Mit Weite im Herzen. Ronja Erb

Читать онлайн.
Название Mit Weite im Herzen
Автор произведения Ronja Erb
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742749482



Скачать книгу

war verschwunden.

      Lars hatte mich aufgefordert, alles einzupacken, was ich behalten wollte und also nicht entsorgt werden sollte. Lange war ich schweigend durch die Räume gegangen und hatte anschließend fünf Kartons gefüllt.

      Als ich mich nach meinem plötzlichen Lachanfall wieder etwas gesammelt hatte, stieg ich aus dem Bett und holte das Backblech in Herzform aus dem Küchenschrank. Meine Mutter hatte darin oft Kuchen für mich gebacken, und die Kuchenform war eine der Dinge gewesen, die ich aus dem Haus meiner Eltern mitgenommen hatte. Ich fragte mich, ob ich auch mal damit für mein Kind Kuchen backen würde, für dieses Kind in meinem Bauch. In der achten Woche musste ich sein. Ganz genau wusste ich das aber nicht. Meine Periode war seit dem Unfall nicht mehr regelmäßig gekommen, daher hatte ich zunächst auch gar nicht bemerkt, dass ich schwanger war. Da wuchs nun ein Kind in mir heran, und ich fragte mich, ob das der Grund für meine wiedergefundene Lebensfreude war. Doch ich verneinte das, denn bis jetzt hatte ich die Schwangerschaft gar nicht richtig wahrgenommen.

      Nachdem mein Frauenarzt mir die Schwangerschaft vor zwei Wochen bestätigt hatte, war ich nach Hause gegangen, als hätte er mir gesagt, dass ich eine Grippe habe. Ich hatte mich irgendwie unbeteiligt gefühlt, so wie ich mich seit dem Unfall an meinem ganzen Leben unbeteiligt gefühlt habe. Wenn ich auch sofort wusste, wer der Vater war und an welchem Abend – dem einzig möglichen – es passiert sein musste, so war alles bislang abstrakt geblieben. Doch jetzt, wo das Korsett der Trauer, das mir in den letzten Monaten jeden Atemzug schwer gemacht hatte, von mir abgefallen war, war ich gewillt, mich auf das Kind einzulassen.

      Kapitel 2

      Ich zog Bilanz. Ich war einunddreißig Jahre alt, schwanger, ohne Mann und Eltern, und lebte in einer Stadt, in der ich mich nicht mehr wohlfühlte. Ich fragte mich, was ich tun sollte, und begriff zum ersten Mal seit dem Unfall, dass eine Zukunft vor mir lag, ein Leben, das erst zum Teil gelebt war, und mich heute mit allem Nachdruck daran erinnerte, dass es gelebt werden wollte. Aber was sollte ich mit den kommenden Jahren anfangen? Im vergangenen Jahr war mir Zeit als eine sich zäh dahinziehende Masse erschienen, die sich so schwer durchschreiten ließ wie ein Sumpf. Nun stellte Zeit jedoch auf einmal wieder etwas Positives dar.

      Ich überlegte, was mich in Hamburg hielt.

      Nicht viel, war die Antwort. Es schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich eventuell wegen des Vaters meines Kindes hierbleiben sollte. Oder sollte ich ihn lieber nur „Erzeuger“ nennen? Denn ich hatte ihm bisher nichts von der Schwangerschaft erzählt und hatte auch nicht vor, das zu tun.

      Was hielt mich sonst noch in Hamburg?

      Die Arbeit war es auch nicht. Nachdem im Büro ein neuer Chef die Leitung übernommen hatte, wehte ein rauer Wind durch die Büroräume und unter den Kollegen war die Stimmung angespannt. Das gute Arbeitsklima, das bislang geherrscht hatte, gehörte der Vergangenheit an. Mein neuer Chef hatte auch kein Verständnis für meine mangelnde Konzentration bei der Arbeit und mein Zuspätkommen, wenn ich mal wieder eine Nacht durchgeweint hatte und erst in den frühen Morgenstunden in einen tiefen, bleiernen Schlaf gefallen war und den Wecker überhört hatte.

      Wenn ich aber nicht hierbleiben wollte, wo sollte ich dann hin? Ich stand auf und stellte mich vor die Weltkarte, die in Rolfs Arbeitszimmer an der Wand hing. Sein Arbeitszimmer hatte ich seit seinem Tod nur selten betreten. Ein Mal hatte ich den Entschluss gefasst, es auszuräumen, hatte dann aber, nachdem ich die ersten Stapel Bücher aus dem Regal gezogen hatte, alles wieder zurückgestellt. Seit Rolf dabei gewesen war, seine Habilitation zu schreiben, hatte sich sein Arbeitszimmer mehr und mehr mit Büchern gefüllt, und einige lagen noch aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch, so als hätte er gerade erst darin gelesen. Er, der erfolgreiche Architekt, der seine Visionen an die Studenten weitergegeben hat. Ich habe ihn dafür bewundert. Er hatte in allem, was er getan hat, so sicher gewirkt, und ich hatte mich, nicht nur weil ich sehr viel jünger war als er, oft wie ein kleines Mädchen an seiner Seite gefühlt. Er, der nicht mehr altern würde, der für immer zweiundvierzig Jahre alt blieb. Der Gedanke, dass ich eines Tages älter sein würde als er, kam mir komisch vor. Auf einmal fand ich es schade, dass es kein Grab gab, an das ich treten konnte, dann, wenn ich mal älter sein würde als er, und zu ihm sagen könnte: „Schau, was für ein großes Mädchen aus mir geworden ist.“

