Der Tag, an dem die Kuh vom Dach fiel. Matteo Signorino

Читать онлайн.
Название Der Tag, an dem die Kuh vom Dach fiel
Автор произведения Matteo Signorino
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738036855



Скачать книгу

für die Blicke vieler Geschlechtsgenossinnen. Eigentlich ein Wunder, dass er noch Single war. Es war ihr natürlich nicht entgangen, dass auch sie eine gewisse Wirkung auf ihn hatte. Normalerweise hätte sie das nicht groß beachtet, denn als Stewardess hielt sie sich strikt an die Anweisung, berufliches und privates nicht zu vermischen. Aber jetzt hatte sie Urlaub. Und sein Zwinkern beim Verlassen des Fliegers hatte sie in ihrem Plan bestärkt. Der konnte doch nicht einfach so mit ihr flirten und meinen, er könne sich dann aus dem Staub machen. Dem würde sie mal richtig einheizen. Sie hatte ihm ja die Chance gegeben, dass er die Initiative ergreifen konnte. Aber nein, er hatte es nicht anders gewollt. Obwohl er sichtlich beeindruckt gewesen war, gab er sich gleichzeitig merkwürdig zugeknöpft. Vielleicht wollte er erobert werden, nicht jeder Mann ergreift gern die Initiative, das würde ja herauszufinden sein. Schon auf den letzten Stufen sah sie ihn am Buffet stehen, die Haare wieder ohne Erfolg gestylt. - Ein Süßer also, zumindest was das Frühstück anging, analysierte sie mit fachmännischem Blick. Croissants mit Marmelade und Kaffee, nicht gerade landestypisch, aber was wollte man am ersten Tag verlangen. Immerhin war er keiner von diesen Touristen, die sich um jeden Preis anbiedern wollten und jede unsinnige Sitte übernahmen. Hinterher beschwerten sie sich dann beim Reiseveranstalter, dass es immer nur Reis mit scharfem Curry gegeben hatte. Als hätte es nichts anderes zur Auswahl gehabt. Sie selber bevorzugte es herzhafter, Käse und Wurst, dazu Rührei mit Speck. Auch nicht gerade landestypisch, aber in diesem Hotel offensichtlich im Angebot. Nur ein kräftiges, dunkles Brot suchte sie vergeblich, also griff sie nach den Körnerbrötchen. Und sie konnte es sich leisten, ein wenig mehr auf den Teller zu nehmen. Figurprobleme kannte sie nicht, noch nicht. Sie wusste, dass sich das nach ein, zwei Kindern sehr schnell ändern konnte. Aber noch war es nicht so weit. Erst der Mann und dann die Kinder…

