Amnesia Orange. Martin Rose

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Название Amnesia Orange
Автор произведения Martin Rose
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742744234



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wenn mein Vater sich zu mir setzte und mir Dinge des Lebens erklärte, also den Fall von Konstantinopel, zum Beispiel, die Vertreibung der Griechen durch die Osmanen und was es auf sich hatte mit dem Schisma im Jahr 1054. Zumeist war es die Fortsetzung eines Schulstoffes, in die mich mein Vater einweihte, damit sein Sohn einen Wissens­vorsprung hatte, doch mein Geschichtslehrer wußte nicht, was ein Schisma war, seitdem hatte ich das Bonuswissen für mich behalten. Wenn mein Vater neben mir am Schreibtisch saß, vor uns irgendwelche historischen Landkarten oder auf­ge­schlagene Bücher, versank er recht ausschweifend in seine Wissens­berichte, und ich hörte ihm zu, lauschte und nahm den gleichmäßigen Klang seiner Stimme in mich auf und schon lange nicht mehr den Inhalt dessen, wovon er sprach, und in diesem Zustand, der mir, so will es mir heute erscheinen, etwas Trancehaftes hatte, spürte ich irgendwann eine wohlige Körperlichkeit, zunächst einen leisen Kitzel, dann einen Schauder, der wohlsam über meine Haut flirrte, wie Wüstensand, der kaum merklich über die Wanderdünen streift. Ich wurde angenehm müde in solchen Minuten, mein schon als Kind nahezu permanent eingeschaltetes Radarsystem glitt für Augen­blicke in den Schlummer­zustand, und mein Vater, der dies glücklicherweise meist erst nach einer Weile bemerkte, strafte mich mit strengen Blicken und wies mich an, Haltung zu wahren.

      Durchgerüttelt und leichtfüßig, wie ich seit langem nicht mehr war, ging ich in den Speisesaal, es gab Cordon bleu mit Pommes frites und zerkochtem Gemüse. Zu meiner rechten, hinter den Fenstern in der dünnen Bretterwand, sah ich die Privaten, die die Kellner mit Speck und Spiegeleiern bedienten. Nadine hatte in der Bastelstunde Fische aus Papier geschnitten, grünliche, violette, blau­schwarz gestreifte und gelbe, und hatte sie mit Tesafilm an die Glaswand des Aquariums geklebt, wie wir das Séparée der Privaten nannten.

      Zarah kam jeden Morgen geräuschvoll in den Speise­saal geschlurft und begrüßte Nadine und mich mit zwei Wangenküssen, ohne etwas zu sagen, und setzte sich an ihren Platz. Sie berichtete ungefragt, wie sie geschlafen hatte, unterbreitete uns ausführlich Traum­inhalte und Depressionsfortschritte: „So miserabel wie gestern Abend ging es mir hier noch nie“, sagte sie jeden Morgen. Sie war distinguiert, stolz, aufrecht im Gang, sie wußte in jedem Augenblick von ihrer strahlenden Eleganz, die Augen dunkel und maronen­braun, der blasse Teint unter schulterlangen, gewellten schwarzen Haaren, eine formvollendete Symbiose aus deutschem und iranischem Elternteil. Zahlreich waren die Blicke, die ich hinter mir spürte, wenn ich am Buffet stand, Männerblicke, die mir mißgünstig in den Rücken stachen.

      Nadine war wie ein edles Weinglas: zerbrechlich, schön. Es war sonderbar, wenn ich Nadine, die am Tisch zu meiner linken saß, in meiner Nähe spürte. Es war, als spanne sich ein Magnetfeld zwischen uns, eine Anziehung, die auf das Knistern der Geschlechter zu reduzieren nur unzureichend beschrieben wäre, ich wußte nicht genau, was es war, ahnte eine Kraft, die wirkte und die ich schon oftmals gespürt hatte, flüchtig wie ein Brise süßlichmodrigen Herbstwindes: etwas Wohliges und Unheimliches zugleich. Während ich aß und redete und ein sich verselbständigender Wort­wechsel zumeist mit Zarah stattfand, nahm ich in meinem linken Sichtfeld die linke Hand von Nadine wahr, den Unterarm, der dünn war, hell, die Finger filigran, so wie alles an ihr zurückhaltend und tastend wirkte, unaufdringlich, auch ihre recht große Nase wirkte dezent im schmalen, feinen Gesicht. Nadine war Musikstudentin, mit Querflöte im Hauptfach und Tinnitus im Ohr. „Aber eigentlich bin ich wegen etwas anderem hier“, hatte sie an unserem ersten ge­meinsamen Abend im Speisesaal gesagt.

      Nach dem Essen stand die Jungengruppe auf meinem Plan. Ingrid, die für Bewegung und Tanz zuständig war, hatte brennende Kerzen in der Turnhalle verteilt. Die Woche zuvor hatten wir Jungenspiele gespielt, Völkerball, Hallenhockey, archaisch laut ging es zu und mancher war erstaunt, wie furios ich bei den Ballspielen war, ein Stürmer und Dränger mit dem labberigen Plastikschläger, und meine Würfe beim Völkerball sollen die härtesten gewesen sein. Jetzt hatte Ingrid den Raum in Kerzenlicht und herunter ge­dimmte Halogenidylle gehüllt, wir waren nur eine kleine Gruppe von sieben oder acht Kerlen, alle im jahrgangsnahen Alter von Anfang zwanzig bis Ende dreißig. „Wir sind jetzt ganz unter Männern“, sagte Ingrid, „wir brauchen uns nicht zu bewähren“, sie hatte das „Selbstverständnis als Mann“ als Thema mit­ge­bracht, wie sie sagte, und sie fragte uns, ob wir damit ein­verstanden waren, wir nickten. Außer dem Thema hatte sie noch groß­formatige Bögen Papier dabei, sowie Stifte, bunte, schwarze, Kreide, Filz, Pastell. Sie bat uns, in aller Stille uns selber zu malen, und keiner fragte nach oder feixte, wir legten die Bögen auf den Boden und malten uns selbst.

