Название | Demenz in der Lebensmitte |
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Автор произведения | Hanns Sedlmayr |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742767097 |
Wir sind sehr deprimiert, als wir am Abend meine Frau verlassen.
Am Montag kann ich endlich den Oberarzt sprechen. Durch seinen Vortrag bin ich auf die angewandte Behandlungsmethode aufmerksam geworden. „Meine Frau kann nicht mehr sprechen, nicht aufstehen und nicht gehen“, sage ich. Er schaut mich kurz an und sagt: „Wir können die Behandlung rückgängig machen. Wir brauchen nur die Medikamente abzusetzen. Ihre Frau ist dann wieder in dem Zustand, in dem Sie sie bei uns einlieferten.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Sie haben die Wahl. Wollen Sie sie in eine Pflege geben, oder soll sie verwahrlosen. Im Übrigen bestehen gute Chancen, dass sich bei intensiver physiotherapeutischer Behandlung ihre Bewegungsfähigkeit wieder verbessert.“
„Kann sie das Sprechen auch wieder lernen?“, hake ich nach. Der Arzt schaut etwas betreten weg und antwortet: “Eher nicht, aber auch das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.“
Ich nehme meine Frau mit nach Hause und organisiere einen Pflegedienst.
Für die Heimreise leiht uns die Klinik einen Rollstuhl.
Wenn ich morgens die Wohnung meiner Frau betrete, war der Pflegedienst schon da. Sie sitzt dann noch beim Frühstück. Ich begrüße sie, räume das Frühstück ab und mache den Fernseher an. Dann ziehe ich mich in mein Büro zurück.
Nach zwei Stunden bringe ich sie auf die Toilette und wechsle ihre Windeln. Wenn ich Pech habe, hat sie auch gekackt und ich muss sie säubern. Wenn ich Glück habe, hat das schon der Pflegedienst erledigt.
Ich habe selten Glück.
Am Mittag kaufe ich ein und koche für uns beide. Damit meine Frau abnimmt, koche ich eine kohlehydratfreie Kost, die auch mir guttut.
Gegen 17 Uhr kommt der Pflegedienst und ich fahre nach Hause. An den Wochenenden kommt der Pflegedienst auch am Mittag und ich habe frei.
Meine Frau lässt die Säuberungen ohne Emotion und ohne Abwehr über sich ergehen. Mein Eindruck ist, dass sie keinen Unterschied zwischen den Pflegern und mir macht.
Die Prophezeiung, dass ihre Bewegungsfähigkeit verbessert werden kann, trifft vorübergehend zu. Nach der zweiten Physiotherapie-Sitzung versichert mir ein junger Therapeut- Fides ist eine seiner ersten Patienten: - „Nach zehn Sitzungen kann Ihre Frau wieder Treppensteigen.“ Mir erscheint das abwegig. Meine Frau kann ihre Füße nicht anheben.
Er brauchte zwanzig Sitzungen und meine Frau konnte mit Unterstützung Treppensteigen. Leider kündigte der Therapeut in seiner Firma und unter seinen Nachfolgern geht diese Fähigkeit bald wieder verloren.
Meine Gefühle für meine Frau sind seit Jahren abgestorben. Sie hat mich zehn Jahre lang verletzt und gedemütigt. Ich ekele mich seit Jahren vor ihrem leeren und abweisenden Gesicht. Ich vermeide es, sie anzusehen. Sie ist eine schreckliche Last, aber eine Last, der ich mich nicht entziehen kann. Ich hatte dreißig Jahre lang, bis zum Ausbruch ihrer Krankheit, gut mit ihr zusammengelebt.
Ich habe sie in dieser Zeit geliebt, das vergesse ich jetzt manchmal.
Um meine Erinnerung an die gute Zeit mit meiner Frau zurückzuholen hole ich mein Tagebuch, das ich als junger Mann geführt habe und suche dem ersten Eintrag, in dem sie vorkommt.
1961 Schülerliebe
Gestern lernte ich auf dem Dschungelball im Haus der Kunst ein schönes Mädchen kennen. Sie springt die Treppe vor dem Haus der Kunst in München herunter. Ich stehe, zusammen mit einer ihrer Klassenkameradinnen, unten auf der Straße. Verspielt wie ein kleines Mädchen, kommt sie daher gehüpft. Sie trägt eine Strumpfhose und darüber ein kurzes, dunkelblaues, leicht durchsichtiges Nachthemd.
Ihre Beine sind von einer mir bis dahin unvorstellbaren Vollkommenheit. Ihre gut ausgebildeten Oberschenkel und Waden ergeben im Gesamtbild Beine von perfekten Proportionen. Meine Mutter hat Säbelbeine, in meiner Nachbarschaft wohnen drei Schwestern mit hübschen Gesichtern, aber alle drei erbten die kurzen, dicken Beine der Mutter. Und bei der hübschen Renate aus der Klasse bevor ich nach München kam, in die ich immer noch ein bisschen verliebt bin, stimmen die Relationen zwischen Oberschenkel und Unterschenkel nicht.
