Das geschenkte Leben. Holger Töllner

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Название Das geschenkte Leben
Автор произведения Holger Töllner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753153933



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gut, also vielleicht ‚Wie Ihr ja wisst, war ich heute zur Darmuntersuchung. Da wurde etwas entdeckt, das demnächst operiert werden muss…‘

      Auf gar keinen Fall darf es Heulen und Zähneklappern geben! Auf gar keinen Fall will ich verzweifelt und verängstigt wie meine Großmutter zusammenbrechen. Das kann ich uns nicht antun. Solange ich stehen kann, wird mich niemand auf den Knien sehen, nicht Anna, meine Frau, und schon gar nicht die Kinder. Ich verspreche mir selbst, keine Träne zu vergießen, und hoffe inständig, das mindestens vor den Kindern durchhalten zu können.

      Da nichts im Leben so nützlich ist wie ein fester Vorsatz, den man sich beizeiten ins Bewusstsein und am besten auch ins Unterbewusstsein betoniert, tue ich genau das: ‚Ich werde nicht heulen. Ich werde nicht auf Knien winseln. Bloß kein Selbstmitleid.‘ Und gleich nochmal, ‘Ich werde auf gar keinen Fall heulen!‘

      Während der Fahrt mit dem Auto rekapituliere ich den Tag. Sehen wir den Tatsachen ins Auge, ich habe also tatsächlich Krebs. Wenn es schlecht läuft, bin ich fällig wie Oma und Onkel Richard und Tante Uschi. Richard war wenige Jahre nach meiner Großmutter an Blasenkrebs erkrankt und bekam dann ebenso wie sie Metastasen auf der Leber, was letztlich beider Schicksal besiegelte. Uschi hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs, der sie direkt umbrachte, also ohne den zusätzlichen Aufwand mit Metastasen.

      Ich mache mir nichts vor: Das kann auch mir blühen. Es ist also gut, wenn ich mich rein vorsorglich gleich jetzt damit auseinandersetze, im schlimmsten Fall das Besteck abzugeben. Ich will es Anna und den Kindern nicht unnötig schwer machen. Sie sollen nicht leiden, nur weil ich leide. Am besten, sie merken überhaupt nichts davon, wenn es mir nicht gut gehen sollte. Verschweigen geht nur leider nicht. Ich kann ja schlecht vortäuschen, in den Urlaub zu fahren, wenn ich zu der Operation aufbreche.

      Mir fällt auf einmal ein Film über den amerikanischen Bürgerkrieg ein, den ich vor Jahren gesehen habe. ‚Gettysburg‘. Darin kommt eine Szene vor, an die ich jetzt denken muss. Jeff Daniels spielt einen Nordstaaten-Offizier, eine reale historische Figur, namens Joshua Laurence Chamberlain, der unbedingt die Stellung auf einem strategisch wichtigen Hügel gegen die anstürmenden Südstaatler halten muss. Nach unzähligen verlustreichen Angriffen geht seinem Regiment die Munition aus. Aber er kann sich nicht zurückziehen, weil die Südstaatler sonst die ganze Front von der Flanke her aufrollen.

      Er sagt zu seinen Leuten, „Gentlemen, wenn wir diese Schlacht verlieren, dann verlieren wir den Krieg.“

      Chamberlain hat also gar keine Wahl, denn die Munition ist ja verschossen. Also befiehlt er, die Bajonette aufzupflanzen. Er will die angreifenden Südstaatler endgültig brechen, indem er in seiner Verzweiflung einen Sturmangriff wagt. Es ist ein total verrückter Plan, aber seine Leute folgen ihm.

      „Die Rebellen müssen noch fertiger sein als wir. Pflanzt die Bajonette auf!“, brüllt er mit stählernem Blick.

      Der Angriff hat Erfolg, und die Südstaatler werden überrannt. Plötzlich steht der gegnerische Kommandeur mit dem Revolver im Anschlag vor Chamberlain. Er zielt aus dreißig Zentimetern Entfernung direkt zwischen Chamberlains Augen und spannt den Hahn. Dem ist jetzt klar, dass er sterben muss. Der andere wird ihm gleich ins Gesicht schießen. Chamberlain strafft sich ein letztes Mal und bläst Luft durch seinen riesigen Seehundschnäuzer. Er ist bereit.

      Der Südstaatler drückt ab. Klick. Der erwartete Schuss löst sich aber nicht, weil die Trommel bereits leergeschossen ist. Chamberlain hebt zuerst die Augenbrauen und dann langsam seinen Säbel. Er hält ihn dem Südstaatler an die Kehle. Er sagt voller Würde, „Ihren Revolver, Sir!“

      Der andere übergibt die Pistole und antwortet, „Ihr Gefangener, Sir.“ Szene vorbei.