      Eine Stunde später saßen wir im Halbkreis. J. hatte sich lässig gegen die Wand gelehnt, M. saß aufmerksam im Schneidersitz, C. mehr liegend als sitzend, den Kopf auf den Ellbogen gestützt. D. hatte den Mut, als erster sein Bild in die Mitte zu legen. Wir guckten und staunten, ich beneidete ihn um seine Fähigkeit, zu zeichnen: ein schöner nackter Männerkörper war zu sehen, auf dem Bauch gelegen, die Beine leger verschränkt, das Kinn in die Hand gelehnt, D. schien in einem vor sich auf dem Boden liegenden Buch zu lesen. Der ganze Körper war bis in die Kniekehlen realistisch gezeichnet, die Muskeln und sogar sogar die einzelnen Muskelstränge waren zeichnerisch ange­deutet, und die Proportionen stimmten bis ins Detail. Ingrid sagte, das Bild sei von bestechender Ästhetik, doch darum ginge es jetzt nicht und sie bat uns, zu sagen, was uns auffiel, und wir sagten dieses und jenes und dann dies und das und bescheinigten D. in der Gesamtheit ein durch und durch gesundes Verständnis von Männlichkeit.

      Jetzt lag mein Bild in der Mitte, und die anderen schwiegen und betrachteten es, so auch ich. Mickrig war das Männchen, das ich malte, die Ärmchen zu dünn, die Taille wespengleich, die Füße viel zu lang. Die anderen guckten ernst und ich war willens, die Situation mit einer selbstironischen Bemerkung auf­zulockern, wie es mir oft und spielerisch leicht bei den Mahlzeiten mit Zarah und Nadine gelang, doch jetzt wollte mir nichts Geistreiches einfallen, also schwieg ich, von mir selbst enttäuscht und ein wenig betreten. J. sagte, der Kopf sei zu groß im Verhältnis zum Restkörper, die Brille dominant, obwohl es tatsächlich nur ein dünnes, schwarz gerundetes Gestell war. C. sagte, die Arme seien die eines Käfers, und auch die Beine seien viel zu dünn, der Körper wirke insgesamt recht zerbrechlich, steif und starr, zu gerade geraten, wie mit dem Lineal gezogen, und M. sprach den Lenden­bereich an, den ich bewußt ausgelassen hatte, und genau das sagte er jetzt: „Mir fällt auf, dass du den Lenden­bereich schwarz schraffiert hast, als wolltest du nicht, dass er existiert“, und ich hörte zu, als die anderen mein Bildnis kommentierten, und sagte weiterhin nichts. Nachdenklich waren wir alle, als wir nach zwei Stunden auseinander stoben. M., der ein paar Jahre älter war als ich und fast wahnsinnig geworden war, nachdem ihn seine Frau wenige Wochen zuvor verlassen hatte, legte seinen Arm um meine Schulter, als wir hinüber liefen zum Haupt­gebäude.

      Später am Abend ging ich mit M. in eine der beiden Dorfkneipen. Einer unserer Ärzte schäkerte mit einer neuen Kollegin, sie grüßten uns verstohlen und wir zurück, wir bestellten große, helle Biere, und achteten darauf, dass wir uns nicht betranken. M. sagte: „In der Psychiatrie war ein junges, dürres Mädchen, das ist mir überall hinterhergelaufen. Wenn ich zum Kaffee­auto­maten ging, kam sie hinterher, wenn ich in den Ergo­raum ging, trottete sie mir nach, und wenn ich aus meinem Zimmer kam, wartete sie bereits auf dem Gang auf mich.“

      Vor dem Frühstück hatte ich einen Termin bei einem Arzt, der den Ruf eines Übervaters der systemischen Auf­stellung hatte, man konnte ihn zu­sätzlich zu den Gesprächen mit dem Bezugsarzt um einen Termin bitten, und manchmal, wenn ihm die Person interes­sant erschien, gewährte er einen. Ich berichtete, nach­dem er mich dazu aufgefordert hatte, alles, was ich bis zum damaligen Zeitpunkt über mich wußte, von dem Vorfall in der Nordsee und meiner chro­nischen Rat­losigkeit, von den soma­tischen Kapriolen und der dumpfen Verzweiflung, die mich seit jeher begleitete. Der Arzt schaukelte seinen schweren Kopf hin und her, kratzte sich dann und wann am Kinn und sagte in regelmäßigen Ab­ständen: „Fahren Sie fort...“ Nachdem ich aus­erzählt hatte, musterte er mich und sagte: „Stellen Sie sich mal hin“. Der Übervater forderte mich auf, zu wippen, und als ich wippte und nachdem er das eine Weile betrachtet hatte, setzte er mir einen kurzen Stoß in den Rücken und faßte mich an den Schultern, bevor ich strauchelte. Er sagte: „Sie haben keinen festen Stand“, und ich entgegnete: „Deshalb bin ich ja hier.“

      Er setzte sich auf den Drehstuhl, blickte mir tief in die Augen, sagte