Als die schönen Beine bei uns unten ankommen, blicke ich in das zarte und anmutige Gesicht eines jungen Mädchens an der Schwelle zu einer erwachsenen Frau, das aber immer noch mehr Mädchen als Frau ist.
Ihr Gesicht hat klare Linien. Eine hohe Stirn, eine kleine gerade Nase und einen zarten Mund mit geschwungener Unterlippe. Ihr Gesicht ist ein wenig zu perfekt, wirkt beinahe kühl. Die dichten dunkelblonden Haare sind zu einem Krönchen hochgesteckt. Unter dem durchscheinenden Nachthemd zeichnen sich schmale Hüften und ein wohlgestalteter Busen ab.
Mich ergreift bei ihrem Anblick ein Wohlgefühl, das ich auf Bergtouren beim Betrachten des Horizonts empfand. Einige Male auch beim Betrachten von Kunstwerken in Museen, aber noch nie beim Betrachten eines Menschen.
Als sich unsere Blicke treffen, schlägt mein Herz, anstatt lautlos in der Brust, übermäßig laut in meinem Kopf. Mich ergreift ein leichter Schwindel. Ich sehe mir zu, wie ich beim Anblick dieses Mädchens an den Rand eines Schwächeanfalls gerate. Die heftige Gefühlsregung, die dieses Mädchen bei mir auslöst, verwirrt mich. Sie dagegen ist, trotz ihrer kindlichen Treppensprünge, kein bisschen verlegen. Ihr Blick ist neugierig, ihr Lächeln halb nachsichtig, halb ironisch. Sie nahm meine Gefühlswallung wahr. Ich bin nicht der erste Mann, der von ihrem Anblick hingerissen ist.
Sie wird mir als Fides vorgestellt und ich drücke kurz ihre Hand. Ich bin so in ihren Anblick versunken, dass ich nicht sprechen kann.
An diesem Abend weiche ich nicht von ihrer Seite. Wir küssen uns an der Bar. Es ist ein feuchter, etwas ungelenker Kuss.
Später darf ich sie nach Hause bringen. Der Weg führt uns über den Viktualienmarkt. Dort ziehe ich sie in den Schatten eines verlassenen Marktstandes und küsse sie wieder und wieder, bis sie sich mir entzieht.
Wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag im Café Rischart.
Lange vor der verabredeten Zeit sitze ich im Café. Ich bin aufgewühlt und ungeduldig. Sie kommt nicht. Die verabredete Zeit ist längst verstrichen.
Ich denke schon daran zu gehen.
Da erscheint sie.
Sie ist angezogen wie eine Internatsschülerin: dunkelblauer Faltenrock, hellblaue Strickjacke, weiße Bluse. Die dichten Haare fallen ihr in leichten Wellen bis zu den Schultern. Sie ist ungeschminkt.
Ihr Anblick berührt mich. Sie ist noch schöner als in meiner Erinnerung.
Ich stehe auf, um sie zu begrüßen, doch sie reicht mir nicht ihre Hand. Sie setzt sich auf den freien Stuhl an meinem Tisch. Für einen Moment fühle ich einen leichten Schwindel und bin froh, dass ich mich wieder setzen kann.
Sie erklärt mir, sie wollte eigentlich gar nicht kommen. Erst nachdem die verabredete Zeit um eine halbe Stunde überschritten war, habe sie sich doch noch anders entschieden.
Sie spricht mit mir in einem Ton, der anzeigt, dass sie unsicher ist, ob das Treffen mit mir lohnend ist. Sie vermeidet es, mir in die Augen zu schauen.
Ihre Eltern sind beide Ärzte. Sie hat drei Schwestern und wohnt ein paar Schritte entfernt vom Viktualienmarkt. Sie macht nächstes Jahr Abitur und danach will sie Französisch studieren. Sie spricht ohne Dialekt.
Ich bin eine Klasse unter ihr, ich bin einmal sitzengeblieben. Ich lebe in einer nahen Kleinstadt und fahre täglich nach München zur Schule. Meine Mutter hat weder Bildung noch einen Beruf. Mein Vater war Anwalt und ist vor vier Jahren, beim Bergsteigen, ums Leben gekommen. Ich war bei dem Unfall dabei und verarbeitete den Schmerz über den Tod meines Vaters nur unvollständig. Ich werde nur mit einem Stipendium studieren können, mein Hochdeutsch ist mangelhaft, meine Schulnoten kläglich.
Ich bekomme Angst, dass es mir nicht gelingen wird, die Liebe dieses Mädchens zu gewinnen.
Bevor wir gehen, zieht