triste. Katrin Sell

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Название triste
Автор произведения Katrin Sell
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750235069



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      weil du arbeiten musst, weil du älter wirst.

      Insolenz

      Das hat sich schon eingeflüstert bei der Geburt, ein genialer Bogen

      spannt sich über der Brust und lässt die Hände spielerisch über

      Tasten gleiten; und ein Ansturm der sonnigen Gewissheiten, immerzu,

      ausgeschüttet über den wenigen, deren Talent das Vorausschreiten ist –

      und selbst ihr Speichel ist gescheit.

      Ich lausche. Das sachte Zirpen überhöre ich,

      hocke noch im Schoß als verwurzeltes Kind, mich vor Käfern fürchtend

      und den Daumen im Mund.

      Schön wie Joseph und meinetwegen so eitel,

      und den Brüdern nur ein müdes Lächeln. Ist das gerecht?

      Dieser unverschämte Weichling mit seinen hübschen Fingernägeln

      und den schwarzen Locken verdirbt einem die Laune.

      Sind das nur wütende, neidische Herzen?

      Die Zukunft wäre vollkommen, weil ich rasch ans Ziel käme,

      mit meinen inspirierten Fingern, wie geschaffen, um voranzutreiben

      und die Welt umzukrempeln, den Dealern die Geschäfte zu

      versauen und mich selbst emporzuheben. Denn bedeutend ist der Gerechte.

      Bleibt die Vorstellung, dazuzugehören, am Tisch zu sitzen

      wie ein ehrenwerter Ritter. Ja, so ein Träumchen hält sich unerbittlich,

      an warmen Stränden oder auf Bettkanten hockend nach langer Krankheit:

      Da gibt es eine Tafel mit Eisenbeschlägen, an der die besten Männer

      sitzen, mit Bärten aus Wolle, und du selbst, wie ein Gimpel bist dabei,

      mit goldener Krone auf dem Kopf.

      Dergleichen ist vertraut, sich selbst zu küssen, während man sich

      am Hinterteil kratzt und die Fliegen verscheucht.

      Sieh, wie alles hinweggetrieben wird und ich mich retten muss,

      in mein eigenes Geschwätz, doch die beste Naht gestochen zu haben –

      und die Kinder, meine vielen Kinder, die jetzt auf Leitern stehen

      und mir keine Schande machen. Vererbt habe ich mich, mir meine Gene

      aus dem Sack geschüttelt, damit etwas bleibt.

      Kommen die Jahre, ach, diese Jahre, mit stumpfen Küchenmessern und

      vergessenen Toilettenpapieren. Wenigstens das noch, will man

      heimlich glauben, eine Seele und kleine Mauerstücke. Das tröstet.

      Seele. Ein Wort aus Kirchenbüchern und Anstalten, so ganz ohne

      Alltag eigentlich. Ich will lachen. Hier das bisschen Seele für dich,

      Mensch, damit du manchmal höher blicken kannst.

      Dunkle Materie

      Das Denken muss vor dem Denken beginnen,

      das Fernste aufheben, nicht nur ergänzen, sondern Abgründe nach sich ziehen,

      wie den, vom Verlöschen allen Denkens, was eine Gabe sein kann.

      Wenn das unabsichtlich Tiefe so kreist und kreiselt und ohne Ziel bleibt,

      wenn es wabert und sich schließlich dem Mond ergibt, bleibt am Ende nur,

      das Wort Gedanke niederzuschreiben,

      und

      immer wieder Gedanke,

      ein einziger Gedanke,

      der die Vernunft auf unsichtbaren Papieren ergründet.

      Therapeutische Erkenntnisse

      Hat auch heute wieder von irgendwoher seinen Befehl erhalten,

      der scheußliche Trieb, im Magen nistend, hinabzustürzen in den

      Sommer, um die Luft zu verpesten.

      Ist meistens im Dienst, mit seiner gewölbten Nase und der Nörgelei.

      Würde er doch verrotten, sich niederlegen, von mir aus in Löchern

      und auf Kohlenhaufen, und bliebe einem vom Hals!

      Eine rührende Konstante könnte sich mal beweisen. Solch ein

      Ding mit Lebenswitz, tapfer gegen Winde ankämpfend;

      und

      ein bisschen Halt für das verwehte Mädchen, das den netten Zahnarzt

      heiratete und nun nicht mehr weiter weiß.

      Mittendrin kommt etwas Sinkendes wie ein Gewitter,

      das die Sommergäste überrascht. In den stickigen Vestibülen

      und Vorhallen verstummen die Gespräche,

      und

      ein unsanfter Abbruch und Temperatursturz folgt.

      Das alles in der vibrierenden Brust, herabgefallen auf öde Inseln,

      aufgewühlt, bis in die Knochen hinein.

      Doch wovon? Kein verbrecherischer Atem hockte über dir,

      dein Fuß betrat nie eine Kaserne.

      Die ewig gleiche Sache: ein versprengter, rumorender Kern, der sich

      nicht zufrieden geben will, auf Friedhöfe und in Krankenhäuser drängt;

      und

      auf einmal ganz Empfindung wird,

      mit fürchterlichen Schreien und einer Ahnung ohne Tageslicht.

      Da werden die Augen bissig und klein. Man greift

      nach den Trinkgläsern und legt sich Servietten auf die Knie.

      Aber schon vergeblich. Hochzeitsmärsche – während man in eine

      unauffindbare Stelle hinabfällt.

      Irgendwann ruft ein beharrliches Mädchen nach dir. Die Mahnerin

      rennt jedem einmal ins Gewissen hinein, stärkt deine Kräfte

      und will dich wieder nach draußen werfen, unermüdlich ihr Geflüster,

      es noch einmal zu versuchen, Mahlzeiten zu kauen

      und Tastaturen zu bedienen.

      Aber was weiß sie vom plötzlichen Versacken,

      vom Fall der Bienen,

      von Neigungen, aus dem Fruchtwasser kommend,

      die sich nicht scheuen, einzureißen, abzubauen;

      solch kleine, giftige Veranlagungen, die die Sonnen fressen?

      Wer kann etwas für die gleichgültigen Gene

      und für jene Väter mit ihrer verhaltenen Zeugungskraft,

      selbst unschlüssig und blass und die Zeitung verkehrt herum haltend?

      Der Riss in den Eingeweiden und eine erloschene Energie –

      darüber sollte jeder besser schweigen.

      Es ist tunlichst zu vermeiden, auf seine Einsamkeit zu pochen

      und allein zu essen.