Schweben auf Zuckerwatte. Patricia Clara Meile

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Название Schweben auf Zuckerwatte
Автор произведения Patricia Clara Meile
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742728821



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Strukturen unterworfen. Es musste alles nach genauem Plan ablaufen; wie ich meinen Haushalt führte, wie ich meine Körperpflege vornahm und wie ich mich im Normalzustand, anderen Menschen gegenüber verhielt. Außerdem neigte ich generell zu Maßlosigkeit im Konsum, sei es bezüglich Essen, Fasten oder Kaufen. Zu Hause, als Kind hatte ich mit Taschengeld gelernt, mein Geld einzuteilen und immer etwas auf der hohen Kante zu haben. Im Erwachsenenalter hatte ich diese Fähigkeit, mit steigendem Lohn und gleichzeitig wachsender Unzufriedenheit, irgendwann wieder verloren. Ab einem gewissen Punkt wusste ich kaum noch, wie ich meine Rechnungen begleichen sollte. Ich machte mir am laufenden Band Gedanken darüber. Das bedeutete logischerweise einen zusätzlichen Stress- und Unruhefaktor.

      Auf dem Gang vor dem Zimmer ging ein junger Mann auf und ab. Das hatte er bereits getan, als ich ankam – vor drei Stunden. Ich hatte das Gefühl, er kam jetzt häufiger an meiner Tür vorbei und drehte schnell wieder um. Dann ging er ganz langsam an der offenen Tür vorbei, schaute herein und mich direkt an – ganz intensiv. Als ich kam, hatte er schon so einen stierenden Blick gehabt. „Der ist doch echt irre! Was soll das? Der soll mich in Frieden lassen“, dachte ich. Einen Moment später allerdings hatte ich das leise Gefühl, dass mir diese graugrünen Augen irgendwie merkwürdig bekannt vorkamen. Nun erwiderte ich seinen Blick und unsere Augen hafteten aneinander fest. Sein aschblondes Haar war etwas unordentlich.

      Jetzt fiel es mir wieder ein: Einst, als Teenager, mit vierzehn/fünfzehn, war er mein hoffnungsloser Schwarm in der Schule gewesen. Damals hatte er seine Haare schulterlang getragen und schwarz gefärbt. Er hatte breite Schultern, muskulöse, sehnige Arme und einen selbstbewussten Gang gehabt. Seine schelmisch lächelnden Augen hatten geschimmert wie grüne Jade. Nichts war schöner gewesen wie das Lächeln dieser Augen. Es erhellte sein ganzes Gesicht und ging direkt auf seine Umgebung über. Gelegentlich waren seine Augen glasig gewesen und in einer anderen Sphäre scheinend vom Kiffen. Seine Nase war markant und aus seinen klar geformten, mädchenhaften Lippen ertönte eine tiefe, männliche Stimme. Ich liebte die Fantasien, die ich über ihn hatte. Sie verursachten ein angenehmes Ziehen von kontraktierenden Muskeln in meinem Unterleib und Beckenboden.

      Beinahe zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Damals hatte er mir kaum Beachtung geschenkt – wenn überhaupt, dann eher Verachtung. Ich war ein stilles Mauerblümchen gewesen, ein Opfertyp, den keiner cool fand oder finden durfte. Er dagegen war nicht unbeliebt und hatte schon früh Erfahrung mit Mädchen sammeln können. Im Endeffekt waren wir nun beide an demselben traurigen Ort gelandet – wie das Leben so spielte. Mitunter kam er noch in meinen, vorwiegend erotisch angehauchten, Träumen vor, als ich längst erwachsen war.

      Schließlich Visite. Zwei Ärztinnen, zwei Schwestern, ein Sozialarbeiter. Wenige Fragen. Später sollte es ein längeres Gespräch geben.

       Ich wollte weg. Es waren doch bloß Schmerztabletten gewesen, keine wirklichen Drogen oder Alkohol wie beim Großteil der anderen hier. Ich fühlte mich abgestempelt und irgendwie fehl am Platze. Aber zu Hause hatte ich meinen Alltag nicht mehr ohne die chemischen Krücken bestreiten können.

      Stationsleiterin Martha erklärte mir die Abläufe in der Klinik und zeigte mir die Abteilung: gebastelte Fensterbilder, eine Tischtennisplatte, hässliche orange-braune Vorhänge im Speisesaal. Auch Kickboards gab es zur Ausleihe. Die Therapie würde aus drei Einheiten pro Tag bestehen: Gruppentherapie, Sporttherapie oder Arbeitstherapie respektive Funktionsdienst – im Wechsel – Kunst- oder Beschäftigungstherapie – ebenfalls im Wechsel. Hinzu kämen Einzelgespräche mit Therapeuten. Die Struktur erinnerte mich an die eines Internats.

      Ich ging ins Freie und rief meine Schwester an. Sofort fing ich an zu weinen und sagte ihr, wie schrecklich es in der Klinik war: „Das ist nichts für mich!“ „Du kannst ja eine Nacht bleiben und abwarten, was die Ärzte sagen“, meinte sie mitfühlend. Ich hörte die Sorgen in ihrer Stimme und es tat mir leid, dass ich ihr und allen so viel Kummer bereitete. Wieder dieser Gedanke: Warum konnte ich nicht einfach normal und stark sein, wie die meisten anderen, die ich kannte (oder zu kennen glaubte)?

