Achteinhalb Wochen. Ute Christoph

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Название Achteinhalb Wochen
Автор произведения Ute Christoph
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738085709



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du, ich habe mich in eine Frau verliebt, die im Rollstuhl saß. Ich hatte mir bis zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen können, dass mir so etwas passiert. Sie war eine tolle Frau, lachte viel, obwohl sie es aufgrund ihrer Lähmung nicht leichthatte. Die Beziehung mit ihr war wunderbar, harmonisch und sehr liebevoll. Und dann erkrankte sie unheilbar und verstarb innerhalb von ein paar Monaten.“

      Nun seufzte ich. „Das tut mir sehr leid.“

      Er schwieg einen Moment lang und atmete wieder schwer.

      „Du musst nicht weitersprechen“, warf ich ein.

      „Ich will aber. Es tut gut, dir davon zu erzählen. Ich hab‘ bislang nur mit Psychologen darüber geredet. Und die konnten mir nicht helfen.“

      „Okay“, machte ich leise. „Wenn es dir guttut, sprich weiter.“

      „Das zweite Ereignis, das mich fertiggemacht hat … meine älteste Tochter wurde als Kind vergewaltigt.“

      „Oh, mein Gott. Wie ist sie damit zurechtgekommen?“

      „Gar nicht.“

      „Hat sie Hilfe bekommen?“

      „Ja. Sie war in psychologischer Behandlung und sogar eine Weile in der geschlossenen Psychiatrie. … Aber sie hat diesen Missbrauch nicht verarbeitet. … Ja, liebe Lisa, und das dritte Ereignis war, dass ein Freund von mir, ein Detektiv, mich anlässlich eines Auftrags mitgenommen hat. Wir waren in einer Hütte im Wald und haben dort kinderpornografisches Material gefunden. Das, was ich da gesehen habe, hat mir den Rest gegeben.“

      Ich atmete tief ein und wieder aus. Jedes der drei Ereignisse war für sich allein genommen schon dramatisch genug. Niemand sollte das alles erleben müssen.

      Er seufzte wieder: „All das hat dazu geführt, dass ich nicht mehr weinen kann und … es hat mich meine Männlichkeit gekostet.“

      Ich hörte, dass er schwer schluckte. „Ja, aber das ist doch normal“, bemerkte ich. „Wenn etwas Schlimmes passiert, reagiert unser Körper, als wären wir auf der Flucht. Das sexuelle Bedürfnis ist in solchen Situationen komplett ausgeschaltet.“

      „Darüber habe ich gelesen. Ich bin ja auch nicht wirklich arm in dieser Hinsicht. Ich kenne Dinge wie den inneren Orgasmus. Das ist etwas sehr Wertvolles. Aber dieser Verlust belastet mich trotzdem sehr. Weißt du – ein Mann im besten Alter und dann so was. Und ich will keine amourösen Abenteuer oder One-Night-Stands. Ich möchte etwas Tiefgehendes. … Tat gut, dir das alles erzählen zu dürfen.“

      Ich erinnerte mich an seine Nachrichten aus Zypern – ein Mann, der mir höchst sensibel erschien und mir sofort sein Vertrauen schenkte. Solche Männer waren rar. Gab es sie überhaupt? Ich hoffte, dass aus dieser Zufallsbekanntschaft eine wunderbare, tiefgehende Freundschaft entstand.

      „Dass es dir nach all diesen schlimmen Ereignissen nicht gut geht, ist vollkommen normal. Die spirituellen Nächte auf Zypern haben doch schon viel bei dir bewirkt“, versuchte ich das Gespräch in positive Bahnen zu lenken.

      „Das ist richtig. Ich bin in der Tat auf einem guten Weg nachhaltiger Heilung. Aber es handelt sich um einen Prozess, der lange Zeit in Anspruch nehmen wird.“

      Wir redeten noch eine Weile – über seinen anstehenden Arbeitsbeginn, über Alltäglichkeiten. Dann sagte er: „Die Nachbarn winken gerade. Sie haben ein Lagerfeuer entfacht und ich soll auf ein Glas Wein rüberkommen. Das wird sicherlich eine lange Nacht.“ Er lachte.

      „Aber bestimmt eine schöne Nacht. Viel Spaß“, wünschte ich ihm, bevor ich auflegte.

