Amnesia Orange. Martin Rose

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Название Amnesia Orange
Автор произведения Martin Rose
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742744234



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gesagt, dass ich Glück gehabt hatte, dass wir beide in die Brandung und in die Strömung gegangen waren, von einer Welle waren wir gepackt und herunter gedrückt worden, und nach Minuten erst war ich aufgetaucht, doch von meiner Schwester hatte man noch nicht einmal den leblosen Körper gefunden, nicht am selben Tag, nicht am nächsten und auch nicht am über­nächsten, hieß es in der Überlieferung meiner Eltern, und ich konnte mich an all das nicht erinnern.

      Noch heute erinnere ich mich lediglich an Bilder von ihr, an die wenigen, die meine Mutter aus der Asche gerettet hatte, in einem verschlossenen Holzkästchen auf­bewahrte und mir manchmal, wenn mein Vater nicht im Hause war, überließ. Sie sind mit Tiefen­schärfe in mir gespeichert: zwei schilf­grüne, un­gewöhn­lich große Augen, mit frühreif kokettem Lächeln, die schwarzen Haare zu knappen Zöpfchen gebunden, die wie Lauch­strünke von ihrem schmalen, blassen Gesicht abstehen. Manchmal geraten die Bilder in Bewegung, verändern sich wie ein Phantombild auf dem Bildschirm eines Kriminal­isten, bekommen Kon­turen, wenn ich mir vorstelle, wie sie später aus­gesehen hätte. Ich sehe sie vor mir mit zwölf, mit fünfzehn, als junge Frau, ich sehe ihr Gesicht von heute: Sie hat nach wie vor ein mädchenhaftes Antlitz, ein paar Fältchen um die Augen, die Lippen schmal und weich, der Teint blaß und schön, ein neugieriger, wacher, schilfgrüner Blick. Die schwarzen Haare trägt sie glatt nach hinten bis kurz über die Schulter fallend, von einem Haarreif über der Stirn gehalten, und so frühreif erwach­sen sie aussah, als sie neun Jahre alt war, so wirkt das Gesicht jetzt mädchenhaft und jung.

      Es gab Situationen in meinem Leben, nach Tagen, an denen ich nicht an sie gedacht hatte, da sah ich eine Frau in der U-Bahn, ein junges Mädchen auf einem Bahnsteig, eine junge Mutter mit Kinderwagen auf der Straße, und ich erschrak, weil ich meine Schwester sah, einen Kinder­wagen schiebend, auf einen Zug wartend, verträumt in der U-Bahn in einem Buch lesend, vielleicht spielte sie mit der rechten Hand an einer Strähne, versunken in eine andere Welt. Es fällt mir schwer, zu beschreiben, was in solchen Augenblicken in mir vorging, ein Glücksgefühl überkam mich jedes Mal mit Wucht, und dann Erschrecken, Verwirrung, Schuldgefühl.

      Wenn ich als Jugendlicher und junger Erwachsener in den Alben geblättert hatte, sah ich die blinden Flecken, die sich wie quadratische und rechteckige Schatten über die bebilderten Familienarchive legten. Von manchen der verbliebenen Fotos, die ein hauch­dünnes, per­gament­ähnliches Papier voreinander schützte, schien ein Teil abgeschnitten worden zu sein, die mit geradem Scheren­schnitt verkürzten Bildflächen sahen aus wie korrigierte Nah­aufnahmen aus meiner Kind­heit. Und auch heute noch, wenn ich mir die Fotos ansehe, stechen mir die Freiflächen, die durch den stärker verblaßten Hintergrund beinahe wie ein­gerahmt wirken, ins Auge. Es gibt ein anämisch wirkendes Foto, das mich am Strand zeigt, das Meer liegt hinter mir und ich blinzele, und an der Stelle, an der das Bild abrupt endet, sind zwei Finger zu sehen, die auf meinem rechten Unterarm liegen, zwei blasse, schmale Mäd­chen­­finger.

      Ich erinnere mich, wie ich als Junge, ich muß zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, meinen Vater dabei beobachtet hatte, wie er die Bilder vernichtete. Ich konnte, als habe ich eine Vorahnung gehabt, nicht schlafen, ging zu fortgeschrittener Nachtstunde die Treppe hinunter in die untere Etage. Ich sah meinen Vater durch den Türspalt, sah, wie er auf dem Boden kniete und in Zeitlupentempo die Alben wälzte, einzelne Fotos herausnahm und andere mit einer Schere be­arbei­tete, bevor er sie dem Album entnahm und in das Feuer des Kamins warf. Manchmal wippte sein Kopf eine Weile hin und her, ein ver­langsamtes Nachnicken, bevor er sich der nächsten Seite zu­wendete. Lautlos setzte ich mich auf eine der kalten Stufen der Steintreppe, hörte das Lodern des Feuers, das metallene Geräusch, wenn mein Vater die Schere auf den hellbraunen Kachelboden legte.

