Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr

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Название Demenz in der Lebensmitte
Автор произведения Hanns Sedlmayr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742767097



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einnimmt. Es kommt oft vor, dass der Pflegedienst unverrichteter Dinge wieder geht, ohne dass sie die Tabletten einnimmt.

      Als Folge des Konkurses meiner Firma muss ich unser Familienhaus verkaufen.

      Für meine Frau und unsere Töchter bereite ich ein Abschiedsessen. Ein letztes Mal sitzen wir zusammen und nehmen Abschied vom versteckten Garten mit den hohen alten Bäumen und dem Teich mit den Seerosen. In windstillen Nächten können wir die Isar rauschen hören.

      Es ist ein wehmütiger Abschied. Der ungepflegte Garten passt zu unserer Stimmung.

      Während des Essens steht Fides auf und geht ins Haus.

      Auf dem Weg dahin hinterlässt sie eine Spur von Kot. „Mamma was ist mit Dir“, schreien die Kinder.

      Sie geht unbeeindruckt weiter.

      Die Mädchen weinen. Ihnen wird bewusst, dass ihre Mutter viel kränker ist, als sie bisher annahmen.

      „Sie ist inkontinent“, sage ich niedergeschlagen.

      Im Haus macht sich seit Tagen Uringeruch bemerkbar. Es ist ein schöner Sommer. Um den Gestank erträglich zu machen, öffne ich immer alle Türen zum Garten.

      Meine Töchter weinen, als sie das Haus verlassen.

      Ich bin in eine Mietwohnung in der Innenstadt gezogen und kaufte für meine Frau eine Eigentumswohnung am Stadtrand, in der ich für mich ein Büro einrichtete.

      2008

      Fides war heute einen Tag im Krankenhaus.

      Nach langen Mühen konnte ich sie überreden, in das Krankenhaus zurückzugehen. Überzeugen konnte ich sie, weil in den letzten Wochen ihr Gang unsicher wurde und sie mehrmals stürzte.

      Am Nachmittag kamen unsere Töchter und ich hinzu. Es wurde eine fortgeschrittene Demenz diagnostiziert. Sie kennt ihren Namen und ihr Geburtsdatum nicht mehr und hat die Namen ihrer Töchter vergessen. Uns wurde nahegelegt, einen Vormund für sie zu bestimmen. Sie war einverstanden, dass ihre beiden Töchter gemeinsam ihr Vormund sind.

      Fides lebt jetzt in einem Hochhaus am Stadtrand, in dem ich mein Büro habe. Ich bin viel unterwegs, aber immer ein oder zwei Tage pro Woche einen ganzen Tag im Büro, die Wohnung ist verdreckt. Sie stinkt durchdringend nach Urin. Sie liegt tagsüber auf dem Sofa und sieht fern.

      Ich organisierte einen Pflegedienst, der auch die Wohnung reinigt und für sie auch am Mittag kocht.

      Alle Versuche des Pflegepersonals, sie zum Tragen von Windeln zu überreden schlagen fehl.

      Ich hatte heute einen Termin mit der Leiterin des Pflegedienstes. Sie legt mir nahe Fides in ein Heim zu überstellen und erklärt mir meine Frau wäre so aggressiv, dass sie ihren Mitarbeitern ihre Pflege nicht mehr länger zumuten könne.

      Auf einer Veranstaltung für Angehörige dementer Patienten wurde ich auf einen Vortrag aufmerksam. Ein Arzt stellt dort eine Methode vor, mit deren Hilfe demente Patienten, die aggressiv sind und eine Pflege verweigern, so behandelt werden, dass sie eine häusliche Pflege akzeptieren.

      Die Methode beruht darauf, mit Medikamenten einen Umbau im Gehirn des Patienten in Gang zu bringen, durch den abgestorbene Zellen, die für Empathie zuständig waren, wiederbelebt werden, zulasten von anderen Zellen.

      Er betont, dass dieser Umbau nicht gezielt vonstattengeht, die Medizin weiß nur sehr wenig über den Umbau von Zellen, dass es aber durch Probieren von verschiedenen Medikamenten und unterschiedlichen Dosierungen möglich ist, diesen Umbau zu bewerkstelligen.

      Der Zustand, in dem sich meine Frau befindet, ist unerträglich. Meine Töchter und ich beschließen, sie diesem Arzt anzuvertrauen. Ich werde sie im Januar nächsten Jahres in die geschlossene Abteilung seiner Klinik bringen. Mit Mühe kann ich den Pflegedienst überreden solange weiter die Pflege zu übernehmen.

      2009

      Jeden dritten Tag besuche ich Fides in der Psychiatrie. Ihre Miene ist stets abweisend. Wir sprechen wenig. Es ist ein Pflichtbesuch ohne Empathie auf beiden Seiten. Ich schaue in das Gesicht meiner Frau. Es ist sehr verändert. Es ist mir unverständlich, dass ich es einmal geliebt habe. Es ist ein Gesicht, in dem es kein Mitgefühl gibt. Es ist merkwürdig selbstsicher, ja sogar herablassend. Meine Besuche sind ihr gleichgültig. Sie sind unnötig. Ich kann das an ihrem Gesicht ablesen. Ich bleibe immer nur kurz.

