Rubin. Ralf Lothar Knop

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Название Rubin
Автор произведения Ralf Lothar Knop
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753181813



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konnte Rubin immer noch nicht über seine Probleme reden, aber auch Marita war an diesem Abend kaum zu einem Gespräch in der Lage.

       Menschen sind stolz auf ihre Begabungen und auf ihre Fähigkeiten. Aber wenn es um ihre Begrenzungen und Schwächen geht, dann sind sie kaum in der Lage, diese vor sich selbst ehrlich einzugestehen, geschweige denn vor anderen Menschen. Es reicht nicht aus, dass der Mensch sich nicht länger in seiner Selbstwahrnehmung verleugnet, sondern er darf dankbar sein für alles, was in seiner Seele leben möchte, auch wenn es klein, unausgebildet und unreif ist; er darf darauf vertrauen, dass Gott ihn für das liebt, was er wirklich ist und er darf in allem den Willen Gottes annehmen.

      Die Minuten kamen Rubin wie Stunden vor, es herrschte eine Stimmung wie auf einer Beerdigung, keiner schaute den anderen an, ihre Blicke gingen den ganzen Abend aneinander vorbei. Und es war tatsächlich eine Beerdigung, ihre kurze Beziehung wurde an diesem Abend zu Grabe getragen, sie haben sich nie wieder gesehen.

      Erst viel, viel später begriff Rubin, dass Marita nicht eine Beziehung zu einem Versager aufgegeben hatte, sondern eine Beziehung zu einem Mann, dem diese Knospe einer jungen Beziehung so unwichtig zu sein schien, dass er drei Monate lang nichts von sich hören ließ. Diese drei Monate, die Marita alleine in Marburg verbracht hatte und in denen sie nichts, absolut gar nichts von ihrem neuen Freund hörte, waren höchst wahrscheinlich für sie mit einer solchen Enttäuschung verbunden, dass es auch sie bei ihrem Wiedersehen vollkommen sprachlos machte. Auch sie musste sich fragen, was will er denn von mir, wenn er glaubt, nach dreimonatiger Sendepause einfach weitermachen zu können.

      Noch einmal unternahm Rubin einen Suizidversuch, er sprang nachts von der Weidenhäuser Brücke aus fünf Metern Höhe in flaches Gewässer, wobei er sich einen Halswirbel brach. Der Arzt in der chirurgischen Abteilung in der Marburger Klinik, der ihn vom Scheitel bis zur Hüfte eingipste, sagte ihm, dass seine Schmerzen ihm das Leben gerettet hätten. Wegen dieser unerträglichen „Halsschmerzen“ hatte Rubin seinen Kopf vollkommen still gehalten. „Hätten Sie den Kopf ruckartig nach hinten gedreht, wären Sie wahrscheinlich tot umgefallen.“

      Rubin stellte fest, dass sich seine Todessehnsucht durch die Konfrontation mit dem wirklichen Tod verwandelte. Er hatte das Gefühl, doch noch eine Weile leben zu wollen; dieses Verlangen verstärkte er mit dem Plan, in den nächsten Semesterfeien eine dreimonatige Reise nach Amerika zu unternehmen, er wollte die USA von New York City bis nach Los Angeles durchstreifen. Auch wollte er das Medikament, das er immer noch einnahm, nicht mitnehmen. Er spürte nicht nur, dass dieses Medikament ihn vom Leben abhielt, sondern dass er auch schon längst davon abhängig, danach süchtig geworden war. Die Reise in die USA sollte ihm dazu verhelfen, von diesem Medikament wieder loszukommen und endlich wieder lebensfähig zu werden. Er war auf der Suche nach der heilen Welt, seitdem er das Theologiestudium abgebrochen hatte, suchte er das Himmelreich auf Erden.

       In der heutigen Zeit wird der Begriff ‚selig‘ allenfalls noch für einen Zustand gebraucht, in dem Menschen sich im Liebes-, oder Alkohol- und Tablettenrausch befinden. In beiden Situationen ist der Blick für die Realität vollkommen gestört und man spricht von einem bösen Erwachen, wenn die Nüchternheit des Alltags wieder eingekehrt ist. Im ersten Fall führt das dann oft zu Trennungen oder Scheidungen, im zweiten Fall zu großem Bedauern über das eigene Verhalten, also auf keinen Fall zu einem positiven Ergebnis.

      Aber genau das war es, was er wollte; er wollte endlich selig werden und er glaubte, dass die Seligkeit in den Armen einer Frau zu finden sei. Rubin erkannte einfach nicht, dass es für ihn keine Erlösung gab, solange er sich selbst für minderwertig hielt, dass ein anderer Mensch ihm niemals das geben kann, was er sich selbst nicht auch geben kann, denn nur wer sich selbst liebt, kann andere Menschen lieben und kann von anderen Menschen geliebt werden.

