Название | Schatten über Fehmarn |
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Автор произведения | Gerda M. Neumann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783746715018 |
Amandas Augen wanderten aus dem Fenster und zwischen den gelben Lindenblättern hindurch ins Weite. »Lass uns eine Runde um den Marktplatz drehen. Dabei kann ich meine Erinnerung spazieren führen und wir können Fischbrötchen kaufen, viele und verschiedene. Wenn deine hausfraulichen Gefühle draußen im frischen Wind andauern, könnten wir Kaffee kaufen und du kochst ihn dann. Starker heißer Kaffee gehört unbedingt zu Fischbrötchen, eigentlich mit Sahne und einem Schuss Rum, aber letzteres ist vielleicht unklug – wir wollen mit dem Tag ja noch mehr machen. Komm!«
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So spazierte Olivia Lawrence aus Fulham, einem friedlichen Londoner Stadtteil an der Themse, durch das noch viel friedlichere Burg. Die Breite Straße hieß nicht nur so, sie war es auch. Sie gingen auf der Seite mit dem hohen Gehsteig, der hinter den Bäumen mit einer an die vier Meter breiten Schräge zu Straßenmitte abfiel. ›Ich komme mir vor wie auf einem Deich‹, stellte Olivia bei sich fest, ›und die Steine, die die Schräge halten, sind sicherlich vom Meer so rund gewaschen, am Strand gesammelt und hier dicht an dicht wie Kopfsteinpflaster aufgebracht – völlig unbrauchbar, um darauf zu gehen. Weder auf diesen kleinen Buckeln noch auf den Grashängen der Deiche draußen am Strand sollte man gehen, so ist das wohl, das dürfen nur die Schafe und übermütige Kinder.‹
»Olivia,« unterbrach Amanda ihr schweigendes Erinnern und die Gedanken der Freundin, »der Himmel ist so blau und der Wind so weich und wir haben noch fast einen halben Tag für uns,« sie blieb stehen und deutete mit einer leichten Kopfbewegung nach rechts, »hier in diesem Hotel treffen wir uns heute Abend mit Alexander. Ich nehme mal an, er bringt seine beiden Malerfreunde auch mit. Wir wissen jetzt, dass wir bei zügigem Tempo vermutlich fünf bis sieben Minuten von unserer Wohnung bis hierher brauchen statt einer halben Stunde wie jetzt. Lass uns die Ortsbesichtigung abbrechen, alles notwendige zum Essen kaufen, dazu eine Landkarte. Und während du dich in unserer Küche einlebst und Kaffee kochst, stelle ich eine Inselrundfahrt zusammen.«
Das sagte sich so dahin. Amanda kniete eine weitere halbe Stunde später auf dem weichen Teppich, die Arme auf den Wohnzimmertisch aufgestützt und ließ ihre Augen über die Dörfer und die Küstenlinien laufen. Je länger sie das betrieb, desto mehr gerieten ihre Erinnerungen mit jenen Ortsnamen und Stränden in Konflikt, die sie vergessen hatte. Etwas weniger unternehmungslustig biss sie schließlich in das erste Fischbrötchen.
Als das Schweigen anhielt, machte Olivia behutsam einen Vorschlag: »Wir sollten zuallererst an den Sandstrand fahren. Wo ist er?«
»Ganz nah. Im Süden der Insel.«
»Wunderbar. Wir können dort einen Strandspaziergang machen oder aber, wenn dir das dann besser gefällt, ein Küstenstück im Osten, im Norden und zuletzt im Westen aufsuchen und uns immer vorstellen, was hinter dem Wasser liegt.«
»Das ist gut! Das machen wir.«
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Weit streckte sich das Land rechts und links der Straße. Amanda steuerte ihr dunkelbraunes Mercedes-Cabriolet langsam voran, was nicht häufig vorkam.
»Schau mal, da links hinten fährt ein Auto am Horizont…« Olivia war geneigt, das, was sie gerade sah, für einen Taschenspielertrick zu halten.
»Warum nicht, da verläuft sicher die nächste Straße.«
»Wenn du das sagst… Es ist wirklich ein flaches Land. Das nächste Dorf heißt Neue Tiefe. Richtig wohnlich klingt das in meinen Ohren nicht.« Häuser tauchten auf und waren vorbei. »War das alles?« erkundigte Olivia sich überrascht.
