Der Tag, an dem die Kuh vom Dach fiel. Matteo Signorino

Читать онлайн.
Название Der Tag, an dem die Kuh vom Dach fiel
Автор произведения Matteo Signorino
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738036855



Скачать книгу

Es besteht der Verdacht, dass die Zielperson sich vor Ort einer Terroristengruppe anschließt und eventuell die Ausrüstung für einen Anschlag erhält. Sie müssen die Person unbedingt im Auge behalten und, wenn nötig, ausschalten, die nötige Freigabe haben Sie ja. Die Zielperson hat den Flug schon gebucht, sorgen Sie dafür, dass Sie in der gleichen Maschine sitzen und lassen Sie sich von meiner Sekretärin die Adresse unserer Kontaktperson vor Ort geben, damit Sie im Ernstfall Unterstützung haben. Hier ist das Dossier, studieren Sie den Mann gründlich! Ich will saubere Arbeit sehen. Gibt es noch Fragen?“ Eigentlich war das rein rhetorisch gemeint, aber dieses Mal kam tatsächlich eine Rückfrage: „Ich sehe gerade, dass er für eine Schweizer Firma arbeitet, sollten wir nicht die Schweizer Kollegen informieren?“ – „Nein, wir wollen nicht die Pferde scheu machen, bevor wir nicht wissen, ob überhaupt etwas dran ist. Die Schweizer sind ein wenig paranoid wenn es um die nationale Sicherheit geht. Lieber kein Risiko eingehen, diese Kollegen sind schwer einzuschätzen.“ Als er wieder allein war fühlte er sich besser. Er war sich sicher, dass er seinem Land einen großen Dienst erwiesen hatte. Dieser Mann würde keinen Schaden anrichten, was immer er auch vorhatte! Und wieder hatte die Behörde unsichtbar die Demokratie beschützt, wie es ihre Aufgabe war. Dafür war das Opfer, in diesem Bunker arbeiten zu müssen, sicher nicht zu groß.

      Kapitel 1: Pilgerfahrt

      Das unangenehme Räuspern des Piloten direkt in die Lautsprecheranlage ließ ihn hochschrecken. Gerade erst war er ein wenig eingenickt auf dem Kissen, das ihm eine freundliche Flugbegleiterin gebracht hatte. Tom liebte es, Business Class zu reisen und in den bequemen Sesseln einzusinken. Es hatte etwas von Clubatmosphäre und Wohnzimmer zugleich. So ließ sich auf Dienstreisen das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. „Verehrte Fluggäste, in wenigen Minuten werden wir …“, der Rest wurde wieder von Geräuschen verschluckt, die sicherlich nichts im Mikrofon eines Cockpits zu suchen hatten. Eher klang es, als würde ein Zug mit quietschenden Bremsen in einen Bahnhof einfahren. Tom gellten die Ohren. Gehörte die Bedienung einer einfachen Sprechanlage denn nicht zur Ausbildung eines Flugkapitäns? Eine Stunde Einweisung wäre doch sicher keine Überforderung in der mehrjährigen Ausbildung. Und zur Technik dürften gerade diese Menschen eigentlich kein gespaltenes Verhältnis haben. Schnell schob er diesen Gedanken beiseite, der ihm ein wenig mulmig werden ließ. Er hatte noch keinen einzigen Flug erlebt, bei dem es nicht unangenehm aufgefallen wäre, wie inkompetent Durchsagen an die Passagiere gemacht wurden. Meist viel zu schnell und undeutlich ausgesprochen, manchmal von einem Klopfen oder Räuspern eingeleitet, das einem das Trommelfell zu zerkratzen drohte, aber niemals so, dass das Wohlbefinden der Fluggäste gesteigert wurde, wozu die Ansage ja ursprünglich einmal gedacht war. Flugkapitäne eigneten sich anscheinend nicht für diese Aufgabe. Vielleicht waren ihre Kabinen auch überklimatisiert und deshalb hörten sich die Stimmen so heiser an, sinnierte er. Aber das konnte ja wohl keine Entschuldigung sein. In Zügen gab es so etwas nicht. Die Lokführer wurden mit solch lästigen Details, wie Durchsagen an die Fahrgäste, nicht belastet. Jedenfalls hatte er das noch nicht erlebt. Meistens gab es dort eine Computerstimme, eiskalt, aber wenigstens mit klarer Aussprache. Das war natürlich auch viel wichtiger, damit man den richtigen Bahnhof zum Aussteigen nicht verpasste. Im Flugzeug wäre das ja schlecht möglich. Die Zugführer hatten dafür mit ganz anderen Lasten zu kämpfen. Es gab inzwischen eine eigene Therapieabteilung bei der Bahn für Lokführer, die Menschen überrollt hatten, welche sich vor den Zug geworfen hatten. Vor ein Flugzeug hatte sich seines Wissens noch niemand geworfen, wahrscheinlich waren die Start- und Landebahnen einfach besser bewacht. Warum nur denken Kinder, dass Lokführer ein Traumberuf ist, wenn diese Menschen so schreckliches erleben müssen. Na ja, eigentlich war es ja gut, dass Kinder noch nicht mit so viel Lebensrealität belastet wurden. Auf einmal hatte er die Bilder im Kopf. Wie aus dem Nichts kommt ein Körper geflogen, gleichzeitig mit dem Schock der Versuch zu bremsen, der dumpfe Aufprall, das Knirschen von Knochen unter den Rädern und dann die zerstückelten menschlichen Überreste im Fahrgestell. Er schüttelte sich. Wie wird man so etwas wieder los? Wie geht man mit dem Schuldgefühl um, einem Menschen das Leben genommen zu haben? Ganz gleich, ob man das wollte oder nicht. Das dumpfe Nagen in der Seele bleibt: Hätte ich es vielleicht verhindern können? Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug? Habe ich schnell genug gebremst? Überhaupt - warum konnten Menschen, die unbedingt aus dem Leben scheiden wollten, das nicht ganz still und für sich alleine machen. Warum müssen Elternteile vorher noch ihre Kinder oder den Partner umbringen? Er hatte von einem Vater gelesen, der erst seine beiden Kinder und dann sich selbst verbrannte. Was können denn die Kinder dafür? Und was für ein schrecklicher Tod ist das? Warum mussten immer wieder Polizisten und Einsatzkräfte ihr Leben lassen, oder hinterher psychologisch betreut werden, weil sie Schreckliches mit anschauen mussten? Gibt es denn keine Regeln für so etwas, ein Knigge für Selbstmörder? Konnte man nicht ein Handbuch für korrekten Suizid herausbringen. Etwa mit dem Titel: „Wie bringe ich mich um, ohne anderen zu schaden?“

