, aber es war nichts zu spüren. Panik überkam mich, Schweißtropfen liefen an meiner Stirn runter, und ich rang nach Luft.

      Die Männer legten mich auf den Boden, aber auf Anweisung des Arztes hoben sie das Tuch sofort wieder an. Der Arzt trat an mich heran und reichte mir eine Flasche Wasser. „Nehmen sie einen Schluck, das wird Ihnen guttun“, sagte er. Sanft sprach er auf mich ein und bat mich, mich zu beruhigen.

      „Mein Baby“, sagte ich, „mein Baby.“

      Er legte mir eine Hand auf den Bauch und die andere auf die Stirn. „Ihr Kopf ist heiß“, sagte er, „es scheint, als haben Sie Fieber. Sie müssen unbedingt trinken, die Hitze und das Fieber werden Sie sonst noch einmal kollabieren lassen. Trinken Sie die Flasche leer. Wir müssen nur noch da vorne um die Ecke gehen, dann sind wir in meiner Praxis.“

      Unsere kleine Karawane setzte ihren Zug durch die Menschenmassen fort. Ein paar Straßen weiter gingen wir durch ein Tor und kamen in einen Hinterhof, in dem es still und friedlich war. Die Stimmen und die Musik drangen bis hierher nur noch in gedämpfter Lautstärke. Die Männer legten mich auf eine Liege, die in einem, von dem Hof abgehenden Räumen stand.

      Der Arzt hatte sich einen Kittel angezogen und kam nun mit allerlei Gerätschaften an meine Liege getreten. Wieder legte er mir seine Hand auf die Stirn und bat mich, ein Thermometer in den Mund zu nehmen. Während er Fieber maß, fühlte er meinen Puls und hörte mein Herz ab. Er schaute sich das Thermometer an und sagte: „Sie haben tatsächlich Fieber. Ich denke, Sie haben bereits sehr viel Flüssigkeit verloren, ich werde Ihnen eine Infusion legen.“

      Als er die Nadel einstach, wimmerte ich kurz, und er tätschelte mir beruhigend über die Hand, anschließend legte er mir das Blutdruckmessgerät an. „Ihr Kreislauf ist schon wieder relativ stabil“, sagte er, „jetzt wollen wir mal sehen, was das Baby macht.“ Er tastete meinen Bauch ab und zog dann ein Ultraschallgerät zu sich heran, lange fuhr er damit über meinen Bauch und schaute auf den kleinen Bildschirm, der das Ultraschallbild anzeigte. Beunruhigt folgte ich seinem Blick und versuchte, seine Mimik zu deuten.

      „Dem Kleinen scheint es gut zu gehen“, sagte er schließlich.

      Ich strahlte über das ganze Gesicht und fragte zögernd: „Dem Kleinen?“

      „Ja“, sagte er, „wussten Sie noch nicht, dass es ein Junge wird?“

      „Nein“, antwortete ich.

      „Es sieht so aus, als seien Sie in der einundzwanzigsten Schwangerschaftswoche“, sagte er. „Wie lange sind Sie denn schon in Namibia?“

      Ich überlegte und stellte fest, dass ich mich gar nicht richtig daran erinnern konnte, was passiert war. „Ich weiß es nicht“, sagte ich zögernd, „aber ich glaube nicht lange.“

      „Wo wollten Sie denn hin, bevor Sie in diese Bar gegangen sind, wo Sie dann den Kreislaufzusammenbruch hatten?“, fragte er weiter.

      Wieder überlegte ich. Langsam kam die Erinnerung zurück und mir fiel ein, dass ich aus dem Flugzeug gestiegen war und ein Taxi genommen hatte. „Was habe ich dem Taxifahrer gesagt, wo ich hin will?“, fragte ich mich laut.

      „Wahrscheinlich wollten Sie in ein Hotel“, vermutete der Arzt. „Sie haben jedenfalls zwei Koffer dabei“, er deutete mit dem Finger auf mein Gepäck, das in der Ecke stand und mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war.

      „Ja“, antwortete ich, „natürlich ins Hotel.“

      „Wie auch immer“, sagte er, „Sie können jetzt ohnehin nicht allein in einem Hotel bleiben. Sie müssen sich erst einmal erholen, das Fieber deutet auf einen Infekt hin. Ich biete Ihnen an, dass Sie sich in meinem Haus ausruhen. Meine Frau und ich würden uns freuen, Sie bei uns als Gast aufzunehmen, und die ärztliche Versorgung hätten Sie auch noch gleich mit dabei“. Als er das sagte, guckte er mich aufmunternd an.

      Ich sah ihn an, die dunkle Haut seines Gesichts war ganz glatt und das, obwohl er schon ziemlich alt zu sein schien, denn er hatte weiße Haare, die sich in kurzen kleinen Locken auf seinem Kopf kräuselten. Ich spürte seine Hand auf meiner und sagte: „Gerne, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht.“

      „Nein, ganz und gar nicht.“