Rubin. Ralf Lothar Knop

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Название Rubin
Автор произведения Ralf Lothar Knop
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753181813



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Der Mensch hat Gott nach seinem Ebenbild geschaffen.

      Das war die Lösung, nun gab es für alles eine Erklärung: Die Gedanken Gottes sind die Gedanken des Menschen, anders ist es ja gar nicht möglich; und nun ging Rubin auch den letzten Schritt: Wenn der Mensch Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann gab es ihn ja gar nicht wirklich, dann waren ja auch die vielen Gebote und Verbote und all die vielen angeblichen Sünden ja eine reine Festlegung des Menschen, mehr noch, eine Festlegung der Menschen, die es nicht ertragen konnten, dass andere Menschen glücklich waren, dass andere Menschen sich an Dingen erfreuten, die sie sich selbst ständig untersagten.

      Endlich, endlich hatte Rubin einen Schuldigen gefunden; nicht er selbst war es, der zu schwach war, um sich an all die Gebote zu halten, er war kein Sünder; dies kam wie eine Erlösung über ihn. Es waren all die Menschen, die ihn mit diesen unmenschlichen Vorstellungen indoktriniert hatten. Gleichzeitig wurde ihm natürlich klar, dass er Jahre seines Lebens verschwendet hatte, indem er sich dem Leben verweigert hatte, indem er das ihm dargebotene Glück mit Füßen trat.

       Zu dieser neuen Lebenseinstellung gehört vor allem, dass der Mensch sich so akzeptiert, wie er ist, mit all seinen Begabungen und Begrenzungen, mit all seinen Fähigkeiten und Schwächen, unter diesen Bedingungen wird er Sanftmut, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gegenüber sich selbst und seinen Mitmenschen üben. Er wird befähigt, mit den Trauernden zu weinen, mit den Armen zu teilen und mit den Verfolgten zu leiden. Er wird das Salz der Erde sein.

       Wenn der Mensch diesen neuen Weg beschreitet, wird er ein zufriedenes und glückliches Leben führen, er wird das Himmelreich auf Erden erleben.

      Marita

      Es galt also, einiges nachzuholen. Die höllischen Qualen, die er ausgestanden hatte, dieses Hin- und Hergerissen sein zwischen seiner sexuellen Begierde und seinem Verlangen nach einem gottgefälligen Leben hatten endlich ein Ende. Nichts, aber auch gar nichts gab es mehr, das ihn hätte davon abhalten können, endlich seine sexuellen Gelüste auszuleben. Gleichzeitig wurde Rubin beherrscht von der Wut auf die Menschen, die ihm Jahre seines Lebens gestohlen hatten. Er merkte nicht, dass er erneut zerrissen wurde, diesmal zwischen seiner Begierde und seiner Wut. Zwar glaubte er, diese Wut sehr schnell abreagieren zu können, indem er sein Theologiestudium an den Nagel hängte, aber er merkte nicht, dass diese Wut ihn noch Jahre begleiten sollte und dass es nun seine Wut war, die ihn davon abhielt, sich dem Leben ganz zuzuwenden.

      Nichts war für Rubin nun wichtiger als endlich eine Sexualpartnerin zu finden, mit der er all das nachholen konnte, was er so lange entbehren musste und endlich einmal den Druck nicht durch eine sekundenschnelle Explosion zu entleiden. Er war nun endlich frei und wollte das Leben mit all seinen Möglichkeiten genießen, natürlich vor allem mit seinen sexuellen Möglichkeiten.

      Rubin hatte Salingers Roman

       The Catcher in the Rye

      gelesen und er liebte diesen sechzehnjährigen Holden Caulfield, mit dem er sich so sehr identifizieren konnte; auch Holden war eine verlorene Seele, die sich so sehr nach Liebe sehnte. Holden ließ sich eine Nutte aufs Zimmer bringen, wollte dann aber doch keinen Sex mit ihr haben, er möchte auf einer Frau spielen können wie auf einer Violine und er sagt:

       I’d like to be really good at those things.

      Aber es ist ein anderer Satz von Holden Caulfield, den Rubin nie wieder vergessen hat. Es ist wohl eher ein Satz des Autors als der eines Sechzehnjährigen, aber das spielte keine Rolle:

       The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause, while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.

      Und mehr noch spendete Rubin eine andere Aussage Trost, eine Aussage, die ihm die Hoffnung gab, es könnte auch für seine Probleme eine Lösung geben:

       You’re not the first person who was ever confused and frightened and even sickened by human behavior. Many, many men have been just as troubled morally and spiritually as you are right now.

      Auch hier merkte Rubin nicht, dass er schon wieder dabei war, einen Druck, einen Erfolgsdruck aufzubauen, der schließlich zur Katastrophe führen sollte, jedenfalls empfand er es als eine Katastrophe, die sein Leben endgültig zerstören sollte.