       So viele Gesichter, Worte, Situationen und Gefühle tauchten in meinem Kopf auf, verschwanden, kamen zurück und vermischten sich zu einem Brei. Es war ein ermüdendes Chaos, wie ein schlechtgewordener Grießpudding.

      Gespräch mit der Assistenzärztin: „Das sieht nach einer waschechten Medikamentenabhängigkeit aus.“ Beschämt senkte ich meinen Blick. Sie fuhr fort: „Aber Sie haben gute Chancen. Wir haben hier die modernste Technologie und die besten bekannten Methoden, damit umzugehen. In Einzeltherapie und Gruppen gehen wir mit Ihnen, anhand kognitiver Verhaltenstherapie, systemischer, kreativer, psychodynamisch orientierter, hypnoanalytischer, energetischer, tiefenpsychologischer, Gestalt- sowie Traumatherapie, ihre Probleme an.“ Was auch immer sie mir damit sagen wollte. Ihr Redefluss setzte sich fort: „Sie erfahren mehr über innere und äußere Auslöser ihrer Abhängigkeit und wie Sie diese reduzieren können. Wir arbeiten mit dem ganzen Menschen, mit Körper, Geist und Seele und unterstützen Sie mit bewährten Strategien aus Stressmanagement, Neurologie, Naturheilverfahren, Bewegung und Wellness. Jeder Patient erhält einen ganz auf ihn zugeschnittenen Behandlungsplan. Dieser wird von einem engagierten Team aus internationalen Spezialisten umgesetzt. Sie lernen, sich gegen Suchtdruck zu wappnen und Warnzeichen von Abhängigkeit zu erkennen. Darüber hinaus erlernen Sie Methoden, Stress und Anspannung abzubauen. Sie bekommen Werkzeuge zur Hand, um aktiv ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen im Alltag und den persönlichen Bedürfnissen zu schaffen, für Wohlbefinden und Gesundheit zu sorgen. Alle Methoden und Hilfsmittel sind darauf ausgelegt, dass Sie sich nicht noch zusätzlich belasten und viel Zeit brauchen. Sie sind leicht und einfach in Ihren Alltag zu integrieren. Genusstraining machen Sie und erlernen viele Achtsamkeitsübungen, um besser mit sich und Ihrem Alltag umzugehen. Im Entspannungstraining üben Sie diverse Entspannungsmethoden, die Sie auch leicht zu Hause fortführen können. Auf Wunsch bieten wir Ihnen energetische Verfahren wie Reiki, Hypnose, «Healing Touch» und Quantenheilung an.“ Ich wusste nicht, was ich von alternativen Heilmethoden halten sollte. Eigentlich glaubte ich nicht an den ganzen «Hokuspokus». Die Ärztin bekräftige: „Wir behandeln nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen der zugrundeliegenden Erkrankungen unserer Patienten. Dadurch reduzieren sich die Risiken eines Rückfalls deutlich. Die Wirkung der klinischen Behandlung wird mit Hilfe unseres großen Angebotes an ergänzenden Therapien verstärkt, denn für einen langfristigen therapeutischen Erfolg sind viele Faktoren ausschlaggebend. Es hängt stets vom psychischen und physischen Gesamtzustand des Einzelnen ab. Unsere therapeutische Gemeinschaft basiert auf der Überzeugung, dass ein lebendiger Austausch mit gegenseitigem Respekt maßgeblich zu einer schnellen Gesundung beiträgt. Deshalb unterscheiden wir nicht zwischen Ärzten, Therapeuten, Teilnehmern und Angehörigen, sondern kommunizieren und handeln stets auf Augenhöhe. Unsere Psychotherapie basiert auf der Achtung und Würde unserer Patienten. Sie ist ressourcenorientiert, das heißt dem Klienten werden seine eigenen Möglichkeiten, Quellen von Kraft und Wohlbefinden und seine Stärken deutlich gemacht. Es ist uns wichtig, sich nicht nur auf die Probleme zu konzentrieren, sondern auch auf das, was Sie in Ihrem Leben geleistet haben anzuerkennen. Sie sollen Gutes wertschätzen und sich Fehler verzeihen. Es ist wichtig Ihre Fähigkeiten kennenzulernen, wiederzuentdecken und auszubauen. Durch wohlwollendes Annehmen Ihrer Person als Ganzes, arbeiten wir darauf hin, dass Sie sich und andere mit allen Stärken und Schwächen akzeptieren können. Uns ist es wichtig, Sie beim Entdecken aller Seiten Ihrer Person zu begleiten und Sie bei der Entwicklung dieser zu unterstützen. Wir legen Wert darauf, dass Sie lernen, achtsam und liebevoller mit sich umzugehen. So vermeiden Sie auch zukünftige Probleme, beziehungsweise können sie besser bearbeiten. Wir kommen aus unterschiedlichen Therapierichtungen. Durch unsere Vielfältigkeit in den Therapieansätzen und durch die warme und wertschätzende Atmosphäre im Team, zielen wir genau auf diese Stimmigkeit in der therapeutischen Arbeit ab. Die Behandlungsinhalte bauen thematisch auf und greifen wie ein Zahnrad in das andere. Therapie ist kurzzeitige Hilfe zur Selbsthilfe, um Lösungen und neue Wege gemeinsam zu entdecken und diese gestärkt, selbständig zu gehen. Wenn ein Patient bereit ist, unser Zentrum zu verlassen, erstellen wir ein außergewöhnliches personalisiertes Nachsorgeprogramm. Wir bieten ihm weiterhin Unterstützung,