      So wie Chamberlain werde auch ich dem Tod gelassen ins Auge blicken. Komm und hol mich eben, wenn Du musst! Ich sage es mehrmals laut. Chamberlain, Seneca, Schopenhauer, Winston Churchill, mein Onkel Richard, meine Tante Uschi und viele andere werden mit mir sein. Wie Petronius so richtig über einen Verstorbenen schrieb: Abiit ad plures – wörtlich heißt das, er ging fort, zu den Mehreren, und bedeutet natürlich dahin, wo die meisten bereits sind.

      Ich merke, wie der Gedanke mich zugleich beruhigt und amüsiert.

      So. Nachdem mein Verhältnis zum Tod nunmehr geklärt ist, fordert meine Erkrankung ihr erstes Opfer: Das zarte Pflänzchen Selbstmitleid, das seit heute Vormittag fleißig keimte, ist soeben gestorben. Beste Voraussetzungen, um der Familie gegenüberzutreten. Kein Selbstmitleid, keine Tränen! Ich parke das Auto und steige aus. Entschlossen mache ich mich auf den Weg zum Haus.

      Kapitel 2: Wahrheiten

      Im Haus begrüßt mich schwanzwedelnd Bruno, unser brauner Labrador. Er spürt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist und drängt sich an mich, um zu trösten. Dann sehe ich Anna. Ich umarme sie.

      Sie fragt besorgt „Was ist denn nur los? Du warst ja ewig weg! Warum hat es denn so lange gedauert?“

      Ich sage es ihr so schonend ich kann und sehe Entsetzen in ihren graublauen Augen.

      Sie ruft „Oh nein!“, und schlägt die Hände vor den Mund. Ich umarme sie noch einmal, dieses Mal länger. Und siehe da, die Selbstbeschwörung im Auto hatte Erfolg. Meine Augen werden nicht mal feucht, geschweige denn, dass ich heulen muss. Bitte, geht doch.

      „Es sind noch Untersuchungen zu machen, das Ergebnis der Biopsie steht noch aus, das Tumorboard muss eine Behandlungsempfehlung liefern.“

      Ich erkläre ihr alles, was ich weiß, verschweige aber meine Gedanken über Sterben und Tod. Bis jetzt läuft es prima. Da ich nicht weine, kann sich auch Anna beherrschen. Es ist viel besser so. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir hier beide in Tränen erstickt zeternd und plärrend am Boden lägen.

      Wegen solcher Schicksalsschläge sind schon ganze Familien zerbrochen. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich fühle mich bestätigt. Wenn ich die Nerven behalte, regen sich die anderen auch nicht unnötig auf.

      Anna, mit der ich seit neunzehn Jahren verheiratet bin, arbeitet in der Pharmaforschung. Eigentlich ist sie Biologin. Sie sagt, die Medizin habe gerade bei Darmkrebs in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht.

      Ich weiß, warum sie mir das erzählt. Sie kennt die Geschichte mit meiner Großmutter und will mich beruhigen. Hoffentlich hat sie Recht, denke ich bitter. Anderenfalls muss sie unsere Silberhochzeit in sechs Jahren ohne mich feiern.

      Mir fällt ein Arztwitz ein: Fragt ein Patient seinen Arzt, ‚Herr Doktor, wie lange habe ich noch?‘ Sagt der Arzt: ‚Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich an Ihrer Stelle würde mir für den Bus eher keine Jahreskarte mehr kaufen.‘ Haha.

      Kurios, dass ich gerade an die Silberhochzeit gedacht habe. Dabei hätten wir überhaupt nicht geheiratet, wenn Anna nicht dringend eine Arbeitserlaubnis gebraucht hätte. Sie ist Polin. Wir hatten uns an der Uni in Göttingen kennengelernt. Ich studierte Jura, Anna schrieb an ihrer Doktorarbeit. Ich traf sie bei der Examensfeier eines Nachbarn im Studentenwohnheim und verliebte mich sofort in sie.

      Niemals werde ich vergessen, wie sie aufgebackene Baguettes aus dem Ofen holte und in der Drehung beinahe mit mir zusammenstieß. Anna hat Augen wie das Mittelmeer an seichten Stellen, so ein Blassblau, das ins Graue überzugehen scheint, und flachsblonde, dicke Haare, die sie zu einem Zopf geflochten hatte.

      Zuerst ignorierte sie mich hartnäckig, ließ sich aber irgendwann doch zu einem Treffen überreden. Ich versuchte, sie mit Wodka Lemon betrunken zu machen, und scheiterte kläglich. Anna verträgt unglaublich viel Alkohol, sodass am Ende des Abends nicht sie, sondern ich randvoll war. Wenigstens schaffte ich es, mich halbwegs unfallfrei von ihr zu verabschieden. Sie erzählte mir später, dass sie meine Bemühungen an diesem Abend sehr amüsierten.

      Ich brauchte also einen neuen Plan und versuchte es mit einer Einladung zum Essen. Erst als ich sie mit Seezunge in Champagnersoße bekochte, nahm sie mich ernst und verabredete sich von nun an öfter mit mir. In mich verliebt hat sie sich wohl aber erst mehrere Monate später. Wir waren zunächst lose verbandelt.

      Das