Treibsand. M. Perthes Friedrich

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Название Treibsand
Автор произведения M. Perthes Friedrich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847671282



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am Eingang zur Bahnstation zeigte auf zehn Uhr. Seit Tim vor etwa zwei Jahren die Leitung für den asiatischen Absatzmarkt übernommen hatte, kam er selten vor acht nach Hause. Der Großteil seines Lebens spielte sich in der Firma oder auf Reisen in Asien ab. Neben ihm strömten die Menschen vorbei zu den Gleisen. Eingepackt in ihre dicken Wintermäntel vergruben sie die Gesichter in noch dickeren Schals.

      Seine Laune war mies. Er war müde und hasste es mit der Bahn von der Arbeit nach Hause zu fahren. Doch er hatte keine andere Wahl. Vor etwa fünf Monaten hatte man ihm den Führerschein entzogen. Mit einer Flasche Whiskey im Magen hatte er an einer Tankstelle für große Aufregung gesorgt. Tage später wurde davon bundesweit in den Medien berichtet.

      Die Rolltreppe fuhr ihn, eingeengt zwischen den Menschen, nach oben. Seine Wohnung befand sich nur etwa zweihundert Meter von der U-Bahn Station entfernt. Tim nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie noch auf der Rolltreppe an.

      „Können Sie nicht warten, bis Sie im Freien sind?“ „Können Sie nicht einfach jemand anderem auf´n Sack gehn?“ Er knöpfte seinen Mantel zu und lief in die Kälte hinaus. Sein Tag war anstrengend gewesen. Das chinesische Neujahr der Schlange hatte vor kurzem, am zehnten Februar, begonnen. Dies hatte meist zu Folge, dass die chinesischen Betriebe nach ein bis zwei Wochen Urlaub mit neuen Investitionsmittel wieder schnell aus der Arbeitspause starten wollten. Dennoch hatte er keine Lust in seine Wohnung zu gehen. Wann immer möglich vermied er momentan das Alleinsein. Also verbrachte er die Abende in den Bars in seinem Viertel. Dort war er ein gern gesehener Gast geworden. Mit dem Ziel seine Gedanken durch den Alkohol kurzzeitig zu vergessen.

      Die Straße führte geradewegs zwischen zwei Häuserreihen im englischen Stil vorbei, von der U-Bahn Station zu seiner Wohnung. Die winzigen Vorgärten waren gut gepflegt und mit dicken Eisentoren zur Straße abgetrennt. Tim nahm die erste Abzweigung der Straße und lief in eine schmale Seitengasse ein. Im Gehen befreite er sich von seiner weinroten Krawatte und stopfte sie zerknüllt in die Manteltasche.

      „Hi, Tim! Old Fashioned wie immer?“ „Hallo mein Lieblings Barkeeper! Ja Old Fashioned bitte!“ Während er antwortete, zog er seinen schneebedeckten Mantel aus und hängte ihn an einen eisernen Haken unter der komplett mit Mosaiksteinen besetzten Bar.

      „Kennst du denn noch andere?“ „Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest in wie vielen Bars ich verkehre.“ Er gab dem großen Barkeeper zur Begrüßung die Hand. „Jetzt versteh´ ich, wieso du solange nicht mehr hier warst. Hab´ dich ewig nicht mehr gesehn. Siehst scheiße aus. Was ist mit deinen Augen passiert? Siehst aus, als ob du im letzten Monat um fünf Jahre gealtert wärst.“ „Ist ja gut jetzt. Versprüh deinen Charme woanders! Bring lieber mal was zu trinken. Ich weiß, ich seh´ scheiße aus. Hab´ kaum geschlafen die letzten Wochen. War in China. Scheiß verrücktes Land, wenn du mich fragst. Zwei Wochen war ich dort. Jeden verfluchten Abend irgendwo in ´nen anderen Karaokeschuppen und sich die Birne weg knallen.“ „Klingt mir irgendwie gar nicht so fremd bei dir.“ „Jaja, halt die Klappe Don Carlos.“ Der Barkeeper hatte halb langes, lockiges Haar, das er mit haufenweise Gel nach hinten kämmte. Im Innern der Bar war es angenehm warm. Das Licht war gedämmt und aus den Lautsprechern tönte melodischer Late Night Jazz. Die Mosaiksteinchen entlang der langen Bar leuchteten dunkelblau im schwachen Licht. In den vielen Nischen im Raum standen verschiedene Hocker, Stühle und einige Sofas. Es gab einige kleine Einbuchtungen, in denen man ungestört sitzen konnte. Tim mochte diese Bar. Man bekam wirklich gute Drinks serviert. Der Barkeeper stellte das schwere Whiskeyglas, in dem er den Old Fashioned gemixt hatte, auf die Bar und kümmerte sich um andere Gäste, die eben angekommen waren. Das Glas von der Bar nehmend drehte sich Tim auf seinem Barhocker und ließ seinen Blick durch den nur schwach beleuchteten Raum schweifen. Er war bereits gut gefüllt. Es war ein gewöhnlicher Donnerstagabend. Ein Abend, an dem viele bereits das Wochenende einläuteten. Auf Tim aber wartete am nächsten Morgen wieder ein anstrengender Tag und er fühlte sich bereits ausgelaugt und müde. Lange würde er heute nicht bleiben können.