      Vielleicht saß ich auf der Treppe eine Stunde lang, vielleicht länger, ich mußte eingenickt sein, denn mein Vater, den ich nach wie vor durch den Türspalt sah, saß jetzt im Lehnsessel. Er war blaß und regungslos und blickte auf einen auf dem Boden vor sich liegen­den Punkt. Von rechts, aus der Küche kommend, hörte ich die leisen Schritte meiner Mutter, die vor dem Kamin stehen blieb. Im Feuer wölbten sich die letzten Ecken und Kanten der Fotos, sie lösten sich auf mit leisem Zischen und einer kleinen bunten Stichflamme. Meine Mutter ging zu meinem Vater, rüttelte ihn sanft, und nachdem er nicht reagierte, ertastete sie seinen Puls, legte ihr Ohr an seinen Mund, schüttelte ihn fester, und als er die Augen zum ersten Mal bewegte, meinte ich, ein Schluchzen zu hören. Meine Mutter beugte sich vornüber, legte ihren Kopf auf die Brust meines Vaters und umklammerte ihn. Sie strich mit dem Handrücken über seine Wange, und mein Vater sah meine Mutter ratlos und verloren an, er ließ sich an ihrem Arm aus dem Lehnsessel ziehen, und ich hörte meine Mutter sagen: „Du legst dich ins Bett, ich mache dir eine Kraftbrühe und einen Lindenblütentee, du legst dich jetzt hin“, und als sie ihn zur Wohn­zimmertür führte, lief ich lautlos die Treppe hinauf und verkroch mich unter meiner Decke.

      Braun

      Hell war es geworden, in diesen Tagen, hell der Himmel und weiß das Land. Ich sah, wenn ich aus dem Fenster blickte, den Alpengürtel in der Ferne, der sich durch mein Blickfeld erstreckte, die Gipfelzacken sahen aus wie in Beton gefaßte Glasscherben auf einer Schutzmauer. Direkt vor mir, wenn ich geradewegs nach vorne blickte, erhob sich der höchste Zacken, ein kleines Dreieck, das sich aus meiner Perspektive gleich oberhalb der Kirche mit dem Zwiebelturm, das zum österreichischen Dorf gehörte, befand. Morgens, wenn der erste Dämmer durch das Tal kroch, schimmerte der Himmel hinter den Gipfelspitzen zartrosa und blau­grau, die Luft schien zu vibrieren. Manch­­­mal thronten die Bergketten hin­ter­­einander in der Tiefe des Raumes, wabernd hoben sich die Dunst­felder aus den Tälern. Sie tat mir gut, diese Weite, ich mochte das Tal, das hinter unserem Gebäude sacht über Wiesen abfiel und sich auf der anderen Seite bis zum Dorf, das sich ganz oben auf dem Kamm befand, dehnte. Das kleine dunkle Wäld­chen zur rechten, Wiesen, die Zäune, auf denen sich Schneekristalle zu Trauben festgefroren hatten, Bauern­häuser und Gehöfte in der Ferne: es war ein schöner, ruhiger, ein wohltuend ab­geschiedener Ort.

      Ich hatte mir angewöhnt, allein spazieren zu gehen, jeden Tag zwei Stunden, stapfend durch den Schnee. Ich schwamm meist spätabends, wenn das Becken leer war, sprang von der abgerundeten hellblauen Stein­kante an der Stelle, an der auf einem hübschen Messing­­schildchen stand: „vom Beckenrand springen ver­boten“. Ich durchbrach das Wasser, Wellen schlugen hoch, wenn ich meine Bahnen zog, aus­dauernd, rauschhaft schnell, ich spürte mein Herz rasen und gegen das Brustbein klopfen.

      Vor dem Mittagessen besah ich mir die Nazarovsche Rüttelmaschine. Doktor Humpe hatte gesagt, sie sei ein gutes Begleittraining, um meine dürftige Muskel­masse ein wenig aufzubauen, ein Gerät, das nichts anderes tat, als zu vibrieren, es war ursprünglich für sowjetische Kosmo­nauten entwickelt worden. Die Schwingungen, sagte er, stimulierten die Muskel­stränge und förderten die Durchblutung, das konnte nicht schaden, in meinem Fall war es sogar ratsam, dennoch sollte ich den Frühsport nicht vergessen. Jetzt befand ich mich auf dem kleinen Dachboden der Turnhalle, in dem die Tischtennisplatte stand und der Boxbeutel hing, ich fand die Maschine hinter einem Vorhang, hinter dem sich der Durchgang zu einem kleinen Lagerraum verbarg, genauso wie es mir Doktor Humpe beschrieben hatte.

      Sie bestand aus einem metallenen, würfelähnlichen Kasten, der auf einem sonderbar leichtfüßigen Gestell aus metallischen Streben befestigt war. Auf dem Kasten war ein mit Gummi überzogener, gerundeter brotlaibförmiger Körper montiert. Das ganze Gebilde konnte man nach Belieben in seiner Position verstellen, es sah in seiner Zerbrechlichkeit aus wie ein eisernes Streichholztier mit einer großen und einer kleinen Kastanie, Pferd oder Hund, man konnte es wie bei von Kindern gefertigten Figuren nicht so recht unterscheiden. Doktor Humpe hatte gesagt, dass ich mich auf einen Stuhl setzen und die Füße auf den laibähnlichen Körper legen sollte. Ich suchte zunächst den Einstellschalter, machte einen Probelauf, indem ich alle vier Geschwindigkeiten nacheinander ein­stellte. Es summte recht unspektakulär und ich mußte genau hinsehen, um zu bemerken, dass der Laib sich bewegte, ganz sachte, ein Zittern vielmehr. Ich setzte mich auf den Stuhl, nachdem ich den Laib herunter gebogen hatte, und legte meine Füße darauf.

      Es vibrierte. Ein angenehmer Schauder zog sich durch mein Muskelgeflecht bis hinauf