Schweben auf Zuckerwatte. Patricia Clara Meile

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Название Schweben auf Zuckerwatte
Автор произведения Patricia Clara Meile
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742728821



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Mangelernährung und Abmagerung. Das erklärte wahrscheinlich auch Daliahs zerbrechliche Erscheinung, ihre Dünnhäutigkeit und ihre häufigen Grippen und Erkältungen. Ständig klagte sie, sich kränklich zu fühlen. Aufgrund von Sniffen werden die Nasenscheidewand und Nasenschleimhäute stark beschädigt. Darüber hinaus kann bei Frauen der Monatszyklus beeinträchtigt werden. Das Verhalten ändert sich, geprägt durch stereotype, also sich stetig wiederholende, Handlungen und Überlegungen, zum Beispiel Mümmelbewegungen im Mundbereich oder ständiges Öffnen immer derselben Schublade. Oft drehten sich Daliahs Gedanken im Kreis und ließen ihr keine Ruhe.

      Zwar steigert Speed das Sexualbedürfnis, nicht aber unbedingt auch die Beachtung von Safer-Sex-Praktiken, wodurch die Wahrscheinlichkeit für sexuell übertragbare Krankheiten, wie beispielsweise HIV, ansteigt. Daliah erzählte mir, dass sie zu Hause mit ihrem Freund, trotz Uneinigkeiten, mindestens einmal am Tag, wenn nicht mehr, Sex gehabt hatte. Und sie waren – wohl gemerkt – nicht erst ein paar Monate zusammen. Ich staunte zugegebenermaßen leicht neidisch. Das hatte ich so noch nie gehabt. Außerdem besuchten sie regelmäßig Fetischpartys à la Marquis de Sade mit Latex, Lack und Leder, an denen auch Partnertausch praktiziert wurde – wie aufregend! Ihr Freund war sehr tolerant und experimentierfreudig. Sie konnte ihren Gefallen an anderen Männern frei äußern, ohne dass dies eine Szene mit sich gezogen hätte. Sie selber war da schon empfindlicher. Dem Hoch folgt bekanntlich ein Tief, sodass Depressionen bei Daliah ebenfalls an der Tagesordnung waren. Regelmäßig fühlte sie sich leer, taub und lustlos. Psychotische Symptome, also Realitätsverlust, wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen, verfolgen Dauerkonsumenten. Selbst nach Absetzen des Konsums können die Psychosen anhalten.

       Ich hatte Zeit. Zu viel Zeit. Wir sind doch immer gehetzt. Nie ist Zeit. Zu Hause war es immer so gewesen. Langeweile war für mich schon seit Ewigkeiten ein Fremdwort gewesen und ich hatte mir oft gewünscht, diesen Zustand wieder einmal zu erfahren. Nun hatte ich zu viel. Zu viel von mir. Ich fühlte mich bisweilen bedrängt und einsam zugleich.

      Wenigstens war ich froh, Daliah kennengelernt zu haben. Wir waren uns schnell sympathisch gewesen, beinahe Freundschaft auf den ersten Blick oder auf den zweiten zumindest. Uns verbanden zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch etliche Gegensätze. Es war irgendwie genau die richtige Mischung aus beidem.

      Abendstunde im Speisesaal. Alle mussten sagen, wie es ihnen ging. Das war anstrengend. Dazu der abgestandene Geruch von Essen vermischt mit Desinfektionsmitteln – scheußlich! Eine war sehr aggressiv. Sie sagte mehrmals, dass sie übermorgen abgeholt würde und nicht mehr hier sein wollte. In Wahrheit blieb sie noch länger. Eine andere wippte unentwegt mit dem Oberkörper. Ich sagte nur, dass ich höllische Kopfschmerzen hatte. Wie sollte mir das hier helfen? Wie konnte eine Abhängigkeit überhaupt geheilt werden? Ausreden konnte ich sie mir nicht mehr. Es dauerte noch, bis ich offener wurde, mich nicht mehr versteckte und auch die Hilfe der Gruppe und der Therapeuten annehmen konnte. Während der ersten Woche, musste ich die ständige Versuchung, mich davonzumachen, geradezu niederkämpfen. Ungeachtet der zig Angebote, schleppte jeder an seinen Problemen wie an einem toten Pferd, das sich unmöglich ignorieren ließ. Für mich war am schlimmsten, dass ich unbedingt abhauen wollte, weg von diesem Ort, weg aus der Schweiz, aus der Welt, von mir. Das Leben kostete zu viel Kraft. Es lohnte sich nicht, morgens aufzustehen und zu sehen, wie die Stunden sich ohne ein Ziel dahinschleppten. Schlafen. Sterben. «Nicht nachdenken, Lena, versuch dich zu beschäftigen», rieten mir die Betreuer und fügten ermutigend hinzu: «Diese negative Phase ist normal und geht bald vorbei.»