      Außer ihm befanden sich nur die zwei Frauen an der Bar, die eben erst durch die Tür gekommen waren und bei denen nun Carlos der Barkeeper stand und die Bestellung aufnahm. Die drei wirkten sehr vertraut. Vielleicht waren sie ebenfalls Stammkunden bei Carlos. Eine der beiden hatte langes blondes Haar, das sie seidig glatt nach hinten gekämmt hatte. Über ihren schwarzen Strumpfhosen trug sie Jeans Hot Pants und hohe lederne Stiefel. Ihr dunkles, figurbetontes Oberteil setzte ihre prallen Brüste perfekt in Szene. Sie stand Carlos lachend gegenüber und gestikulierte wild, als ob sie ihm eine Geschichte erzählte. Ihre Freundin war deutlich kleiner und etwas stämmig. Mit ihrem ungekämmten, halb langen, braunen Haar machte sie selbst im gedämmten Licht einen ungepflegten Eindruck. Für einen Augenblick haftete Tims Blick auf den beiden Frauen. Die linke Hand der kleine Braunhaarigen schob sich in die hintere Hosentasche der Hot Pants ihrer Freundin. „Wahrscheinlich lesbisch“, dachte sich Tim. „Passen irgendwie ins Klischee.“ Er wandte seinen Blick ab und kramte sein Handy aus seinem Jackett. Keine Nachricht!

      Sein Freund Nick hatte einmal zu ihm gesagt, er sollte über eine Therapie nachdenken. Etwas das ihm helfen würde die Situation zu konfrontieren. Vielleicht war das aber das Problem. Vielleicht war Konfrontation gar nicht das richtige, da er nichts Konkretes hatte, das er konfrontieren konnte. Mal hatte er Angst, dass ihr etwas zugestoßen war. Ein anderes Mal empfand er große Eifersucht und stellte sich vor, wie sie einen anderen Mann geheiratet hatte. Vielleicht musste sie das sogar. Dann wiederum empfand er große Wut. Sollte ihm also die Konfrontation wirklich helfen, müsste er dann nicht erst die Wahrheit herausfinden, die es zu konfrontieren gab?

      Als er von seinen Gedanken zurückkehrte, saß er auf seinem Barhocker an der Bar angelehnt und starrte gleichgültig in den verschachtelten Raum. Erschöpft nahm er einen großen Schluck von seinem Old Fashioned und zündete sich eine Zigarette an der Kerze auf der Bar an.

      Wie sollte er diese Wahrheit herausfinden? In der Zwischenzeit hatte er auch die unwahrscheinlichsten Ansätze verfolgt. Ihre Spur wurde immer unklarer. Gab es für ihn noch Hoffnung auf die Wahrheit? Hoffnung seine Probleme endlich zu konfrontieren. Hoffnung sie wiederzufinden, sich selbst wiederzufinden.

      Während er einen kräftigen Zug von seiner Zigarette nahm, kam ihm eine neue Idee. Ruckartig drehte er sich zur Bar. „Carlos!“ Seine Stimme war lauter als eigentlich gewollt. Einige der Gäste unterbrachen ihre Gespräche und hoben den Kopf. „Carlos, komm schon her.“ Dieses mal versuchte er leiser zu rufen. Dennoch mit Nachdruck. Carlos stand einige Meter von ihm entfernt und mixte gerade einen Cocktail. Sein Blick wirkte unverständlich. Er stellte den Drink auf die Bar und kam auf Tim zu. „Was ist denn? Was schreist du hier so rum?“ Aufgeregt nahm Tim einen weiteren Zug von seiner Zigarette. „Sag mal, spinnst du jetzt? Mach das Ding aus!“ „Carlos, gib mir einen Stift!“ „Hörst du mir eigentlich zu? Mach die Kippe aus! Hier drin darfst du doch nicht rauchen.“ „Jaja, ist ja gut. Gib mir schnell einen Stift!“ Der Gesichtsausdruck des Barkeepers verfinsterte sich etwas. „Jetzt mach erst mal die Kippe aus.“ Schnell füllte er ein kleines Glas mit Wasser und stellte es vor Tim auf die Bar. „Hab` dich mal nicht so großer Don Corleone. Wen stört das schon?“ „Mich! Und jetzt mach sie aus!“ Einen tiefen letzten Zug nehmend warf er anschließend die Zigarette in das Glas und blies Carlos den Rauch langsam ins Gesicht. „Sehr witzig Tim.“ „Jetzt entspann` dich mal. Wenn du weiterhin zu deinen Stammkunden so grimmig bist, geht dein Laden pleite und dann musst du wieder zurück ins Waffen- und Drogengeschäft. Da sind Männer mit solchen Frisuren gern gesehn.“ Grinsend reichte er das Glas mit der erloschenen Zigarette über die Bar. „Kannst du mir jetzt bitte schnell einen Stift und ein Papier bringen.“ „Ist ja gut. Für was brauchst du das denn so dringend.“ „Geht dich nichts an! Hab Gedanken, die ich festhalten muss.“

      „Wo ist eigentlich diese hübsche Kleine, mit der du sonst immer hier warst?“ Carlos reichte ihm einen kleinen Block und einen Kugelschreiber. „Kommt mir vor, als ob ich sie Monate nicht mehr gesehen habe. Kommst immer allein mit deiner miesen Laune.“ Tim hob seinen Kopf und riss ihm beides aus der Hand. „Geht dich auch nichts an. Stell` nicht so viele Fragen!“ In einem Zug trank er seinen Old Fashioned aus und knallte das Glas auf die Bar. „Noch mal einen!“

      Als er wieder von dem Block aufschaute, stand sein nächstes Glas schon neben ihm.