Das geschenkte Leben. Holger Töllner

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Название Das geschenkte Leben
Автор произведения Holger Töllner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753153933



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der Serie nämlich ein verdammt guter Chirurg. Das hoffe ich von seinem Mannheimer Doppelgänger auch.

      Und siehe da, dieser Doktor Greene hier verspricht, noch heute mehrere Untersuchungen zu machen.

      Mir wird Blut abgenommen, ich bekomme eine Ultraschalluntersuchung aller Weichteile und dank Doktor Greenes Tatkraft auch noch eine Ganzkörper-Computertomografie, kurz CT genannt. Alles in allem stellt sich heraus, dass ich einen faustgroßen Tumor in mir trage, der etwa fünf Zentimeter ab ano, also fünf Zentimeter von meinem Hinterausgang entfernt, rund um meinen Enddarm wächst und ihn allmählich zusammendrückt.

      Und ja, sagt Doktor Greene, auch ohne das noch offene Ergebnis der Biopsie müsse man leider mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich um ein bösartiges Gewächs handele.

      Während ich zur Besprechung des weiteren Vorgehens warte, kehren meine Gedanken zurück zu meiner Großmutter väterlicherseits, die mich als Kind in schreckliche Angst versetzt hatte.

      Ich mochte sie nicht besonders, was unter anderem daher kam, dass sie mich im Alter von vier oder fünf Jahren einmal quer durch den Garten gejagt hatte, weil ich aus Versehen ihren halbvollen Eimer mit frisch geernteten Johannisbeeren umgestoßen hatte. Aus Versehen! Einzig ihr Geschrei war der Grund dafür, dass ich vor Schreck auch noch in die Beeren hineingetreten war.

      Um sich für nicht einmal eine halbe Stunde vergeblicher Arbeit an mir zu rächen, schlug sie mir damals den Hintern grün und blau, eine Demütigung, die ich ihr niemals verzeihen konnte.

      Sie war eine aggressive, herrische Person, die größten Wert auf Äußerlichkeiten legte. Meine Großeltern betrieben damals eine Pension im Oberharz. ‚Fremdenzimmer mit fließend warm und kalt Wasser‘ versprach das Werbeschild an der Toreinfahrt vor dem Haus.

      Ein winziges Klo mit Dusche für alle Gäste auf dem Flur im Erdgeschoss und billige Marmelade aus Fünf-Liter-Eimern zum Frühstück, sagte es dagegen nicht. Dennoch kam das der Wahrheit wesentlich näher. Die Pension mit dem Standard der Fünfzigerjahre überlebte dank Stammgästen. Der Herr Doktor Soundso und der Herr Pfarrer Soundso und der Herr Gewerbelehrer mit Gattin, das war die Lieblingsklientel meiner Oma.

      Eines Tages, ich war elf Jahre alt, fand ich meine Großmutter weinend vor dem Badezimmerspiegel, in der Hand ein großes Büschel Haare, das sie durch ihre Tränen hindurch anstarrte. Auf meine Frage, was los sei, warf sie die Haare ins Waschbecken und drehte sich um. Sie beugte sich herunter, sah mir in die Augen und legte beide Hände auf meine Schultern.

      „Weißt Du, was Krebs ist?“, heulte sie.

      Ich nickte, obwohl ich es natürlich nicht so genau wusste. Aber nach allem, was ich von den Erwachsenen mitbekommen hatte, musste es sich um etwas überaus Schreckliches handeln. Daraufhin schüttelte sie mich, wie man ein ungezogenes Kind schüttelt und schrie, „Und das habe ich nämlich!“

      Dann war sie schluchzend vor mir auf die Knie gesunken und umklammerte mich wie eine Ertrinkende, sodass ich das Gefühl hatte, an ihrer Brust ersticken zu müssen. In meinem Entsetzen strampelte und boxte ich um mich, bis sie mich losließ, und rannte davon. In den folgenden Monaten verfiel sie mehr und mehr und starb schließlich qualvoll. Ich habe sie nie wieder besucht.

      Fortan hatte ich namenlose, regelrecht panische Angst davor, dass meine armen Eltern, mein kleiner Bruder oder andere geliebte Menschen ebenso grausam sterben könnten wie meine Oma. Der Gedanke an Krebs krampfte mir jedes Mal die Eingeweide zusammen und erfüllte viele Nächte mit Angst und Schrecken. In meinen Alpträumen griff meine Großmutter wieder und wieder nach mir, sah mich mit ihren rotgeweinten Augen an, versuchte, mich zu umklammern und mit sich in die Dunkelheit zu nehmen.

      Die Alpträume, schreckliche Verlustängste und mein schlechtes Gewissen, die sterbende Frau in ihrer Verzweiflung so jäh zurückgewiesen zu haben, begleiteten mich bis zum Abitur. Eigentlich hätte ich in die Hände eines Psychotherapeuten gehört. Doch merkten meine Eltern vom abrupten Ende meiner unbeschwerten Kindheit nichts, weil ich mit niemandem über meine Sorgen sprach.

