Schweben auf Zuckerwatte. Patricia Clara Meile

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Название Schweben auf Zuckerwatte
Автор произведения Patricia Clara Meile
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742728821



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Hause hat der Teilnehmer immer direkten Kontakt zu seinem Therapeuten. Dadurch meistert er diese Phase besser. Unser Klinikteam hat erfolgreich dazu beigetragen, dass Tausende unserer Klienten, eine nachhaltige Genesung erreicht haben. Es war richtig, dass sie uns kontaktiert haben, Frau Sommer! Selbstverständlich ist die persönliche Befreiung aus Abhängigkeiten oder Zwangsverhalten ein schwieriger und komplexer Prozess. Eine pauschale Erfolgsgarantie zu geben, widerspräche deshalb jeglicher medizinisch-therapeutischer Ethik. Wir versichern Ihnen jedoch, Ihren individuellen Weg bestmöglich zu unterstützen – in einem optimalen Umfeld und mit hochprofessioneller Betreuung. Fühlen Sie sich herzlich willkommen und wagen Sie den richtigen Schritt in eine bessere Zukunft!“ Ach nee – was für eine abgedroschene Leier!

      Die Ärztin hatte rehbraunes, im Nacken zu einem lockeren Dutt gebundenes, gewelltes Haar, große dunkle Augen, ein glattes Gesicht und Silberschmuck. Wäre sie meine Kindergärtnerin gewesen, hätte ich sie geliebt, aber so? Erstmal sollte mein Körper entgiftet werden. Per sofort durfte ich keinerlei Tabletten und anderen Arzneimittel mehr nehmen – kalter Entzug. Es würde hart werden. Jedes Mal, wenn sie die Worte «Medikamente», «Schmerzmittel» oder «Tabletten» sagte, zuckte ich, wie unter Stromstößen, zusammen. Ich sah die Leidenstöter mittlerweile als unabkömmlichen Teil meiner Wirklichkeit.

      Wie sollte ich später im Alltag handeln, wenn ich Kopfschmerzen hatte? Bis zum welchem Punkt würde ich sie ertragen müssen und ab wann durfte ich sie betäuben? Ich fragte mich ohnehin, ob ich mit meinen chronischen Schmerzen überhaupt je noch ein normales, eigenständiges Leben würde führen und einen vernünftigen Umgang mit Tabletten würde pflegen können. Nach all dieser Zeit fiel es mir schwer, positiv zu denken. Ich hatte Angst davor, beim Auftauchen von stärkeren Beschwerden, rasch wieder in dasselbe Muster zu verfallen.

      Die Ärztin erklärte mir, dass Schmerzmittel, die nicht auf Opiaten basierten, eigentlich keine Suchtmittel im klassischen Sinne, wie Alkohol, Cannabis, Heroin, Benzodiazepine oder Amphetamine, waren, da sie keine körperliche Abhängigkeit verursachten. „Aber eine psychische Abhängigkeit“, wandte ich ein und fügte hinzu: „Das ist es doch, wenn ich das Gefühl habe, nicht mehr ohne sie zu können und tagtäglich nach demselben Schema verfahre?“ „Ja, aber eine psychische Sucht, kann man nach fast allem entwickeln, zum Beispiel auch nach Schokolade“, antwortete sie. „Oder nach Schuhen… Wenn es allerdings so ist, weshalb bekommt man dann körperliche Absetzungssymptome von diesem Schmerzmitteltyp? Das kann man doch nicht mit Schokolade vergleichen! Das ergibt keinen Sinn“, erwiderte ich. In diesem Punkt musste sie mir zustimmen. Sie gestand nun, etwas kleinlaut, ein, dass diese Schmerzmittel und ihre Langzeitwirkungen tatsächlich noch sehr wenig erforscht waren.

       War es das, was ich wollte – ein Klinikaufenthalt?

       Der erste Tag kam mir wie die Hölle vor. Ich fühlte mich unendlich hilflos und ausgeliefert. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich wollte nach Hause, aber nicht nach Hause.

      2 Kalter Entzug

      Der Tag begann um 7:30 Uhr mit der konzentrativen Entspannung, einer sehr sanften und besonderen Form der Körperwahrnehmung. Durch sie sollten wir eine neue Möglichkeit erfahren, uns und unseren Körper zu bewegen und zu spüren. Es gab dabei Probleme mit einigen Patienten, die gleich nach dem Aufstehen noch zu müde waren für diese Therapie und denen ein paar Kniebeugen sicherlich besser bekommen wären. Eine Befreiung davon war nicht möglich und so wurde dieses Thema zum Schauplatz von Machtkämpfen zwischen Therapeuten und Patienten. Der Sieg der Therapeuten war vorprogrammiert: "Es gibt nur zwei Möglichkeiten, bei uns Therapie zu machen: ganz oder gar nicht!" Wie war das nochmal mit, nicht zwischen Therapeuten und Teilnehmern unterscheiden und stets auf Augenhöhe kommunizieren?! Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Patienten und Therapeuten auf einer ganz subtilen Ebene Feinde waren. Vielleicht war es jedoch auch bloß meine latente Skepsis, die mich so denken ließ.

