GEN CRASH. Peter Schmidt

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Название GEN CRASH
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847654711



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hätte treffen können. Wie schmal ist der Grad, der uns vom Wahnsinn trennt? Er kämpfte mit einem unsichtbaren Gott – oder einem ganzen Universum verborgener Dämonen und Götter –, und offensichtlich war es ihm nicht mehr möglich, seine Niederlage einzusehen.

      Ich telefonierte den Vormittag über in der Stadt herum, um mit Forum zu sprechen. Seine Sekretärinnen versicherten mir, er sei eben aus dem Haus gegangen; seine Frau behauptete, er befinde sich auf dem Weg ins Büro; der Pförtner im Glaskasten schwor, er habe ihn weder herein- noch herausgehen sehen, obwohl er als so unbestechlich galt wie die Kameraaugen im Foyer. Sie alle mussten es schließlich wissen.

      Ich probierte eine der Zigaretten, die Margrit gehörten und nach Stroh schmeckten, das Patentrezept gegen ihre Nervosität. Sie verstreute sie überall im Haus, um immer welche griffbereit zu haben. Man fand sie in Blumenschüsseln, Briefablagen, Bonbonnieren, unter dem Klavierdeckel, den Papieren auf meinem Schreibtisch und zwischen der Wäsche. Einmal hatte eine in der Regenrinne gelegen. Vielleicht war sie dort beim Fensterputzen vergessen worden. Aber da ich Nichtraucher bin, wäre sie für meinen Solarplexus Gift gewesen, sie hätte das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bezwecken sollte.

      Vor dem Mittagessen entschloss ich mich, Forums Geheimnummer anzurufen, seine Durchwahl für Notfälle. Ich war sicher, dass er mein Anliegen nicht als Notfall betrachten würde, aber was einen in Not bringt, ist schließlich Ermessenssache.

      Es gibt Vietnamveteranen, die sich im Regenwald zwischen Schlangen und Fallgruben wie zu Hause gefühlt haben und bei der ungewollten Schwangerschaft ihrer jüngsten Tochter den Verstand verlieren.

      Eine Frauenstimme erkundigte sich: "Dringlichkeitsstufe?"

      "Keine Ahnung, es ist dringend – aber wenn Sie mich fragen, welche Maßstab ich daran anlege "

      "Identifikationsnummer?"

      Ich nannte ihr meine Nummer. Da sie überflüssiger als der Blinddarm war und ich mich nur noch vage daran erinnern konnte, hatte sie genügend Zeit, sich die nächste Schikane auszudenken:

       "Bedauere, Ihr Adressat ist nicht im Büro."

      "Mein Adressat, aha. Sie meinen, Forum wäre mal eben kurz für kleine Jungen?"

      "Bitte keine Namen."

      "Ja, natürlich."

      "Er wird mit Ihnen Kontakt aufnehmen, sobald es möglich ist."

      "Danke, Gnädigste, herzlichen Dank. Ich habe nichts anderes erwartet."

      Als ich das Haus verließ, vergrub Herbert im Garten den Blätterabfall. Er würdigte mich keines Blickes. Sein Tornister sah so prall gefüllt aus, als sei er jederzeit abreisebereit, und sein Zimmerschlüssel lag hinter ihm auf der Fensterbank.

      Wenn er abgeschlossen hatte und Ruhe vor uns haben wollte, schob er ihn manchmal durch den Türschlitz – um uns Gelegenheit zu geben, seinen Leichnam zu finden, ohne dass wir dafür die Tür eintreten mussten. Ich hielt überrascht inne, denn dass er auch nur den kleinen Finger rührte, war eine neue Entwicklung. So umwälzend wie die Entstehung des Lebens in der Ursuppe.

      "Er hat gehört, was wir über ihn gesagt haben", raunte Margrit mir zu. Sie stand mit einem Korb an der Pforte, um den Lieferwagen des Eiermanns abzufangen. "Das Erkerfenster war offen. Er ist zutiefst beleidigt."

      "Immer noch besser als Selbstmord." Ich stellte das Garagentor hoch, um ins Zentrum zu fahren. Aber der Teufel der Zündkerzen und Verteiler, der verstopften Düsen und lahmen Batterien wollte an diesem Mittag, dass ich zu Fuß ging – also tat ich ihm den Gefallen.

      Als Zugereister fällt es mir immer schwer, dem bayerischen Leben, der Weißwürstel-Mentalität, den Krautorgien, den griffigen Riesenbiertöpfen, mit jener beiläufigen Lässigkeit zu begegnen, die dem Einheimischen in die Wiege gelegt ist. Meine Miene verklärt sich dabei, als versuchte ich mich auf peinlichste Weise anzubiedern.