      Sie stellte sich knapp hinter ihn. „Tom, Tom Richter?“ Er drehte sich erstaunt um, als er seinen Namen hörte, dann entglitten ihm die Gesichtszüge. Sie war froh, dass er nicht den Teller fallen ließ, auf dem sich sein Frühstück befand. Die Überraschung war ihr gelungen. „Ja…, Ja das ist aber eine Überraschung“, stammelte er vor sich hin. „Andrea, Andrea Jung“, stellte sie sich vor. „Ich bin ihre Stewardess von gestern“, fügte sie noch hinzu, immerhin werden Menschen in Uniform im richtigen Leben oft nicht gleich wiedererkannt. Aber diese Vorsichtsmaßnahme war überflüssig. Er hatte sie sofort richtig eingeordnet, das konnte sie ihm ansehen. Einen Moment genoss sie den Triumph und grinste über beide Ohren, dann kamen die Zweifel. Sie war sich nicht sicher, ob er sich wirklich freute, sie zu sehen. Sie wurde das Gefühl nicht los, als wenn sie irgendwie ungelegen kam. Nicht, dass gleich seine Freundin auftauchte. Das wäre peinlich! Im Flugzeug war er zwar allein gereist, aber er konnte sich ja hier mit ihr verabredet haben. Wenn man da auf die richtige Zicke traf, musste man sich auf Schlammcatchen im Hotel einstellen, nur mit Joghurt, Corn Flakes und Marmelade. In ihrem Kopf tauchten Bilder auf von umgeworfenen Schüsseln, zerschlagenem Geschirr, vollgeschmierten Möbeln und hilflosen Bediensteten, die unter Einsatz ihrer unbefleckten Schürzen versuchten die ineinander verschlungenen Frauenkörper zu trennen. Sie bemühte sich, ihr Kopfkino abzustellen und Tom ein gewinnendes Lächeln zuzuwerfen, der sie etwas skeptisch anschaute. Anscheinend versuchte er ihren Gesichtsausdruck zu deuten, was ihm natürlich nicht gelang. Zum Glück stellte er ihr nicht die Frage, an was sie gerade denke, denn sie hätte ihm geantwortet: „An gar nichts!“ Das war zwar nicht wahr, aber besser man wird für ein wenig schlicht gehalten, als für völlig verrückt. Ein Mann würde nie verstehen, was im Kopf einer Frau vor sich ging. Immerhin lud er sie ein, mit ihm zu frühstücken, nicht dass sie ihm das auch noch vorschlagen musste. Der Frühstücksraum war in westlichem Stil, hell und freundlich eingerichtet, vielleicht ein bisschen karg für ihren Geschmack. Sicher waren die glatten, schmucklosen Wände und der Steinfußboden schuld an der unterkühlten Atmosphäre. So zogen sie sich in eine Ecke zurück, die hinter einem Mauervorsprung versteckt lag, das gab etwas mehr Geborgenheit. Anscheinend hatte er das gleiche Empfinden, denn er war es, der das lauschige Plätzchen ausgewählt hatte. Sie machten es sich auf der gepolsterten Bank bequem, die halbrund in die Ecke eingelassen war. Durch den Mauervorsprung fühlten sie sich unbeobachtet. Minuten später unterhielten sie sich angeregt über das Leben, die Liebe und Politik. Ganz nebenbei bemerkte sie, dass er ausgesprochen viel Kaffee trank, der hier im Hotel auch noch sehr stark zubereitet wurde. Er hatte bestimmt noch den ganzen Tag Herzrasen. Vielleicht trank er auch nur deshalb so viel, um seine Nervosität zu überspielen, wozu der Kaffee, ihrer Meinung nach, nicht die beste Wahl war. Sie erfuhr, dass er Single war, aber schon einmal verheiratet gewesen und auch ein Kind gehabt hatte. Mehr war über dieses Thema allerdings nicht herauszubekommen. So sehr sie sich auch bemühte, er blockte alles ab. Sie spürte, dass es mit Schmerz verbunden war. Er war nicht einfach nur verschlossen, im Gegenteil, er redete gern und viel und ungeheuer interessant, aber es tat ihm sichtlich weh, darüber zu reden. Also ließ sie ihn in Ruhe und wechselte feinfühlig das Thema, worauf er dankbar einstieg. Er erzählte von seiner Arbeit als Pharmareferent bei einem Schweizer Konzern, und was er gerade in diesem Teil der Erde für seine Firma zu tun hatte. Dann philosophierten sie über die ungeheure Macht der großen Konzerne und die Zwiespältigkeit, die damit verbunden war. Geschickt versuchte er, ihre Skepsis zu überwinden und sie davon zu überzeugen, dass diese Macht notwendig war, um die Welt zum Guten zu verändern. Heute seien es nicht mehr Kanonen und Raketen, die das Gesicht der Welt veränderten, sondern wirtschaftliche Interessen und Einflüsse. Sie merkte sehr schnell, dass er redegewandt und ungeheuer überzeugend sein konnte, aber das hieß nicht, dass sie sich einfach geschlagen geben würde. Sie hatte schon noch ihre Zweifel, ob die großen Wirtschaftsbosse auch immer die Guten in dieser Welt waren. Als er aufbrechen musste, um die ersten Termine wahrzunehmen, sie waren inzwischen beim vertrauten Du angelangt, bemerkte sie noch ein wenig philosophisch: „Du hast die Gabe, sehr überzeugend zu sein – aber das heißt nicht, dass du immer Recht hast!“ Sie sah, wie er zusammenzuckte, anscheinend war doch noch etwas zu retten bei ihm und hinter der selbstsicheren Fassade versteckte sich ein weicher, verletzlicher Kern. Andrea spürte die unbändige Macht der mütterlichen Gefühle, auf diesen großen Jungen mit dem kleinen Herzen aufzupassen. Sie wusste ja nicht, dass Tom beim Aufstehen den Mann mit dem schwarzen Anzug erblickt hatte. Er hatte seinen Platz geschickt direkt an dem Tisch vor dem Mauervorsprung gewählt, unsichtbar von ihrem Platz aus, aber so, dass er sicher die Hälfte des Gespräches mitbekommen hatte. Vielleicht war er doch gefährlicher als er angenommen hatte und das karikierte Auftreten nur ein Trick, um seine Gegner in Sicherheit zu wiegen.

      Kapitel 2: Die Hand Gottes

      Inspektor Khanna war sauer. Das passierte wahrlich nicht oft, denn eigentlich war er ein richtiger Gemütsmensch. Obwohl er dem Papier nach Hinduist war, fühlte er sich wie eine dieser ewig lächelnden Buddha Statuen, die immer so glücklich und zufrieden schienen. Auch sein Körperbau tendierte in diese Richtung. Er war nicht wirklich fettleibig, nur mit einem stark ausgeprägten Bauchansatz. Das hatte natürlich auch Vorteile, konnte er doch seinen Bauch bequem als Ablage benutzen und musste sich nicht lange nach Dingen strecken, die er sich nehmen wollte. Bewegung gehörte nämlich nicht zu seinen bevorzugten Tätigkeiten. Er war ein kleines bisschen träge, aber er selbst bevorzugte die Ausdrucksweise „bedacht“. Viele Probleme lösten sich von selbst, wenn man ihnen nur etwas Zeit ließ. Deshalb dauerte manches bei ihm vielleicht ein bisschen länger. Seinen Vorgesetzten war das gerade recht gewesen. Auf keinen Fall wollte man so einen übereifrigen Gerechtigkeitsfanatiker auf seinem Posten. „Die meisten Probleme sind gar keine, wenn man sie nur lange genug betrachtet“, hatte der Polizeipräfekt philosophisch formuliert. So waren sie alle gut gefahren. Und Khanna genoss einen ausgezeichneten Ruf bei Untergebenen und Vorgesetzten gleichermaßen. Aber natürlich war auch er Polizist geworden, damit er die Schwachen und Wehrlosen beschützen konnte und die Bösen bestrafen, auch wenn es eben manchmal etwas länger dauerte. Gerechtigkeit, wie er sie verstand, war ihm durchaus wichtig. Nur sein Chef sah das anscheinend ganz anders, sie hatten nie über solche grundsätzlichen Fragen gesprochen. Für Khanna war es einfach klar, dass alle Polizisten im Grunde das gleiche wollten. Heute musste er allerdings erkennen, dass er da von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen war.

      Sein Chef war zu ihm gekommen und hatte ihn angewiesen, zwei Verbrecher freizulassen. Ihre Schuld war nachgewiesen, es gab keinen Zweifel. Sie hatten eine junge Frau schwer misshandelt und vergewaltigt,