      Amerika

      Es war einer dieser typischen Charterflüge für Studenten, bei denen nach der erfolgreichen Landung laut applaudiert wurde. Rubin war wie immer durch nichts auf diese dreimonatige Reise vorbereitet; schon mit 15 Jahren war er ohne jegliche Vorbereitung ganz alleine per Anhalter durch England, Wales, Schottland und Irland gereist. Genau wie damals hatte er lediglich die Hin- und Rückflüge gebucht. Irgendwo würde er schon übernachten können und wenn das Geld ausging, würde er schon einen Job finden, mit dem er etwas Geld verdienen konnte. So war es ein Glücksfall, dass sein Sitznachbar im Flugzeug ein Buch besaß mit dem Titel „New York City on five Dollars a Day.“ Aus diesem Buch schrieb Rubin sich einige Adressen von Hotels in New York City auf, in denen er übernachten könnte.

      Und doch gab es einen entscheidenden Unterschied zu seiner Reise durch Großbritannien und Irland; neben den Flugtickets hatte er drei Adressen in der Tasche, die er sozusagen abarbeiten wollte. Da war zunächst einmal die Adresse einer Brieffreundin in Ohio, die er in der Untertertia der Schule von seinem Englischlehrer erhalten hatte; auf diese Weise sollten die Englischkenntnisse verbessert und die Landeskunde gefördert werden. Nach anfänglichen regelmäßigen und häufigen Briefwechseln hatte sich der Kontakt im Laufe der Jahre auf etwa ein- bis zweimal pro Jahr reduziert, doch er war nie vollkommen abgebrochen, obwohl es sich im Grunde inhaltlich um völlig belanglose Briefe handelte. Später sollte sich Ruby, so hieß diese Brieffreundin, immer wieder über Rubin lustig machen, indem sie aus einem seiner Briefe den Satz zitierte: „There is a deer in our garden“; Rubin konnte sich an den Inhalt ihrer Briefe überhaupt nicht erinnern. Es gab also ein „später“ zu dieser Adresse und dieses „später“ sollte das Leben Rubins erneut grundlegend verändern.

      Die zweite Adresse, die Rubin in seiner Tasche hatte, war von dem Besitzer einer Kunstgalerie in Kansas City Missouri namens George. Rubin hatte ihn in Marburg kennen gelernt, als George sich auf einer Europareise befand, um Künstler zu kontaktieren, deren Werke er in seiner Galerie ausstellen und verkaufen wollte. Da George kein Deutsch sprach, war er auf der Suche nach einem Dolmetscher, der ihm bei seinen Verhandlungen mit den Künstlern behilflich sein sollte. Rubin begleitete George nach Gießen in die Wohnung eines Künstlers und dolmetschte dort die Verhandlungen, die tatsächlich zu einem Vertragsabschluss führten.

      Kansas City ist übrigens eine zweigeteilte Stadt, die zum Teil in Missouri und zum Teil in Kansas liegt, wobei der Teil der Stadt, der in Missouri liegt bevölkerungsmäßig etwa dreimal so groß ist wie der andere Teil der Stadt. Natürlich gibt es keine Mauer, die diese beiden Stadtteile voneinander trennt, es ist vielmehr etwas anderes was sie trennt und zwar die Zeiten der Sperrstunde für die Kneipen. Teilweise bildet der Missouri River die Grenze zwischen den beiden Staaten, doch es gibt auch Stellen, an denen die Grenze mitten auf einer Straße verläuft, sodass es vorkommt, dass eine Kneipe auf der einen Seite der Straße um 24 Uhr schließen muss, während die Kneipe auf der anderen Seite der Straße bis ein Uhr nachts geöffnet bleiben darf, das führt regelmäßig zu einem starken Grenzverkehr um Mitternacht.

      Und schließlich hatte Rubin noch die Adresse seiner Cousine Bärbel, genannt Babsi, die in Los Angeles lebte. Das war seine einzige Routenplanung: New York City, Washington DC, Cleveland Ohio, Kansas City Missouri, Los Angeles und zurück. Die Länge seines jeweiligen Aufenthaltes sollte sich nach seinen finanziellen Möglichkeiten richten.

      Nach der Landung auf dem John F. Kennedy Airport in New York City bekam Rubin seinen ersten nachhaltigen Eindruck von Amerika, als eine Frau in dem Bus auf der Fahrt vom Flugzeug zum Terminal immer wieder lauthals durch den Bus rief: „Jesus loves you! Jesus loves you all!“ So war er froh, als er endlich durch die Grenzkontrollen war, seinen Rucksack auf dem Förderband gefunden hatte und sich nun auf der Fahrt mit einem Bus nach Manhattan befand, in einem Bus, in dem Gott sei Dank niemand herumschrie.

      Nach einer knappen Stunde Fahrt erreichten Sie den Busterminal in der 97th Street im nördlichen Central Park. Rubin ging zu der Information im Busbahnhof, legte der Dame seinen Zettel mit den Adressen der New Yorker Hotels aus dem Buch „New York City on five dollars a day“ auf den Tisch und fragte:

       Could you tell me please where I can find one of these hotels?

      Kurz und prägnant antwortete sie:

       NO!

      Einen Augenblick