Schatten über Fehmarn. Gerda M. Neumann

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Название Schatten über Fehmarn
Автор произведения Gerda M. Neumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746715018



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      Titelseite

      Gerda M. Neumann

      Schatten über Fehmarn

      Olivias vierter Fall

      Impressum

      Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.

       »Schatten über Fehmarn« erschien zuerst 2014 im Prospero Verlag, Münster & Berlin.

       Satz: Eleonore Neumann.

       Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.

       Bild: Reiner Binkowski

       www.epubli.de

       Verlag: Gerda Neumann

       Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

      Kapitel 1

      Olivia, schau! Siehst du da vorn die beiden Stahlbögen? Direkt in den Himmel… nein, sie beschreiben eine Kurve, neigen sich wieder nach unten… gleich einem Regenbogen…«

       Olivia schaute durch die Windschutzscheibe und summte leise – wie als Antwort. Amanda horchte auf und begann nach kurzem Zögern zu singen »Somewhere over the rainbow… Way up high… hmm… dreams… hmm… Once in an lullaby…« sie seufzte lautlos. »…once in a lullaby… der Bogen neigt sich für eine geschenkte Spanne Zeit zurück in die Kindheit.« Sie schüttelte ihre langen Locken: »Olivia, da hinter den Bögen, die eigentlich zur Sundbrücke gehören, liegt Fehmarn!«

       Olivia lachte. Seit Tagen, im Grunde seit Wochen, seit Amanda an die Tür ihres kleinen Hauses in London geklopft hatte, geisterte der Name dieser Insel wie ein Sesam-öffne-dich durch ihre Gespräche. Damals hatte die Freundin sie eingeladen, mit ihr auf die ferne Ostseeinsel zu fahren.

       Amanda sang noch einmal leise den Liedanfang, bevor sie fortfuhr: »Fehmarn, für mich bedeutet das Sommerglück: Meer, Wind, Sonne…« sie seufzte schon wieder, dieses Mal nur fast unhörbar, »…und wundervoller weißer Sand, so viel du willst. Du kannst dich in ihn einbuddeln, du kannst mit nackten Füßen durch die sonnengewärmte Fülle schlurren wie durch Herbstlaub im Park – da trägt man dann allerdings Schuhe. Der Sand jedenfalls rieselt weich und warm seitlich an den Füßen nach hinten. Die werden schließlich so schwer, dass du nachgibst und selber hinuntergleitest. Du streckst dich aus auf dem warmen Sand und schließt die Augen. Und dann beginnen die Hände von allein wieder mit dieser warmen Formlosigkeit zu spielen, sie aufzuheben und durch die Finger rieseln zu lassen, bis der Wind sie wie eine leichte Fahne davonträgt. Ach, du wirst sehen, wie schön es dort ist.«

       Inzwischen trat das Land seitlich zurück. Olivia war, als würde es nicht nur nach hinten sinken, sondern auch nach unten. Das schien die Freundin nicht zu empfinden, sie drängte nach vorn. »Jetzt sind wir über dem Meer! Und vor uns – siehst du das grüne Land? Das ist Fehmarn!« Amanda atmete tief durch. »Es ist so leuchtend grün wie es immer war, ganz als hätten wir Sommer und nicht Anfang Oktober.«

       In der Tat sah Olivia grün: Land, soweit das Auge blicken konnte, jedenfalls solange man seitlich nach vorn sah. Auf alle Fälle in genügender Menge, um wieder festen Grund unter den Füßen zu gewinnen, und so flach, dass man das umgebende Meer doch keinen Moment vergaß. Dagegen hatten die Fehmaraner Bäume gepflanzt, konstatierte sie dankbar, schon vor Generationen. Eine alte Pappelallee nahm sie auf, schmal und hochaufragend.

       Langsam steuerte Amanda ihren Wagen die gewundene Straße entlang: »Acht Kilometer ungefähr, hat Alexander gesagt, dann kommt ein Kreisel. Das ist nicht so lang, Kilometer sind keine englischen Meilen.«

       »Nein, bei weitem nicht, du bist jetzt auf dem Kontinent. Zumindest alle Längen und Gewichte sind hier anders als daheim in England.«

       »Das mit den Maßen stimmt. Aber den Kontinent haben wir schon wieder verlassen. Zumindest für die Fehmaraner ist ihre Insel ein eigener, der sechste Kontinent. Wenn sie aufs Festland fahren, sagen sie genau wie wir ›Wir fahren nach Europa.‹ Hier kommt der Kreisel, wir sollen geradeaus weiterfahren bis zum Ende der Straße.« Amanda hielt sich an die Anweisung ihres Freundes und rollte langsam in das kleine Städtchen, bis es geradeaus nicht mehr weiterging. »Schau links, die dicke, dicke rote Kirche!« Sie bog ab und rollte genauso langsam weiter: »Hier sieht es auch aus wie immer! Ich rechne es ja nicht gern vor, aber dennoch ist ein Viertel Jahrhundert vergangen, seit ich mit meinen Eltern hier die Sommer verbrachte. Im ganzen waren es vier – vier lange sonnige Sommer am Sand, im Sand, auf dem Sand und im Wasser. Ist es nicht schön?«