      Ich frage sie: „Wie geht es Dir?“ Sie antwortet immer mit den gleichen Worten: „Du siehst das doch. Ich bin in der Klapsmühle gelandet. Du hast mich dahin gebracht.“

      Sie schaut mich bei diesen Worten immer voller unterdrückter Wut und Verachtung an.

      Ich kann diesen Blick nicht ertragen und gehe. Die Besuche dauern immer nur wenige Minuten.

      Die Ärzte probieren immer neue Medikamente und Dosierungen aus. Wochenlang ohne Ergebnis. Einmal offensichtlich in die falsche Richtung: Als sie von einer Pflegerin geduscht wird, verpasst sie der Pflegerin einen Kinnhaken.

      Die Abteilung ist ein Alptraum. Es spielen sich bedrückende Szenen ab.

      Einmal wurde eine Patientin aggressiv und wollte die Abteilung verlassen. Sie begann zu schreien: „Ich will hier raus. Ihr quält mich und schlagt mich. Ihr seid alle Schweine.“ Sie wurde zuerst von zwei Schwestern gehalten, kam aber frei. Dann wurde sie von drei Schwestern und einem Arzt gejagt, auf den Boden gelegt und sie bekam eine Spritze. Während der ganzen Zeit schrie sie verzweifelt und versuchte frei zu kommen.

      Ein Mann sprach mich an. Er gab sich als Hausmeister aus und bot mir einen privaten Parkplatz an. Später wurde er in einen Stuhl eingesperrt. Er saß mit einem demütigen Gesichtsausdruck in dem Sessel. Als ich vorbeiging, bemerkte ich eine Pfütze unter seinem Stuhl. Er schämte sich für die Pfütze. Der verschämte Ausdruck in seinem ausgemergelten Gesicht berührte mich.

      Ein andermal kniete ein Mann weinend vor seiner dementen Frau, die er in der Klinik besuchte und flehte sie an: „Ich bin es doch.“ Die Patientin wandte sich angeekelt ab. Der Mann war sorgfältig und geschmackvoll gekleidet und etwa in meinem Alter. Er parkte seinen luxuriösen Bentley immer neben meinem Smart. Sein verweintes Gesicht zerriss mir schier das Herz. Seiner Frau sah man an, dass sie einmal eine attraktive Frau gewesen war. Ihr Gesicht, voller Ekel für ihren Mann, wirkte dennoch nicht abstoßend: Es war ein Gesicht, in dem sich widerstrebende Gefühle spiegelten.

      Heute empfing mich meine Frau ohne den angeekelten Gesichtsausdruck. Ich wusste sofort, die Behandlung ist erfolgreich. Ihr Gesicht ist nicht mehr entstellt und leer. Es ist jetzt wieder das Gesicht, das ich kenne. Es ist kein liebevoller Blick, mit dem sie mich empfängt, nicht einmal ein freundlicher Blick, aber eben auch kein leerer. Es ist ein Gesicht, in dem Empfindungen wahrnehmbar sind.

      Sie liegt im Bett, als ich sie besuche. Daran ist nichts Auffälliges. Sie lag bei meinen Besuchen fast immer im Bett.

      Ich frage: „Wie geht es Dir?“ Sie antwortet nicht, ich sehe aber, dass sie antworten will. Sie bemüht sich zu sprechen, kann es aber nicht. Sie öffnet den Mund. Es kommt kein Laut heraus, nur ein verzweifeltes Röcheln.

      Meine erste Begeisterung über ihren veränderten Gesichtsausdruck weicht einem Entsetzen. Sie kann nicht mehr sprechen.

      Ich renne auf den Gang und betrete, nach nur einem kurzen Klopfen, das Ärztezimmer. Die diensthabende Ärztin verweist mich auf den Oberarzt. Sie könne keine Aussage über den Zustand meiner Frau machen. Der Oberarzt hätte am Montag Dienst. Heute ist Freitag,

      beklommen betrete ich wieder das Zimmer meiner Frau.

      Sie empfängt mich mit einem „Hallo.“

      Das Hallo ist undeutlich, aber es klingt wie hallo. Sie kann also sprechen, aber nicht mehr mit zusammenhängenden Worten.

      Ich bleibe diesmal lange bei ihr und versuche, ihr immer wieder Worte zu entlocken. Das gelingt auch. Wenn auch immer nur mühsam. Es fühlt sich so an, als ob sie Kieselsteine beim Sprechen im Mund hat.

      Am Wochenende kommen unsere Töchter und versuchen ebenfalls, ihre Mutter zum Sprechen zu bringen. Es bleibt dabei, sie kann mühsam einzelne Worte sprechen, aber sie kann diese Worte nicht zu ganzen Sätzen