      Eine fröhliche Stimme ertönte neben ihm: „Na, woran denken Sie denn gerade?“ Tom schreckte hoch und fing an zu stottern: „Ach g-ga-gar nichts. Sie wissen doch, wir Männer haben nicht so tiefsinnige Gedanken.“ - „Na, das muss aber ein grimmiges Gar-Nichts sein, ihrem Gesicht nach zu urteilen!“, meinte die Stewardess besorgt. Aber er wusste aus Erfahrung, dass es besser war, nicht zu versuchen, einer Frau die Gedankengänge eines Mannes zu erklären. So hielt sie ihn nur für ein bisschen schlicht unter dem Scheitel, aber was wäre gewesen, wenn er versucht hätte, ihr den völlig logischen Aufbau seiner Gedanken zu erklären. Etwa in diesem Sinne: „Ach, ich habe gerade daran gedacht, dass es einen Leitfaden für Suizid geben sollte.“ – „Wie kommen Sie denn darauf?“ – „Na ja, eigentlich durch die Durchsage des Piloten.“ – „Moment, ich bringe Ihnen gleich etwas zur Beruhigung, sie müssen sich nicht aufregen, wir sind gleich gelandet, bleiben Sie ganz ruhig…“ Dann war es doch besser, einfach zu behaupten, man würde nichts denken. Es war zwar nicht die Wahrheit, aber wenigstens wird man nicht angeschaut wie ein armer Irrer. Die besorgte Stewardess brachte ihn auf einen anderen Gedanken: Die Durchsagen im Flugzeug könnten doch gut von den Flugbegleiterinnen gemacht werden, die mit ihren angenehmen Stimmen und wohltuenden Umgangsformen sicher besser geeignet wären.

      Er merkte, wie sein Blick an einer der Stewardessen hängenblieb – vielleicht einen Augenblick länger als unbedingt notwendig. Sie war ihm direkt in die Arme gelaufen, als er vorhin die Bordtoilette verließ. Das hatte ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht. Er war es nicht mehr gewohnt eine zarte, schöne Frau in den Armen zu halten. Zu lange war es nun her. Und es ließ ihn nicht kalt, das musste er sich eingestehen. Danach hatte sie ebenfalls ein Auge auf ihn geworfen, so schien es ihm. Normalerweise merkte er gar nicht, wenn eine Frau ihn genauer unter die Lupe nahm, wahrscheinlich, weil es ihn nicht interessierte, aber hier war es anders. Der ungeplante Zusammenstoß hatte wohl auch bei ihr eine Wirkung hinterlassen. Sehr zuvorkommend hatte sie ihn behandelt, ihm persönliche Fragen gestellt und nebenbei fallen lassen, dass sie nach diesem Flug erst einmal ein paar Tage frei hätte. Dabei kniete sie ganz dicht bei ihm, so dass ihre langen braunen Haare sanft auf seinem Arm lagen. Es kam ihm vor, als läge ein Schimmer Sternenstaub darauf. Das zarte Gesicht kam seinem ganz nah und am liebsten hätte er sie geküsst. Er fühlte sich ein bisschen albern. Eigentlich hatte er gedacht, mit dem Ende der Pubertät könnten Schmetterlinge im Bauch nicht mehr überleben. Solche Gefühle hatte er völlig aus seinem Leben verbannt. Aber nun flatterten sie wieder, die Schmetterlinge. Noch einmal kamen ihm Zweifel: Vielleicht hätte er sich mit ihr verabreden sollen. Sie war genau die Frau, die ihn sofort in ihren Bann zog, vor allem diese großen, braunen Augen mit einem kleinen Hauch von Schalk, die so wirkten, als könnten sie direkt in seinen Kopf hineinschauen. Aber darauf konnte er sich nicht einlassen. Er war noch nicht bereit für eine neue große Liebe, und kleine Lieben gab es bei ihm nicht. Der Schmerz saß noch zu tief. Aber er ließ sich noch einmal ein Glas Sekt bringen. Als sie sich zu ihm herab beugte, zog er tief den Duft ihrer Haare in die Nase und hatte das Gefühl, das Prickeln des Sternenstaubes zu fühlen. Das musste für den Moment reichen. Beim Aussteigen zwinkerte er ihr schelmisch zu und hoffte einfach, dass Zeit und Ort kommen würden, wo sie sich wieder sahen. Dann von der Last befreit, die ihn bedrückte.

      Es war heiß und stickig, als Tom aus dem Flugzeug stieg, die Luft flimmerte und er hatte Angst bei jedem Streichholz, das nun aufflammte um eine Zigarette anzuzünden,