Vermiss mich nicht. Nicole Beisel

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Название Vermiss mich nicht
Автор произведения Nicole Beisel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738003253



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ich mich zusammen. Aber kaum habe ich die nötige Konzentration aufgebracht, klopft es an der Tür. Genervt schaue ich auf und rufe „Herein“. Jeff steckt den Kopf durch die Tür. „Störe ich?“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch, schaue auf meinen Aktenstapel und verneine seine Frage, obwohl die korrekte Antwort mehr als offensichtlich ist. Er nimmt die Dokumente auf meinem Schreibtisch ebenfalls wahr, beißt sich auf die Lippen und tritt dann trotzdem ein. Er sieht so aus, als wolle er sich kurz fassen, also sage ich nichts.

      „Wie geht es dir?“ Ich lache. „Willst du mich nicht mal was Neues fragen?“ Jeff zögert, spricht dann weiter. „Doch. Gibt es Neuigkeiten? Hast du am Wochenende was vor?“ Ich suche nach einer Ausrede und finde eine, die unter Anwälten gerne gewählt wird und gar nicht so unglaubwürdig klingt. „Ich habe zu tun. Ich werde mir die Berkley-Akten mit nach Hause nehmen, nächste Woche findet die große, mehrtägige Verhandlung statt. Ich will nichts übersehen haben.“

      Jeff nickt. „Und sonst? Nix Neues?“ Ich lache erneut und schüttele den Kopf. „Nein, nichts Neues.“ Er muss ja schließlich nicht alles wissen. Dabei fällt mir etwas ein: Gab es vielleicht tatsächlich etwas Neues? Ich habe seit meiner Anmeldung gestern Abend und meinem Versuch, Kontakt zu einer weiblichen Person aufzunehmen gar nicht mehr nach einer Antwort geschaut. Ich beschließe, dies gleich nachzuholen. Ich kann mich ohnehin kaum auf meine Akten konzentrieren. Jeff gibt auf und lässt mich mit meiner Arbeit und meinen Sorgen alleine.

      „Also schön. Falls du doch noch Lust haben solltest auf ein Bier, melde dich einfach. Bis dann.“ Und schon war ich wieder alleine. Ich versichere mich, dass er tatsächlich nicht mehr durch meine modernen Glaswände links und rechts meiner Tür schauen kann und logge mich ein. Die hohe Zahl der eingegangen Nachrichten springen mir sofort ins Auge, und anhand der Nicknamen sortiere ich augenblicklich mehrere Nachrichten aus, ohne sie gelesen zu haben, denn an Sex bin ich derzeit definitiv nicht interessiert. Außerdem scheint es, als suche ich nach einer ganz besonderen Nachricht, als ließe mich seit gestern die Hoffnung nicht los, dass diese eine Person auf meine Nachricht reagieren würde. Und dann finde ich sie: forgottengirl, AW: Ein nettes Hallo. Ich zögere einen Moment, ehe ich die Nachricht öffne, als müsste ich mich auf etwas vorbereiten, den Moment auskosten, die Vorfreude bewusst wahrnehmen.

      Es öffnet sich ein Fenster, das mehrere Zeilen enthält, was mich schon mal recht positiv stimmt. Immerhin hätte sie sich auch gar nicht auf meine Nachricht melden können oder mir kurz und knapp zu verstehen geben, dass ihrerseits kein Interesse daran besteht, mich kennen zu lernen, und sei es erst einmal nur als Bekanntschaft. Stumm lese ich die Zeilen bei denen ich das Gefühl habe, dass zierliche Finger sie getippt haben müssen.

      „Hallo lonelylawyer,

       vielen Dank für dein tatsächlich überaus nettes Hallo, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich muss zugeben, ich bin zum ersten Mal bei einem solchen Portal angemeldet und weiß nicht recht, was von mir erwartet wird, deshalb versuche ich, mein Bestes zu geben.

       Deine Nachricht wirft viele Fragen in mir auf, und obwohl diese recht persönlich sind wage ich es, sie dir zu stellen. Weshalb bist du denn so traurig und einsam? Sicher gibt es hierfür einen bestimmten Grund, oder nicht? Sofern du möchtest und ich dir damit nicht zu nahe trete, darfst du dich mir gegenüber gerne öffnen, denn ich denke, deshalb sind wir hier.

       Ich muss zugeben, ich habe ein wenig auf deinem Profil geschnüffelt, das zwar nur spärlich ausgefüllt ist, aber dein Foto sagt sehr viel über dich aus, soweit es tatsächlich dich zeigt und nicht einen Mann, der deutlich hübscher ist, als du dich selbst finden möchtest. Bei diesem Anblick kann ich mir kaum vorstellen, dass jemand wie du einsam und traurig ist, daher bin ich sehr auf deine Antwort gespannt.

