Vermiss mich nicht. Nicole Beisel

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Название Vermiss mich nicht
Автор произведения Nicole Beisel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738003253



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bin gespannt, was sie mir zu erzählen hat. Ihr Profil ist noch immer ohne Foto, die Frau, mit der ich seit wenigen Tagen kommuniziere, hat noch immer kein Gesicht. Vielleicht hat sie ein Foto an ihre Nachricht angefügt? Schnell öffne ich sie, sehe einen langen Text, aber keine Bilddatei. Ich lehne mich zurück, lege mir den Laptop in den Schoß und beginne zu lesen. Während ich lese stockt mir der Atem, meine Stirn legt sich in Falten, Fassungslosigkeit und eine Spur Unsicherheit machen sich breit.

      „Hallo Anwalt!

       Sag mal, hast du eigentlich auch einen richtigen Namen? Wäre es nicht schöner, wenn wir uns direkt ansprechen könnten? Nun, wenn ich schon kein Foto von mir mitschicken kann (die Erklärung hierzu findest du weiter unten in dieser Nachricht), möchte ich dir wenigstens meinen Namen mitteilen. Ich heiße Lilly, Lilly Jenkins.

       Und nun erzähle ich dir, wie ich zu dieser Person geworden bin, zu Lilly, dem vergessenen Mädchen …“

      Ich schlage mir die Hände vor den Mund, atme tief ein und wieder aus. Ihre Worte verheißen nichts Gutes, aber sie selbst wirkt gefasst und selbstsicher, mutig irgendwie, obwohl mir mein Gefühl sagt, dass sie in Wirklichkeit von Angst erfüllt sein muss. In dem Versuch, selbst so mutig zu sein, lese ich weiter.

      „Meinen Namen habe ich erst seit knapp zwei Monaten, ebenso wie mein geschätztes Alter. Meinen richtigen Namen kenne ich nicht, auch nicht mein Geburtsdatum oder meinen ursprünglichen Wohnort. Ich weiß nicht, wer meine Familie und meine Freunde sind, ich kenne meine Hobbies nicht und weiß nicht, welchen Beruf ich gelernt habe. Es ist unnötig, mich nach meinem Musikgeschmack oder nach meinem Lieblingsgericht zu fragen, denn ich könnte diese Fragen nicht ehrlich beantworten.

       Stattdessen weiß ich gerade mal so, wie man ein Leben führt, und es wird von mir verlangt, dankbar dafür zu sein. Dankbarkeit für ein Leben, in das ich einfach hineingeworfen wurde, das im Grunde genommen gar nicht meines ist und aus dem ich nun das Beste machen soll, bis ein Wunder geschieht, sofern dieses Ereignis überhaupt jemals eintrifft.

       Und das alles durch einen Schlag auf den Kopf durch die Hand einer mir fremden Person, einen Volltreffer, wie es scheint. Ein Volltreffer, der all meine Erinnerungen und somit mein ganzes Leben ausgelöscht hat.“

      Ich schlucke schwer und schüttele ungläubig den Kopf. Kann das sein? Diese Frau, Opfer eines Gewaltverbrechens mit einer ausgeprägten Amnesie als Folge? Ich habe täglich mit Verbrechen zu tun, aber ein solcher Fall ist selbst mir noch nicht untergekommen.

      Schnell rufe ich mir Vernunft ins Gedächtnis. Typisch Anwalt, denkt zuerst an den rechtlichen Aspekt. Aber was ist mit ihr, mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrer Seele? Wie muss es sich anfühlen nicht zu wissen, wer man ist oder war? Es muss doch jemanden geben, der ihr all diese Fragen beantworten und ihr helfen kann, wieder in ihr altes Leben zurück zu finden, oder etwa nicht? Ich lese weiter und werde eines Besseren belehrt.

      „Das Ganze ist nun sicherlich ein Schock für dich. Ich weiß nicht, ob du meine Nachricht überhaupt bis hierher gelesen hast oder ob du nun das Interesse verloren und meine Nachricht längst gelöscht hast, aber ich schreibe trotzdem weiter.

       Jedenfalls hat mich jemand schwer verletzt, wodurch meine Amnesie entstanden ist. Ich wurde gefunden, ohne Ausweis, ohne Papiere oder sonstige besonderen Merkmale. Niemand hat mich als vermisst gemeldet und auf die Anzeige der Polizei erfolgte keinerlei Reaktion, weshalb man davon ausgeht, dass ich gar nicht aus Nordirland stamme. Mein Alter wurde aufgrund zahlreicher medizinischer Untersuchungen geschätzt, meine Identität neu geformt.

       Meine Karten wurden neu gemischt und nun muss ich zusehen, wie ich mit diesem Blatt zurechtkomme. Meine Erinnerungen sind bislang in keinster Weise zurück gekommen und niemand weiß, wann das passieren wird. Ein Mal die Woche besuche ich eine Selbsthilfegruppe. Immerhin habe ich dort eine nette Frau kennengelernt, sie ist sehr nett und ist für mich bislang der einzige soziale Kontakt zur Außenwelt. Deshalb auch meine Anmeldung hier auf diesem Portal. Ich möchte Menschen kennenlernen. Menschen, die sich nicht ausschließlich mit meinem Leiden auseinandersetzen oder mir finanziell oder existenziell unter die Arme greifen wollen.