      Meine Nacht war unruhig. Immer wieder dachte ich an das Telefonat mit Koray und daran, was er mir anvertraut hatte.

      Ich gebe zu, mein fast immer sonniges Gemüt litt schwer unter seinen dunklen Geheimnissen.

       25. Juli 2016

      00:10 Uhr

      Koray: Die Glut wärmt … wenn ich auch nicht weinen kann … ein paar Tränen spüre ich auf meinen Wangen … liebe Lisa, in meiner Kultur glaubt man, dass die Handfläche einer Frau die Quelle der Zärtlichkeit ist … ich nehme deine beiden Hände und küsse deine Handinnenflächen … süße Träume …

      07:53 Uhr

      Ich: Danke dir für die liebe Geste. Wünsche dir einen guten Start in die neue Woche. Liebe Umarmung.

      08:29 Uhr

      Koray: Wenn ich an dich denke, empfinde ich Vertrauen … es ist schön, dass du da draußen bist … hab‘ vielen Dank. Schicke dir in Brisen versteckte liebe Grüße!

      Es war schön, dass er mir dermaßen vertraute. Ja, inzwischen war ich mir sicher – das würde eine schöne Freundschaft. Eine mit Tiefgang.

      09:16 Uhr

      Ich: Die Brisengrüße sind angekommen. Danke sehr! Ich freue mich auch, dass es dich gibt. Es gibt wenige Menschen mit einem großen Herzen. Du scheinst einer diesen wenigen Menschen zu sein.

      11:53 Uhr

      Koray: … als ich mich heute Morgen rasierte und meinen Bart pflegte, musste ich herzlich lachen …

      Na ja, das ging jetzt irgendwie wieder in die falsche Richtung …

      20:48 Uhr

      Koray: Ich sitze am Main … einige Schwäne nähern sich … diese warmen Sommerabende wecken vieles, was in mir schlummert … meine zwei Kugeln … also gut, meine vier Kugeln Eis schmecken gerade umso leckerer :-)

      Ich schmunzelte unwillkürlich.

      20:52 Uhr

      Ich: Schwäne sind so schön! Aber Sir können sehr böse werden. Also pass gut auf deine zwei, gut, deine vier Kugeln Eis auf. Mhmm, Main! – mir fehlt, seit ich wieder im Ruhrgebiet bin, ein Rhein. Saß bis vor einigen Minuten im Garten auf meiner Bank. So ein herrlicher Sommerabend … davon gab es in diesem Jahr noch nicht so viele.

      20:54 Uhr

      Ich: Oh je. Gleich zwei Fehler in einer so kurzen SMS. Es sollte heißen: Aber sie können sehr böse werden … Und: mein Rhein …

      20:59 Uhr

      Koray: Kein Thema. Ich kann nicht nur von den Augen oder Lippen, sondern auch zwischen den Zeilen lesen … mir ist nach einem Lagerfeuer … bis in den Morgengrauen mit einem Glas Wein über Gott und die Welt reden …

      21:03 Uhr

      Ich: Bin sofort dabei!!! Ein Glas Wein wird allerdings nicht reichen. – Aber … Du darfst doch gar keinen Alkohol trinken. Mhmm. Du musst mit einer Deutschen verheiratet gewesen sein. Oder wer hat dir dieses Laster beigebracht??? ;o)

      21:08 Uhr

      Koray: Ich bin ein Genießer … trinke nur guten Wein … am liebsten im Zauber des Abends! Zwei bis drei Gläser machen mich höchst romantisch!

      21:10 Uhr

      Ich: Ich dachte, das bist du eh.

      21:15 Uhr

      Koray: … ich meine, es ist einfach schön … diese sinnlichen Momente mit einer Frau!

      Falsche Richtung! Vielleicht reagierte ich dieses Mal mit ein bisschen Humor.

      21:16 Uhr

      Ich: Bin deiner Meinung. Natürlich nicht komplett. Ich könnte mit einer Frau keine romantischen Momente teilen.

      21:18 Uhr

      Koray: Ha ha ha … ich auch nicht mit einem Mann …

      21:20 Uhr

      Ich: Uhhhh, schön, du hast gemerkt, dass ich geschmunzelt habe. Kommt in Texten ja nicht unbedingt rüber. Hatte heute einen richtig schönen Tag. Wie war dein Start zurück ins Arbeitsleben?

      21:30 Uhr

      Koray: