Schatten über Fehmarn. Gerda M. Neumann

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Название Schatten über Fehmarn
Автор произведения Gerda M. Neumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746715018



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ist diese Insel gar nicht.«

       Auf dem Rückweg nahm Olivia den ein oder anderen Stein auf und drehte ihn in der Hand. »Hier könnten die Straßenbauer von Burg ihre Steine gesammelt haben, es gibt genug davon. Baden kann man hier allerdings weniger, oder?«

       »Nein, deswegen ist es hier auch im Sommer ziemlich leer, und zum Wandern ziemlich schön. Manchmal sieht man Angler, sie stehen sogar im Wasser, so flach läuft das Land hier unter die Meeresoberfläche.«

       »Für Schiffslandungen gänzlich ungeeignet… Eigentlich schade, als Kulisse für Seeräuber könnte ich es mir ganz gut vorstellen.«

       Die Karte und ihr Kompass lenkten sie weiter nach Norden. Dieses Mal standen sie auf einem Deich. Dass die Insulaner eine solche Schutzmaßnahme für notwendig gehalten hatten, wertete Olivia als einen erleichternd menschlichen Zug an ihnen. Der Strand vor ihr war eine Mischung aus Sand, Steinen und Algen, und hinter dem Wasser sah man wieder Land, deutlich näher als Mecklenburg.

       »Das ist Dänemark, die Insel Lolland. Es gibt den Plan zu einer Brücke zwischen hier und drüben… Die Leute streiten über…« Amanda verstand ganz plötzlich, was der Sonnenstand ihr mitteilte. »Das ist jetzt gleichgültig. Lass uns weiterfahren. Da wir nun mal dabei sind, möchte ich dir auch die Westküste zeigen und das Licht schwindet ähnlich wie der Sand zwischen den Fingern. Ganz klein ist Fehmarn eben doch nicht. Beruhigend?«

       »Schon irgendwie. Dieses Burgtiefe auf Sand ins Wasser gebaut weckt den Bergbauern in mir, der Wasser lieber trinkt als hineingerät.«

       Der Deich schützte die Insel auch im Westen. Hier grasten sogar Schafe auf ihm und landeinwärts wuchsen in seinem Windschatten niedrige Kiefern. Endlich zeigten sich wieder kleine Kobolde in Olivias Augenwinkeln: »Fehmarn wird nicht untergehen, ich sehe es jetzt selbst – wozu gehören die weißen Häuserblocks dort am anderen Ufer?« Ihr ausgestreckter Arm wies nach Süden.

       »Das muss noch Heiligenhafen sein, also das Festland von Schleswig-Holstein. Und wenn du dir eine gerade Linie etwas rechts an der untergehenden Sonne vorbei denkst, triffst du auf Angeln, ein hügeliges Stück von Schleswig-Holstein und die Heimat jener Abenteurer, die in tiefer Vergangenheit aufbrachen, England zu besiedeln.«

       »Die Angelsachsen… Amanda, ich beginne allmählich den Namen der Skulptur zu verstehen, die dein Freund für diese Insel geschaffen hat: ›Fehmarn, eine Brücke in Europa‹, ein Denkmal in des Wortes engster Bedeutung: Denk mal – darüber nach. Auf die vielen Steinblöcke voller Namen, die überall in Dörfern und Städten aufgestellt sind, trifft diese Bezeichnung weniger zu, sie müssten Erinnerungsmale heißen, die präzise Übersetzung des englischen ›memorial‹.

       »Apropos England. Auf der Rückfahrt muss ich dir noch eine Geschichte erzählen.« Während sie auf Burg zufuhren und in ihrem Rücken die Sonne unterging, begann Amanda: »Spring in Gedanken zurück in die Jahre 1945/46. In London tagt eine Konferenz, um das besiegte Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen, neunzehn Monate lang. Dabei hätten es zwei weniger werden können, aber der russische Botschafter hatte sich an Fehmarn festgebissen. Die Kornkammer in der Ostsee wollte er auch noch haben. Doch der englische Unterhändler erkannte Fehmarns strategische Lage: Die Russen hätten sich weit in den Nordwesten bis vor die Küste Dänemarks geschoben. Das wog noch schwerer als das Getreide. Und Lord Strang führte die Geschichte ins Feld: Seit Jahrhunderten gehörte Fehmarn zum Norden, mal zu Dänemark, dann zu Holstein, immer abwechselnd, aber niemals zu Mecklenburg. Er blieb stur, obwohl die britische Regierung ihm freie Hand gegeben hatte. Und eines schönen Tages ließ der russische Botschafter seine Forderung fallen, als wäre sie nie ernst gemeint gewesen. Fehmarn verdankt Lord Strang zweiundvierzig Jahre in Freiheit! Auch wenn die Insulaner selbst diese Tatsache erst fünfzehn Jahre später herausfanden.«

       »Genau genommen verdankst du diesem Diplomaten die schönsten Sommerferien deiner Kindheit,« spann Olivia die Geschichte fort.