      Rolfs Asche ist im Meer verstreut worden, so hatte er es sich gewünscht. Das hatte er mir auf einem Bootsauflug nach Norderney gesagt. Es war einer der ersten Ausflüge gewesen, die wir machten, nachdem wir nach Hamburg gezogen waren. „Wenn ich mal sterbe, dann möchte ich, dass hier meine Asche verstreut wird“, hatte er fröhlich gesagt. Damals war uns das noch so weit weg vorgekommen, dass wir heiter und ohne Schwere darüber reden konnten.

      So hatten wir, Lars und ich, es dann auch gemacht. Besser gesagt, es war Lars gewesen, der alles für die Seebestattung organisiert hatte. Wir und einige Freunde von Rolf sowie eine Tante von ihm waren dabei gewesen. Rolf ist als Adoptivkind aufgewachsen, doch das Verhältnis zu seinen Adoptiveltern ist nach einem Familienstreit äußerst angespannt gewesen. Seine Eltern sind nicht mal zu unserer Hochzeit gekommen.

      Lars hatte Rolfs Eltern angeschrieben, um ihnen den Termin der Beerdigung mitzuteilen. Als Antwort hatten sie nur eine Beileidskarte geschickt, auf der sie sich dafür entschuldigten, nicht kommen zu können.

      Sicher auch wegen des schlechten Verhältnisses zu seinem Adoptivvater war Rolfs Verhältnis zu meinem Vater besonders eng gewesen. Mein Vater, der vor seiner Pensionierung auch Architekt gewesen war, hatte in Rolf den idealen Gesprächspartner gefunden. Meine Mutter hat dazu die perfekte Ergänzung abgegeben, indem sie die beiden liebevoll mit Kaffee und kleinen Leckereien umsorgte, während sie in ihre stundenlangen Diskussionen vertieft waren. Mein Vater hatte in Rolf den Sohn gefunden, den er sich immer gewünscht hat. Bei aller Liebe zu mir, hätte er immer auch noch einen Sohn haben wollen. Meine Mutter hat nach meiner Geburt ein Kind verloren und anschließend nie wieder den Versuch unternommen, schwanger zu werden. Mein Vater war sich damals sicher, dass es ein Junge war, obwohl das gar nicht untersucht worden war, und hat diesem „Sohn“ immer nachgetrauert.

      Während Rolf und mein Vater in ihre Gespräche vertieft waren, habe ich mit meiner Mutter in der Küche gestanden und mich mit ihr unterhalten. Auch wenn ich es zuweilen gehasst habe, dass die beiden nachmittagelang diskutiert und geraucht haben, bis blaue Rauchschwaden durch die Ritzen der verschlossenen Zimmertür drangen, war ich doch dankbar für die Möglichkeit, viel Zeit mit meiner Mutter verbringen zu können. Zwischen uns war dadurch wieder eine große Nähe entstanden, die wir so, nachdem ich als junge Frau von zu Hause ausgezogen war, nicht mehr gehabt hatten.

      Als ich jetzt in Rolfs Arbeitszimmer stand, in den aufgeschlagenen Büchern blätterte und sie dann alle zuklappte und der Staub durch den Raum wirbelte, hatte ich plötzlich das Gefühl eines totalen Neubeginns. So als würde man auf einem Brettspiel die Spielfiguren wieder an den Startpunkt stellen und den Würfel für eine neue Partie werfen. Anstatt eines Würfels nahm ich den Dartpfeil, der in der Weltkarte steckte, die an der Wand hing, und warf den Pfeil auf die Karte. Rolf und ich hatten das aus Jux so gemacht, wenn wir eine Reise unternehmen wollten. Nur ein Mal waren wir dann auch tatsächlich dorthin gefahren, wo der Pfeil getroffen hatte. Es war eine Chinareise gewesen, das war in unserem zweiten gemeinsamen Jahr. Damals hatte die Weltkarte noch in Rolfs Wohnung in Offenburg gehangen.

      Die Karte hatte bereits viele winzige kleine Löcher, doch wo jetzt der nächste Einstich hinzugekommen war, wusste ich noch nicht, denn ich hielt meine Augen fest geschlossen. So hatten Rolf und ich auch immer vor der Karte gestanden, die Augen fest zusammengekniffen und den Atem anhaltend. Während ich nun wieder so dastand, nahm ich mir fest vor, ja ich schwor mir sogar, dass der Ort, den der Pfeil getroffen hatte, meine Zukunft sein sollte. Voll Enthusiasmus hob ich die rechte Hand zum Schwur und sagte laut: „Dieser Ort wird mein zweites Leben.“ Erschrocken über so viel Überschwang, korrigierte ich mich und sagte schnell: „Dieser Ort wird der Ausgangspunkt für mein neues Leben.“ Ich hielt mir dabei bewusst offen, ob ich damit bloß einen Urlaub meinte oder mehr. Ich traute mich nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst davor, dass der Ort, auf den die zufällige Wahl gefallen war, so schrecklich oder uninteressant war, dass meine neu gewonnene