       Da es aus meinem alten Leben sozusagen nichts gibt, außer meinem Körper, kann ich dir leider auch kein Foto von mir schicken. Das einzige Foto von mir, das ich kenne, ist das Polizeifoto, und das möchte ich dir gerne ersparen. ;-)

       Vielleicht kann ich meine Gruppenkameradin gelegentlich fragen, ob sie mich ablichten möchte. Wenn ich dann noch den nötigen Mut finde, werde ich dir mein Gesicht auf diesem Portal offenbaren, sofern du das überhaupt noch möchtest. Ich verbringe das Wochenende bei ihr und kann solange ihren Computer benutzen, ich selbst habe derzeit leider nur wenig Technik um mich herum. Deshalb wundere dich bitte nicht, falls ich mal etwas länger brauche, um dir zu antworten.

       Ich habe dich dann nicht vergessen, sondern hatte nur noch keine Möglichkeit, mich zu melden. Wenigstens etwas, das ich nicht vergesse …

       Bitte lass mich doch kurz wissen, ob du diese Nachricht bekommen und gelesen hast. Selbst wenn du für dich beschließen solltest, den Kontakt zu mir besser wieder abzubrechen, so lass mich auch hierüber bitte nicht im Unwissen. Ich wollte dich nicht erschrecken und ich bin auch nicht verrückt. Ich bin einfach nur eine verlorene und vergessene Frau, die dir ihre Geschichte erzählen wollte, so, wie du ihr deine erzählt hast.

       Liebe Grüße,

       forgottengirl.“

      Puh, das muss ich erst mal sacken lassen. Dass ich meinen Akten heute keine Beachtung mehr schenken werde, ist mir mehr als sonnenklar. Stattdessen sitze ich eine gefühlte Ewigkeit auf dem Sofa und starre auf den Bildschirm. Wieder und wieder lese ich ihre Worte, unfähig, ihr zu antworten, geschweige denn klar zu denken.

      Voller Unverständnis über eine solch grausame Tat und deren Folgen fahre ich den Kasten runter und lege mich ins Bett, wo ich mich scheinbar stundenlang hin und her wälze. Ich schließe meine Augen, suche vergeblich nach dem Schlaf und frage mich, was ich tun kann.

      Lilly

      Vorbei

      Am Sonntagabend fährt Laura mich wieder nach Hause. Das Wochenende bei Rachel und ihrer Mum war wunderschön. Endlich hatte ich gute Unterhaltung und ein wenig nette Gesellschaft um mich herum. Ich wusste gar nicht mehr, wie schön es sein kann, wenn man jemanden um sich hat, mit dem man sich auch noch gut versteht.

      Nur eines hat mich an diesem Wochenende ein wenig traurig gestimmt: Der einsame Anwalt hat mir nicht mehr geantwortet. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass er meine Nachricht noch gar nicht gelesen hat, aber sonst war er im Beantworten immer recht fix und ich bin mir ziemlich sicher, dass er meine Geschichte zwischenzeitlich kennt. Auch wenn ich damit gerechnet habe, nichts mehr von ihm zu hören, tut es irgendwie weh. Das Gefühl, jemanden womöglich wieder verscheucht zu haben, ist alles andere als angenehm. Im Gegenteil, man fühlt sich seltsam, anders irgendwie. Beinahe abstoßend, dabei kann ich ja gar nichts für die Situation, in der ich jetzt bin. Aber ich schätze, meine Mail hat ihn verschreckt, woraufhin er für sich beschlossen hat, einen Rückzieher zu machen. Ich kann es ihm nicht einmal übel nehmen.

      Rachel will von alldem nichts hören und hat scheinbar noch nicht aufgegeben. Trotz heftiger Widerworte gibt sie mir am Sonntag ihren Laptop und ihren Surfstick mit nach Hause, damit ich weiterhin meine Nachrichten abrufen kann. „Nimm ihn, bitte. Ich kann ihn im Moment sowieso nicht gebrauchen. Ich bin zu Hause, habe dort meinen PC. Der Laptop stammt noch aus meiner arbeitsreichen Zeit, die nun vorerst vorbei ist. Nimm ihn wenigstens für eine Weile. Ich vertraue dir, und ich hab dich einfach gern, so, wie du bist und nicht anders. Ich möchte dir einfach nur gerne helfen.“ Rachel umarmt mich, und ich kann diese Geste aufgrund des Laptops in meinen Händen noch nicht einmal erwidern.

      „Bist du dir auch ganz sicher?“ Rachel nickt heftig. „Aber klar doch. Wenigstens für ein paar Tage. Und wenn sich was ergeben hat,