»Ja, alles. Was erwartest du? Fehmarn hat zweiundvierzig Dörfer. Wenn man die Einwohner von Burg abzieht, bleiben ungefähr achttausend Leute dafür übrig. Wenn du’s mit Arithmetik versuchst, wirst du rasch einsehen, was du erwarten darfst.«
Sie fuhren bereits wieder auf einem Damm. Links der Straße grasten Pferde auf Weidestücken, die wie Halbinseln ins Wasser ragten, so weit hinaus und so hinein verflochten, dass es Süßwasser sein musste, sonst würden die Pferde das Gras nicht fressen. Irgendwie beruhigte dieser Gedanke Olivia. Rechts waren ernstere Mengen Wasser zu sehen. Sie kamen erneut zwischen Häuser, ziemlich viele sogar und drei Hochhäuser. Amanda parkte ein und stieg aus. »Im Sommer gibt es hier mehr Touristen, oder Badegäste – ein schönes deutsches Wort, nicht wahr? – als Einheimische, jedenfalls hier in Burgtiefe. Komm!«
»Der Strand! Da vorn! Weißer weicher Sand, so weit du sehen kannst…« Amanda verstummte. Zügig ging sie den befestigten Strandweg entlang bis zum nächsten Holzsteg. Er führte zwischen Dünen hindurch und endlich ganz direkt in den Sand.
Olivia blieb ein wenig zurück und ließ die harten schmalen Blätter des Strandhafers durch ihre Finger gleiten. Gräser gefielen ihr, wo immer sie wuchsen und hier am Meer, wo sie das Land gegen Wasser und Sturm verteidigten, empfand sie so etwas wie Respekt vor der Lebenskraft und Durchhaltefähigkeit der Pflanzen. Schließlich ging auch sie weiter vor, nahm eine Handvoll Sand auf und ließ ihn ganz langsam durch die Finger rieseln. Das wiederholte sie wieder und wieder. Beide Hände griffen in die weiche Fülle und boten sie dem leichten Wind zum Spiel an. »Deine Erinnerung hat Recht, dieser Sand ist perfekt. Ich wüsste nicht, wo man an Englands langen Küsten so etwas finden könnte.«
Das war das größte Kompliment, das Olivia Fehmarn machen konnte, Amanda wusste das und freute sich. »Schau,« rief sie und streckte beide Arme aus, »wie weit du laufen kannst und der Sand hört nicht auf.«
»Sollen wir? Nach rechts oder nach links?«
Nachdenklich und prüfend schaute Amanda in beide Richtungen und dann aufs Meer hinaus. »Ich vermute, beides nicht…«
»Geradeaus ins Wasser hineinzuspazieren, wäre mir zu nass… Ist die graue Linie dort am Horizont Land?«
»Ja, das ist Mecklenburg. Ich glaube, dein Vorschlag von den vier Himmelsrichtungen entspricht meiner lästigen Unrast mehr als ein Strandspaziergang, selbst eine herzhafte Wanderung würde mich nur unruhig machen. Wie blödsinnig man sein kann! Also: auf nach Osten!« Sie ließen noch manche Handvoll Sand durch die Finger gleiten, während sie zum Holzsteg zurückgingen.
Trotz ihrer Unruhe steuerte Amanda langsam über die schmalen Straßen. Beide schauten über das weite Land. Viele Feldränder wurden von Kopfweiden gesäumt. Mit ihrem Herbstlaub standen sie wie durchsichtig in der flachen Weite. Zwischendurch tauchte Burg am Horizont auf. Die sturmtrotzende Kirche überragte die roten Dächer wie eine Festung. Wieder war ein Dorf zu Ende und eine Straße dehnte sich vor ihnen, bis erneut eine Lindenallee sie aufnahm.
»Dieses Land ist so flach, dass ich den Bäumen für ihren Schutz richtig dankbar bin,« stellte Olivia fest. »Eigentlich verstehe ich nicht, warum das Meer nicht einfach darüber hin braust, zumindest in einer Sturmnacht.«
»Die letzte Sturmflut liegt hundertfünfzig Jahre zurück. Warum soll das Wasser auf das Land fließen, wenn es einfacher darum herum strömen kann?«
»Weil das Land so flach ist!«
»Das Land, aber nicht die Küste. Gleich wirst du staunen.«
Sie gingen auf einen schmalen Waldstreifen zu. Amanda bestand auf dem Titel ›Wald‹, Olivia hätte sich eher für ›Hain‹ entschieden, schließlich sah man zwischen den Stämmen hindurch das Meer. Und dann war sie wirklich überrascht. Ein Pfad wand sich zwischen den Bäumen nach unten, er führte unbestreitbar abwärts. Sie traten ins Freie auf ein steiniges Stück Land hinaus. Dahinter lag das Wasser. Mit leisen glucksenden Geräuschen schlug es gegen die Steine, zog sich zurück und kam wieder, ohne Pause und ohne Hektik, beruhigend und freundlich. Sie gingen zwischen Land und Wasser dahin. Olivia schaute zu den Bäumen hinauf, sie standen zehn, wohl auch zwölf Meter über ihr. »Eine richtige Steilküste – die Überraschung ist dir gelungen!«
»Ja, nicht wahr?« Amanda löste den Blick vom Land und wandte sich zum Wasser. »Dieses Mal siehst du kein Land am Horizont, vor dir liegt die freie Ostsee, frei bis hinüber nach Riga und St. Petersburg. Die weite Welt der Hanse, wenn