       Vor Olivias Blick erstreckte sich eine breite kopfsteingepflasterte Straße und wieder alte Bäume auf beiden Seiten, hinter denen rechts und links kleine alte Häuser standen, weißgestrichene oder rote, mit kleinen Fenstern und grünen Türen. Sie sah letzte Rosen an einigen Hauswänden aufgebunden blühen. Ja, es gefiel ihr und sie sagte es auch. Amanda war unterdessen der Wegbeschreibung Alexanders folgend weitergefahren und weiter abgebogen und hielt nun vor einem weißen Haus mit blauer Tür und blauen Fensterrahmen. In dieser Straße standen hohe alte Linden, fast zu Säulen zurückgeschnitten, aber dank des leuchtend gelben Herbstlaubes doch Bäume.

       Auf Amandas Klingeln hin öffnete sich die schwere blaue Tür und eine stattliche Frau mit kurzen braunen Haaren und lebhaften Augen streckte ihnen einladend die Hände entgegen. »Kommen Sie herein! Sie können gern Englisch mit mir reden, solange ich Ihnen auf Deutsch antworten darf. Wird das gehen? Ich bin Frau Nüßler.«

       Sie traten in die Diele, ein flüchtiger Blick rundum zeigte ihnen weiße Wände, einen weißen Fußboden und ein weißgestrichenes Treppengeländer, der Teppich auf der Treppe war blau. Und Bilder, meist in hellen, oft heiteren Farben: Blumen, das Meer, der Strand und die dicke, dicke Kirche, an der sie vorbeigefahren waren.

       Da Olivia sich umschaute, blieb Amanda nicht erspart, ihrerseits auf die herzliche Begrüßung zu antworten: »Ich darf mich vorstellen, mein Name ist Amanda Cranfield. Ich habe in der Schule ungern Deutsch gelernt, um so lieber in den Sommern hier auf Fehmarn. So weit es möglich ist, werde ich in Ihrer Sprache zu reden versuchen. Das ist,« sie fasste Olivia leicht am Arm und erreichte, dass diese mit einem verschmitzten Lächeln die Füße nebeneinander stellte und sich leicht vor Frau Nüßler verbeugte, »das ist meine Freundin Olivia Lawrence. Sie ist nur zur Hälfte Engländerin, ihre Mutter ist Österreicherin und dort spricht man, glaube ich, auch eine Art Deutsch.« Frau Nüßler lachte und griff nach Olivias nun ausgestreckter Hand. Die war aus dem weiten Ärmel eines großen, dunkelgrünen Rollkragenpullovers zum Vorschein gekommen. Dazu trug sie wie fast immer eine schmale, schwarze Hose und Ballerinas – ohne Schleifen. Schleifen waren an Olivia undenkbar, nicht nur auf den Schuhen. Umstandslos ging Frau Nüßler ihnen voran die blaue Treppe hinauf und zeigte ihnen ihre Wohnung. Mit der einladenden Aufforderung, jederzeit unten bei ihr anzuklopfen, verließ sie ihre Gäste.

       Die Freundinnen sanken in die schweren Sessel und fühlten sich recht behaglich. Gelb und weiß waren die Farben des Wohnzimmers, dazu helles Holz mit mehreren Metern Büchern auf den offenen Brettern, vor einem der beiden Fenster ein gewaltiger Flaschenbaum und Bilder an den Wänden in der gleichen leichten Farbigkeit wie unten in der Diele. Olivia betrachtete sie nachdenklich: »Sie sind auf eine unprätentiöse Weise schön, nicht wahr? Wer sie wohl gemalt hat?«

       Amanda drehte sich nach dem Strand über ihrem Kopf um: »Keine Signatur. Vielleicht hat Frau Nüßler sie gemalt, an langen dunklen Winterabenden, wenn draußen der Sturm tobt und den Regen gegen die Scheiben treibt… Im Winter möchte ich, glaube ich, nicht hier leben.«

       »Obwohl wir alles haben, was man für einen längeren Aufenthalt braucht: diesen Wohnraum, spürst du den dicken Teppich unter deinen Füßen? Ein Schlafzimmer – so groß, dass ich darin Handstandüberschlag machen kann, wenn mich der Wunsch danach überfallen sollte, ein Bad, in dem zu allem Überfluss auch noch eine Waschmaschine steht, und eine Küche, in der man vermutlich ein vollständiges Mahl zubereiten könnte. Sie wirkt jedenfalls sehr vollständig und irgendetwas muss ja hinter den vielen Türen sein. Um das Glück komplett zu machen, bin ich so klein, dass ich beim Kochen mit der Schräge über der Arbeitsfläche auch nicht in Konflikt käme. Es lässt sich gut aushalten hier,« schloss sie die Bestandsaufnahme.