      Deshalb nahm ich mein Mittagessen in einem gut abgedunkelten Stehimbiss ein, einer Turnhalle mit Säulen, altdeutschen Kronleuchtern und dem Ambiente süddeutscher Parteitage. Man aß im Stehen an kleinen runden Tischen. Die Portionen langten fürs Frühstück, Mittag- und Abendessen. Allerdings galt das Mitbringen von Abfüllbehältern als verpönt.

      Vielleicht war es das gute Essen, das meinen Entschluss bestärkte. Vielleicht hatte Sehlen recht mit seiner Meinung, dass alles Chemie sei. Die Gedanken als chemische Anhängsel. Kein Geheimdienst der Welt kann einen verpflichten, seine Seele zu verkaufen. Schon möglich, dass es von übergeordneter Stelle versucht wird. Mag sein, dass Hunderte, ja Tausende sich im Laufe ihres schäbigen Lebens verraten haben, ohne es selber zu bemerken. Die Sache hat viel mit den Verführungskünsten in rotbeleuchteten Bars und schummrigen Bordellen gemein.

      Ich zog es vor, mir mein Stück private Freiheit zu bewahren. Dieser Widerstand oder Entzug schloss Forum, Sehlen und selbst Margrit ein, von jener abstrakten Größe, die meine Arbeit war, ganz zu schweigen. Für Slava allerdings war ich bereit, auf der Stelle meinen Hals zu riskieren.

      Ich glaube, wir empfanden es beide als eine jener engen Vater-Tochter-Beziehungen, die dauerhafter als manche Ehen sind. Da ihr die Kerle nachliefen, als sei ein amerikanischer Filmstar eingeflogen, fühlte ich mich durchaus wohl in der großen Gemeinschaft ihrer Bewunderer.

      Man hat den Eindruck, etwas Bleibendes geleistet zu haben, und der Stolz wächst mit jeder Minute und Stunde ihrer stürmischen Blüte. Ich war bereit, mich für sie zu verleugnen, aber ich lehnte es ab, von Sehlen wie einer seiner unwissenden Zuarbeiter behandelt zu werden.

      Es war, als verkaufte ich dabei einen Teil von mir selbst – und meinethalben konnte man das auch Seele nennen – zu einem Preis, der in kümmerlichem Verhältnis zu dem stand, was ich aufgab.

      Um diese Zeit stand die Sonne wie eine stumpf glänzende Apfelsine über dem Isarufer. Vom Wasser wehten Fetzen kalten Dunstes herauf, in dem einzelne gelbe Blätter trieben. Die Silhouette der Häuser am gegenüberliegenden Ufer sah aus wie die steinerne Kulisse eines Kulttempels. Fragte sich nur, für welche Götzen.

      Ich versuchte die Tram zu besteigen, als neben mir ein Wagen hielt, eine jener gepanzerten Limousinen, die immer wirken, als zögen sie das Unheil an, den Schuss aus einem Granatwerfer oder den Kugelhagel einer Maschinenpistole.

      Forum sah aus dem Seitenfenster und winkte mir mit halb erhobener Hand zu, ganz Kardinal, der einem Priester Audienz gewährt. Sein sorgfältig onduliertes Haar kollidierte dabei mit dem Fensterrahmen; er schob es mit jener charakteristischen Geste zurecht, die ihm den respektlosen Kommentar eingetragen hatte, sein "Make-up" sei ihm wichtiger als jeder arme Agent, der für unsere Sache in den sibirischen Wäldern erfror.

      "Steigen Sie ein "

      Die Wagentür wurde aufgeschoben, und ich kam zum ersten Mal in den Genuss, eine seiner rollenden Gefechtsstationen von innen zu besichtigen. Palisanderholz, Messinggriffe, ein kleiner Farbfernseher, zwei Funktelefone, davon eines rot, die übliche Bar, um zwischen zwei Straßenecken nicht verdursten zu müssen, und Polstersessel im Farbton des Teppichbodens.

      "Zahlt alles der Steuerzahler", murmelte ich, während ich mich neben ihn in den weichgepolsterten Sitz sinken ließ.

      "Was sagten Sie?"

      "Donnerwetter, ich wusste gar nicht, dass wir solche Schlachtschiffe unterhalten?"

      "Die zusätzlichen Einrichtungen stammen von mir, Adrian. Der Steuerzahler hat keinen Pfennig dazugetan." Er ließ das Barfach auf einer Schiene aus der Konsole fahren. Seine Hand glitt über die Flaschenhälse. "Likör?"

      Ich schüttelte den Kopf.

      "Mein Mittagessen, wegen der Diät." Er goss sich einen ein, sparsam, als sei jeder Tropfen Gift für seine schlanke Linie. Es war einer jener übersüßten "Damenliköre", die er aus einem Dorf in den Abruzzen bezog. "Wie war Ihre Kontaktaufnahme?"

      "Sehlen scheint das Ganze als Ein-Mann-Unternehmen anzusehen. Er weigert sich, mich einzuweihen."

      "Er ist nur vorsichtig, Adrian."