      Wunderbarerweise gelang es mir, mich mit der Zeit selbst zu therapieren. Ich hatte zwar das Pech, ein humanistisches Gymnasium besuchen zu müssen, wo man uns ein großbürgerliches Bildungsideal aus dem 19. Jahrhundert einhämmerte, das auf unsere Lebenswirklichkeit nicht zutraf. Mein großes Glück war aber, dass dort wegen der Ausrichtung der Schule neben den klassischen Fächern, antiker Kultur und alten Sprachen, auch Philosophie unterrichtet wurde.

      So kam es, dass ich mich mit altgriechischer und römischer Weisheit beschäftigen durfte. Ich las über die Vorsokratiker, die Sophisten, Platon, Sokrates, die Stoiker und andere. Ich war beeindruckt davon, dass Sokrates sein Leben für seine Überzeugungen geopfert hatte und Seneca sich sogar selbst tötete, beziehungsweise durch einen Sklaven töten ließ, um Nero, der ihn umbringen wollte, zuvorzukommen.

      Offensichtlich hatte der Tod für sie alle keinen Schrecken. Besonders gut gefielen mir auch die Ansichten Arthur Schopenhauers, der es letztlich schaffte, mich davon zu überzeugen, dass der Tod nichts ist, vor dem man sich fürchten muss. Die Stoiker halfen bei der Bekämpfung meiner Verlustängste. Denn alles ist Schicksal. Der Mensch muss einfach in allen Situationen sein Bestes tun, dann ist der Rest Bestimmung. Deswegen hilft es auch nichts, sich wegen möglichem zukünftigem Unglück zu ängstigen. Man verschlechtert damit nur sein gegenwärtiges Leben, ohne das Geringste an seinem Schicksal zu ändern. Wenn man es ordentlich durchdenkt, ist alles vollkommen logisch.

      Alles das hatte ich mir während der Pubertät erarbeitet und dadurch schließlich meine jugendliche Unbeschwertheit zurückerobert. Dank Schopenhauer & Co. wurde ich die Alpträume endgültig los. Mit meinem weltanschaulichen Grundgerüst kam ich so gut klar, dass ich seit Jahren überhaupt nicht mehr über Tod und Verlust nachgedacht habe. Bis heute. Innerhalb der vergangenen halben Stunde im Wartezimmer der Uniklinik Mannheim ist nach wenigen Minuten alles wieder da. Welch ein Glück. Ich bin sicher, dass meine philosophische Grundausbildung die erste Panik verhindert hat.

      Doktor Greene erscheint und erklärt mir, dass der Tumor zwar bittere Realität sei, es aber durchaus auch gute Neuigkeiten gebe. Die bisherigen Untersuchungen hätten nämlich ergeben, dass mein restlicher Körper, insbesondere Leber und Lunge, frei von Metastasen seien.

      Ich antworte, „Das hätte ich heute nach dem Aufstehen aber auch nicht gedacht, dass die gute Nachricht des Tages lauten würde ‚Ihr Körper ist frei von Metastasen.‘ Aber trotzdem vielen Dank!“

      Wir müssen beide lachen. Ich traue mich nicht, nach meinen Überlebenschancen zu fragen, weil ich nicht theatralisch wirken will. Vielleicht geht es gar nicht um Leben und Tod, deswegen will ich nicht übertreiben. Vielleicht schnippeln sie das unwillkommene Gewächs raus, und alles ist schnell wieder vergessen. Gleichzeitig denke ich, wie albern – wenn ich wirklich sterben müsste, könnte es mir doch egal sein, ob mich Doktor Greene, den es gar nicht gibt, oder Doktor M, den ich kaum kenne, für einen Hysteriker halten.

      Der Doktor erklärt mir, es würde eine Besprechung meiner Situation im sogenannten Tumorboard der Klinik geben. Das sei ein interdisziplinäres Gremium von Ärzten, die über die bestmögliche Behandlung beratschlagen und dann eine gemeinsame Empfehlung aussprechen. Anschließend werde der behandelnde Arzt, in meinem Fall Professor X, die erforderlichen Maßnahmen mit mir erörtern. Mit ziemlicher Sicherheit sei eine größere Operation erforderlich, für die ich bei Professor X absolut an der richtigen Adresse sei.

      „Lassen Sie sich einen Termin bei seiner Sekretärin für kommende Woche geben. Dann wird auch das Ergebnis der Biopsie da sein, und wir werden wissen, womit genau wir es zu tun haben.“

      Mittlerweile ist es später Nachmittag geworden. So langsam muss ich mich mal zu Hause melden. Vorher sollte ich aber gut überlegen, wie ich es meiner Frau und unseren beiden Kindern sagen werde. Ich fühle mich nicht mehr so ohnmächtig wie am Vormittag. Dennoch brauche ich für das Gespräch zu Hause einen Plan. Ich spiele verschiedene Szenarien durch.

      Oft ist ja der direkte Weg der beste, wie wäre es mit ‚Moin Leute, ich hab‘ Krebs‘?

      Okay, wenig einfühlsam.

      ‚Moin