      Da ich koffeinhaltige Schmerzmittel eingenommen hatte und überdies unter Depressionen litt, war ein stationärer Entzug aus Sicht der Ärzte allerdings absolut sinnvoll. Koffein verstärkt, insbesondere bei akuten Schmerzattacken, die Wirkung von Schmerzmitteln wie Paracetamol und Ibuprofen. Bei ständigen oder wiederkehrenden Beschwerden sind die Kombipräparate jedoch umstritten. Die belebende Wirkung des Koffeins kann dazu verleiten, die Tabletten öfter und länger einzunehmen, als angeraten. Dann steigt das Risiko für unerwünschte Wirkungen der Schmerzmittel, beispielsweise auf die Nieren oder den Verdauungstrakt. Weitere bekannte unerwünschte Wirkungen sind Schlaflosigkeit, Unruhe, Herzrasen und Zittern. Wenn es den persönlichen Vorlieben entspricht, trinkt man, bei starken Schmerzen, zum Medikament lieber eine Tasse Kaffee. Nimmt man das Koffein nämlich über eine Tasse Kaffee zu sich, ordnet man die belebende und aufmerksamkeitssteigernde Wirkung des Koffeins nicht dem Schmerzmittel zu, sondern dem Kaffee. Man wird also nicht dazu verleitet, die Tabletten wegen der belebenden Wirkung öfter oder länger einzunehmen, als im Beipackzettel empfohlen. Beim Kaffeetrinken steuert man die Koffeinzufuhr selbst, und zwar unabhängig von der Schmerzmitteleinnahme. Abends oder wenn man sich schonen möchte, ist die belebende Wirkung nicht erwünscht. Dann sollte man auf koffeinhaltigen Präparate verzichten.

      Der starke Entzugskopfschmerz nach der abrupten Absetzung der Medikamente war während der ersten drei Tage unfassbar. Ich reagierte überdurchschnittlich empfindlich, konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Es war unglaublich, wie elend einen das Weglassen eines Stoffes fühlen lassen konnte. Mein Kopf pochte und spannte, als würde er nächstens explodieren. Die verwirrten Nervenenden ließen knisternde Stromblitze durch meinen Schädel zucken. Ich glaubte, ich könnte es nicht eine Sekunde länger aushalten. Keine Position und keine Umgebungsfaktoren vermochten Linderung zu bringen. Am liebsten hätte ich sofort wieder aufgegeben und zu den Tabletten gegriffen. Alleine, zu Hause, wo alles greifbar war oder rasch besorgt werden konnte, hätte ich es nie und nimmer geschafft. Zum Entzugskopfschmerz kamen Schwindel und Übelkeit bis zum Erbrechen. Ferner hatte ich weitere körperliche Begleitsymptome, wie Hitzewallungen, Herzrasen, Schlafstörungen, Unruhe, Angstzustände und Nervosität.

      Ab dem vierten Tag wurden die Kopfschmerzen endlich schwächer und die elektrischen Störimpulse in meinem Schädel seltener. Später würde ich ein Kopfschmerztagebuch führen müssen, um meine Medikamenteneinnahme zu kontrollieren. Für alle Schmerzmittel gilt, dass nicht mehr als zehn bis zwölf Einnahmedosen pro Monat überschritten werden sollten. So paradox es klingen mag: Die Medikamente, die gegen den Kopfschmerz eingenommen werden, können ihrerseits auch wieder die Ursache dafür sein. Jener Kopfschmerz nennt sich «medikamenteninduzierter Kopfschmerz». Er tritt dann auf, wenn die Schmerzmittel zu häufig und ohne ärztliche Kontrolle eingenommen werden. Die Mediziner erklärten mir dies wie folgt: Die Schmerzrezeptoren gewöhnen sich an den ständig überhöhten Wirkstoffspiegel im Körper und stumpfen ab - immer mehr Tabletten werden benötigt, um die Schmerzen zu beseitigen. Wird das Medikament abgesetzt, verstärken sich die Schmerzen bis zur Unerträglichkeit. Ein gut durchgeführter Entzug kann zur kompletten Durchbrechung des Teufelskreises führen. Wichtig ist, dass sich nach erfolgreich überstandenem Entzug eine kompetente Behandlung der ursprünglichen Kopfschmerzerkrankung anschließt, um Rückfälle zu vermeiden. Das war der Punkt, an dem ich noch zweifelte. Das hatte bisher kein Arzt geschafft.

      Während der Entgiftung schaute Stationsleiterin Martha immer wieder nach mir und wir kamen ins Gespräch. In dieser schwierigen Phase stand sie mir rund um die Uhr zur Verfügung. Den ganzen Aufenthalt in der über Klinik blieb sie für mich eine wichtige Ansprechpartnerin, die mir half, den Zweck der Therapien zu verstehen, daran mitzuarbeiten und sie anzunehmen. Martha hatte eine freundliche, herzliche Art und sie war eine intelligente, starke junge Frau. Sie vereinte in sich genau jene Eigenschaften, die es für diese Arbeit brauchte, wenn sie es auch zu Hause nicht immer einfach hatte. Vor rund zehn Monaten war sie Mutter einer kleinen Tochter geworden. Ihr Mann unterstützte sie leider nur wenig mit Kind und Haushalt. Mit ihrem guten Job war sie somit nicht nur Hauptverdienerin, sondern musste zusätzlich auch zu Hause noch alles organisieren und im Griff haben. Zum Glück passten ihre Eltern auf das Töchterchen auf, wenn sie in der Klinik war. Ihnen konnte sie blind vertrauen.

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