       Ich selbst bin weniger ein vergessenes Mädchen, als ein verlorenes. Das hat auch einen bestimmten Grund, an dem ich jedoch selbst noch sehr zu knabbern habe, sodass ich dir hierüber zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Erklärung liefern kann, aber ich hoffe, dies eines Tages nachholen zu können. Allerdings hoffe ich, dass du mich tatsächlich so schnell nicht vergessen wirst, denn es ist schon schlimm genug, dass ich mich scheinbar selbst vor einiger Zeit vergessen habe.

       Mehr dazu beim nächsten Mal.

       In der Hoffnung, dich nicht allzu sehr verschreckt zu haben, freue ich mich schon jetzt auf deine Antwort und auf den weiter bestehenden Kontakt mit dir.

       Liebe Grüße,

       forgottengirl.“

      Wieder und wieder lese ich mir ihre Worte durch und schlucke schwer. Sie scheint ein Geheimnis zu haben und ich spüre, wie sie mein Interesse weckt. Ihre Zeilen drängen mich quasi dazu, mehr über sie zu erfahren, aber ich weiß, dass auch ich private Dinge von mir preis geben muss. Aber immerhin hab ich selbst davon angefangen, also mache ich mich daran und kläre sie auf. Lange versuche ich, mir die richtigen Worte zurecht zu legen. Zeile für Zeile setzt sich meine Antwort an diese geheimnisvolle Frau zusammen, gepaart mit weiteren Fragen, die ich an sie richte und deren Antworten ich kaum erwarten kann.

      Gerade lese ich meine Nachricht noch einmal Korrektur, als Jeff erneut in mein Büro hinein späht. „Ähm, Tim? Musst du nicht langsam los?“ Erschrocken schaue ich auf die Uhr, die über seinem Kopf prangt. Mist, die Verhandlung! Die Akten liegen noch in der gleichen Position auf meinem Tisch, wie noch eine Stunde zuvor. So lange habe ich mit dem Beantworten der Nachricht gebraucht. Eilig drücke ich auf Senden, packe meine Sachen zusammen, bedanke mich bei Jeff für den Hinweis und renne zum Fahrstuhl. Kaum, dass ich im Auto sitze, rufe ich meine Sekretärin an und bitte sie, mir den Sitzungssaal und den Namen des Richters zu nennen, der die Verhandlung führen wird.

      Zehn Minuten später betrete ich gerade noch rechtzeitig den Gerichtssaal und hoffe das Beste, nicht nur in Bezug auf die Verhandlung.

      Lilly

      Freundschaft

      Es ist Wochenende und normalerweise wüsste ich wie so oft in den letzten Wochen nichts mit meiner Zeit anzufangen. Zum Glück hatte Rachel gestern eine fabelhafte Idee. Kaum war die Sitzung zu Ende, sprach sie mich an.

      „Lilly, hast du am Wochenende schon was vor? Ich meine, hast du Beschäftigung?“ Ihre großen Augen sahen mich neugierig an, als konnten sie meine Antwort kaum abwarten. „Nein.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich werde das Wochenende genau so verbringen, wie die letzten Wochenenden auch. Wieso?“ Rachels Gesicht erhellte sich, vermischte sich jedoch sogleich wieder mit Unsicherheit. „Ähm, also, wenn du magst und das für dich okay wäre … Magst du das Wochenende bei mir und meiner Mum verbringen?“ Ihre Augen wirkten nun noch größer als zuvor. Ihre Frage ließ mich anfangs schwer schlucken. Konnte ich mich ihr schon soweit anvertrauen, dass wir ganze Nächte miteinander verbrachten? Konnte ich in einem fremden Haus schlafen, einfach so? Rückblickend auf die letzten Wochen muss ich sagen: Ja, das kann ich. „Klar, gerne! Aber hat denn deine Mum nichts dagegen? Immerhin kennt sie mich doch gar nicht?“ Ich verstumme, denn eigentlich kennt mich sowieso niemand. Auch Rachel scheint zu merken, dass diese Bemerkung überflüssig war. Trotzdem antwortet sie.

      „Ach, was. Sie freut sich immer, wenn sie Gäste hat. Meine Mum ist ein sehr liebenswerter Mensch.“ Ich frage ich automatisch, ob diese Feststellung aus ihrer Erinnerung herrührt oder ob sie diese Erfahrung erst vor kurzem gemacht hat. Was habe ich schon zu verlieren? „Okay, gerne. Ich muss nur schauen, wie ich am besten zu dir komme. Wann soll ich da sein?“ Rachel strahlte. „Weißt du was? Ich frage meine Mum, ob wir dich gemeinsam abholen können. Ich rufe dich nachher an, okay?“ Ich nickte, froh darüber, nun eine Verabredung für das gesamte Wochenende zu haben. Genügend Zeit, um sie besser kennen zu lernen – und um ihr Gelegenheit zu geben, mehr über mich selbst herauszufinden.

      Mit einer gepackten Tasche, die ich von einer Sozialarbeiterin ins Krankenhaus gebracht bekommen habe, als ich entlassen wurde, stehe ich im Flur und warte auf das heranfahrende Geräusch eines Autos, beschließe dann jedoch, gleich runter zu gehen und vor der Haustür auf sie zu warten. Kaum komme