      Auf einer Fete, inzwischen hatte sich der Begriff Party in den Begriff Fete verwandelt, lernte er eine Kommilitonin kennen, mit der er nach kürzester Zeit intim wurde und die er anschließend nach Hause begleitete. Hier kam es nun zu der besagten Katastrophe. Sie rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leib und fielen übereinander her, doch bevor er überhaupt dazu kam, seinen Schwanz in ihre Muschi einzuführen, endlich in das gelobte Land vorzudringen, war für ihn auch schon wieder alles vorbei. Es war ihm nicht einmal ansatzweise gelungen, auch nur einen Millimeter in das Land seiner Träume einzufahren; ohne die geringste Berührung war er explodiert. Doch auch dieses Mal war es keine Befriedigung, war es keine Erlösung, war es nicht das gelobte Land der Liebe.

      Rubin verbrachte zwar die ganze Nacht mit seiner Kommilitonin, doch er kann sich weder an ihren Namen erinnern, noch an das, was sonst noch in der Nacht geschah oder worüber sie redeten oder ob sie überhaupt redeten. Seine Erinnerung setzte erst wieder ein, als er am nächsten Morgen den langen beschwerlichen Weg durch die ihm endlos erscheinende Georg-Voigt-Straße zurück nach Weidenhausen antrat, zu Fuß, barfuß, denn er hatte bei dem übereilten Aufbruch von der Fete seine Schuhe nicht gefunden. In der Nacht war es ihm auch vollkommen egal gewesen, denn er hatte nur noch eines im Sinn.

      Doch nun war sein Kopf leer, er bemerkte nicht einmal den Schmerz an seinen Füßen, der allmählich immer stärker wurde. Mit seinen erst neunzehn Jahren hatte Rubin das Gefühl, dass sein Leben bereits beendet war; man hatte ihm die wichtigsten Jahre seiner Jugend gestohlen mit dem Ergebnis, dass er nun vollkommen liebesunfähig war. Impotenz war das einzige Wort, das er noch denken konnte, nein, nicht denken, dieses Wort dröhnte pausenlos in seinem Schädel und er hatte das Gefühl, dass es ihn innerlich zerreißt.

      Als Rubin sein Zimmer in der Weidenhäuser Straße erreicht hatte, legte er sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Die Welt war leer, sein Leben war leer. Er lag vollkommen regungslos auf seinem Bett, es gab nichts mehr zu tun. Zum ersten Mal in seinem Leben tauchten ganz konkrete Selbstmordgedanken in ihm auf. Er war nicht länger bereit, diese Qualen zu ertragen.

      Gegen Mittag hörte er im Hof seines Hauses eine Stimme, die seinen Namen rief, er ging ans Fenster und sah die Kommilitonin, mit der er die Nacht verbracht hatte. Sie winkte ihm zu und kam dann nach oben in den zweiten Stock. Sie hatte eine Schale Erdbeeren mitgebracht, deren Stiele sie nun entfernte und die sie gleichmäßig auf zwei kleine Schüsseln verteilte und mit etwas Zucker bestreute. Sie reichte ihm eine der beiden Schüsseln und er aß die Erdbeeren, wortlos, stumm, starr vor Entsetzen, irgendetwas hinderte ihn daran auch nur ein einziges Wort herauszukriegen.

      Seine Kommilitonin redete ununterbrochen, sie schien gar nicht zu merken, dass er nichts sagte. Sie war sehr fröhlich und bevor sie ging, verabredete sie sich mit Rubin für den bevorstehenden Abend. Was wollte sie von ihm? Wie konnte sie nach so einer herben Enttäuschung, nach der nächtlichen Katastrohe, so fröhlich sein? Mehr noch, es schien, als wollte sie mit ihm eine wie auch immer geartete Beziehung eingehen, eine Beziehung mit einem Versager. All das war für Rubin vollkommen unverständlich, war es Mitleid?

      Am Abend desselben Tages holte Marita ihn an seinem Zimmer in Weidenhausen ab. Dieser Name ist vollkommen frei erfunden, denn wie gesagt konnte Rubin sich nicht an ihren Namen erinnern; doch um ihr Ehre zu erweisen, sollte sie nun endlich einen Namen erhalten. Tatsächlich weiß er noch, dass Marita eine Studentin der Psychologie war, sie war sehr groß, fast so groß wie Rubin, und sehr kräftig gebaut; sie hatte lange Beine mit starken Oberschenkeln und sie war, wie sich später herausstellte, auch noch Jungfrau.

      Marita und Rubin gingen in eine der vielen Studentenkneipen in der Oberstadt und allmählich lockerte sich der Würgegriff, der, so schien es Rubin, ihm die Kehle zuschnürte, ihm fast die Luft zum Atmen nahm und ihn daran hinderte