      Nach der konzentrativen Entspannung begannen wir Patienten, den Frühstückstisch zu decken. Um halb neun dann trafen wir uns mit einer Sozialtherapeutin zur Morgenrunde, wo wir, je nach Befindlichkeit, in Sportgruppen und zu anderen Beschäftigungen eingeteilt wurden. Die Klinik legte großen Wert auf die aktive Gestaltung des Aufenthalts ihrer Patienten. Die Sportangebote reichten von Krafttraining, Tanzen, Joga, Qigong, Nordic Walking, Schwimmen, über Laufgruppen bis hin zum klinikeigenen Trimm-dich-Pfad. Möglichkeiten sich handwerklich und kreativ auszudrücken, gab es in Holzwerkstatt, Töpferei und Brennerei, Werk- und Kunstatelier oder der Nähwerkstatt. Darüber hinaus gab es Wellness in Form von klassischen, Sport-, Ayurveda-, Energie- und Klangschalenmassagen. An PC-Arbeitsplätzen konnte man Bewerbungen verfassen, Kontakte pflegen oder Tagebuch schreiben. Gearbeitet wurde in der Wäscherei und in landwirtschaftlichen Einrichtungen, die mit der Klinik zusammenarbeiteten. Hier versuchten sich manche Patienten ebenfalls vor dem Programm zu drücken. Ich verstand sie. Eigentlich wäre ich auch lieber den ganzen Tag im Bett geblieben und hätte meine Ruhe gehabt – einfach Ruhe vor allem und jedem. Doch was von meinem Gehorsam und Pflichtgefühl übriggeblieben war, ließ mich den Mund halten.

      Die meisten Patienten jedoch waren freundliche Männer und Frauen zwischen dreissig und sechzig, die mich auf den Gängen grüßten und während den freien Zeiten zum Karten- oder Tischtennisspielen einluden, als wären wir im Urlaub. Abgesehen, von ihrer gierigen Art zu rauchen und Kaffee zu trinken, wirkten sie normal. Niemand hätte sie für suchtkrank gehalten.

      Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass meine Zimmernachbarin Daliah hieß. Sie hatte ADS – Aufmerksamkeitsdefizitsstörung – und war amphetaminabhängig. Sie erzählte mir: „Ich habe als Kind wenig Liebe und Aufmerksamkeit von meiner Mutter erfahren. Ich hatte einen schwerbehinderten Bruder. Er bekam ihre ganze Zeit und Zuneigung. Pausenlos umsorgte und herzte sie ihn. Für mich langten ihre Kraftreserven scheinbar nicht mehr. Ich suchte die Fehler bei mir, glaubte nicht gut genug zu sein und mochte mich selbst nicht mehr. So entwickelte ich in meiner Jugend, zusammen mit weiteren psychischen und physischen Leiden, eine akute Essstörung. Ich strebte nach einem Ideal, von welchem ich glaubte, dass es endlich gefallen würde und bestrafte mich selbst.“

      Vor einigen Jahren schon war Daliah, die einst den Beruf der Dentalassistentin erlernt hatte, als arbeitsunfähig eingestuft worden. Seither erhielt sie eine Rente. Wenn sie Phasen hatte, in denen sie sich gesünder fühlte, besserte sie ihr spärliches Einkommen mit Schwarzarbeit, wie Hundesitting, leichten Reinigungsbeiten in einem Fitnesszentrum, Büroadministration oder Schminken, auf, um ihr turbulentes Leben finanzieren zu können. Dennoch war sie ständig pleite.

      Inzwischen war Daliahs Bruder verstorben. Mit dem regelmäßigen Konsum von Speed, hatte sich ihr gesundheitlicher Zustand zunehmend verschlechtert. Das Speed führte ihrem Körper keine Energie zu, sondern putschte den Organismus hoch und verbrauchte damit seine Kraftreserven. Es hat eben seinen Sinn, dass wir müde werden. Der Körper braucht Erholung, um funktionieren zu können. Der Organismus entwickelt rasch eine Toleranz für Amphetamine, das heißt, es muss immer mehr konsumiert werden, um dieselbe psychische Wirkung zu erzielen. Aufgrund ihres tiefen Blutdrucks hatte Daliah sich stets schlapp gefühlt. Sie hatte es mit Bewegung probiert, morgens schon eine heiße Brühe getrunken und tagsüber kohlensäurehaltige Getränke, doch nichts hatte sie so richtig auf Touren zu bringen vermocht, bis sie die Drogen entdeckte.

      Amphetamine haben ein hohes Abhängigkeitspotential, wobei es zu einer starken psychischen Abhängigkeit kommen kann, die in der Regel psychotherapeutisch behandelt werden muss. Die ständige «Peitsche» für den Körper belastet das Herz. Ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall ist die Folge. Außerdem schädigen die Drogen die Nervenzellen des Gehirns. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen treten auf. Daliah stritt dies zwar vehement ab. Sie redete sich wohl noch immer so einiges schön, beziehungsweise wollte manche Tatsachen offensichtlich einfach nicht wahrhaben. Außerdem konnte sie natürlich sämtliche Konzentrationsstörungen ihrem ADS in die Schuhe schieben.