       »Du wirst lachen, das ist nicht einmal nur Zufall. Er gehört in die weitläufige Verwandtschaft meines Vaters. Der war damals noch sehr jung, aber da sich das diplomatische Leben von William Strang eineinhalb Jahre nur um Deutschland drehte und davon zwei Monate ausschließlich um Fehmarn, sprach er im privaten Kreise ebenfalls davon und im Kopf meines Vaters setzte der Name sich so fest, dass er Mutter und mich mitnahm, als ihn dreißig Jahre später eine Geschäftsreise nach Hamburg führte. Im Anschluss an eine Woche Stadtbesichtigung verbrachten wir unsere Sommerfrische – noch so ein anschauliches deutsches Wort – das erste Mal auf Fehmarn.«

      Kapitel 2

      Eine Stunde später stiegen die beiden Engländerinnen die Stufen zum Hotel im Zentrum von Burg hinauf. Amanda übernahm die Führung. Der Raum, den sie hinter einem kurzen Gang und einer weiteren Tür betraten, nahm sie mit abendlich gedämpfter Beleuchtung auf. Er war lang und schmal, lang auch die Bar, neben der Amanda stehen blieb. Ihre Augen streiften über die hohen kleinen Tische nach links bis zu den beiden Fenster, hinter denen die Straßenlaternen den Markt draußen beleuchteten, über die hohen Tische an der gegenüberliegenden Wand zurück: kein bekanntes Gesicht. »Alexander ist noch nicht da. Also setzen wir uns an einen der niedrigen Tische dort gegenüber der Bar und essen etwas Warmes, bis er kommt.«

       Sie nahm mit dem Rücken zur Wand Platz, den Eingang wie beiläufig im Blick. Der sie umgebende Raum wirkte vollständig dunkelrot, doch bei genauerem Hinsehen standen die Möbel auf Parkett und die Wände waren hell gestrichen. Amandas Hand glitt über den Bezugstoff neben sich: »Blutroter Alcantara… wie es hier vor fünfundzwanzig Jahren aussah, habe ich vergessen.«

       »Natürlich. Warum sollte ein Kind sich für Inneneinrichtung interessieren… Da Alexander Hyde nicht da ist, erzähl mir genauer von seinem Denkmal, bis er kommt, magst du?«

       »Es gibt nichts zu erzählen, da muss ich dich leider enttäuschen, ich kenne es so wenig wie du. Die feierliche Enthüllung findet morgen statt, das weißt du. Vielleicht gerät der Festakt zu einer eigenen Überraschung, Offizielles liegt Alexander wenig. Seine Auftraggeber, eine hiesige Bürgervereinigung, wird sich vermutlich genau das vorstellen, Reden und Blasmusik und die örtliche Presse. Wir werden sehen, wer von beiden sich durchgesetzt hat.« Amanda spürte das Lachen in sich aufsteigen.

       »Dann erzähl mir von ihm: Wie sieht er aus, was für ein Leben führt er?«

       »Willst du nicht lieber wissen, was für Kunst er macht?«

       »Später, wenn noch Zeit ist. Bilder schaue ich mir eigentlich lieber an als sie mir beschreiben zu lassen.« Ihr alter Übermut blitzte in Olivias Augen auf. In diesem Raum mit seinem gedämpften Licht, der leisen Musik und heißem Tee vor sich, der Bar kehrte sie in doppelter Weise den Rücken zu, hatte sie das Meer vorübergehend vergessen – so schien es Amanda zumindest.

       »Also gut. Er ist ungefähr so groß wie ich, also für einen Mann eher klein, und sehr schmal. Da seine Bewegungen leicht und flink sind, erinnert er mich immer wieder an einen Vogel. Manche halten seine Bewegungsweise für nervös, ich glaube das aber nicht. Ich habe ihm manchmal bei der Arbeit zugeschaut. Auch wenn er ruhig und konzentriert ist, bewegt er sich in dieser vogelhaften Weise. Seine Augen sind graublau und seine Stirn sehr weiß, darüber stehen braune Haare in die Luft, weil er beim Denken und beim Reden immer mit den Fingern hindurch fährt.«

       »Und wie kam er ausgerechnet nach Fehmarn?«

       »Zufall, glaube ich. Und eine Neigung zu kleineren Inseln als England eine ist. Als ganz junger Maler hat er einige Jahre in der Südsee gelebt. Dann war er wieder da, malte Stadtbilder wie ein Wahnsinniger, als wollte er sich in London hinein wühlen… bis er nach Fehmarn verschwand. Er hatte bei einer Ausstellung in irgendeiner Galerie im Westend Felix Picard kennengelernt. Der ist Deutscher, verbringt seine Sommer seit ewig hier auf der Ostseeinsel und erzählte ihm davon. Das, was Alexander sich beim Zuhören vorstellte, schien genau zu passen. Er fuhr hin, blieb den ganzen Sommer und kam in den folgenden wieder.«

       »Kennst du diesen Felix Picard?«

       Die Antwort beschränkte sich auf ein leichtes Kopfschütteln. Amanda sah zum Eingang. Da sie schwieg, wandte Olivia sich um, schließlich sollte man wissen, was sich im eigenen Rücken abspielt. Ein großer Mann um die Vierzig hatte den Raum betreten