Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr

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Название Demenz in der Lebensmitte
Автор произведения Hanns Sedlmayr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742767097



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ohne bleibenden Schaden abläuft.

      Bei einigem Nachdenken wird mir klar, dass jemand, der so tief gesunken ist, der nicht mehr alleine die Toilette aufsuchen kann, sich in einer so ausweglosen Situation befindet, es als tröstend empfindet, wenn nahestehende Personen auch Peinlichkeiten und Fehlschläge erleiden. Erfolg und Glück sind etwas, das in ihrem Leben nicht mehr vorkommt. Sie versteht es nicht mehr und kann sich auch nicht mehr am Erfolg oder Glück anderer erfreuen.

      Fides ist inzwischen eine Stufe tiefer gerutscht.

      Als ich gestern vor dem Pflegedienst komme, liegt sie am Boden. Sie ist durchnässt und unterkühlt. Eine Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst ist nicht mehr möglich. Sie kann jetzt nachts nicht mehr allein sein.

      Über meine Tochter bekomme ich die Adresse einer rumänischen Bäuerin, die schon Erfahrung in der Krankenpflege in Italien hat. Sie heißt Flori. Als ich sie am Flughafen abhole und anspreche - ihre Tochter ist mit meiner Tochter befreundet und schickte mir ein Foto - geht sie einfach weiter. Erst als ich sie am Ärmel anfasse, bleibt sie stehen.

      Flori ist empathisch und freundlich zu meiner Frau. Wenn sie rumänisch bäuerlich kocht, trägt sie immer eine blendend weiße Schürze. Meine Frau akzeptiert Flori. Ich mag sie auch.

      Nach drei Monaten wird das Heimweh nach dem Marito, das ist ihr Ehemann, so groß, dass Flori heimfährt und uns eine Freundin schickt.

      Sie heißt Rodika, ist rothaarig, korpulent und fröhlich. Rodika kommt noch besser als Flori mit meiner Frau zurecht. Ich brauche keine Windeln mehr wechseln, kann tagsüber ungestört arbeiten und meine Wochenenden allein verbringen. Nach drei Monaten ist Flori wieder da. Kurz bevor wieder ein Wechsel fällig ist, erklärt Flori, Rodika würde nicht mehr kommen, statt ihrer käme eine andere Freundin.

      Ich bin misstrauisch und telefoniere mit Rodika. Sie sagt: „Flori behauptet, ich bin in Deutschland nicht mehr erwünscht. Darum komme ich nicht mehr.“

      Ich bitte Rodika zu kommen und stelle Flori zur Rede. Auf meinen Vorschlag, ihre Intrige einzugestehen, dann wäre alles vergessen, geht sie nicht ein. Sie bestreitet alles und reist ab, bevor Rodika eintrifft.

      Rodika wechselt sich jetzt mit einer anderen Bäuerin ab. Sie heißt Valeria. Sie ist sehr fromm und ebenfalls empathisch. Sie pflegte mehrere Jahre lang ihren krebskranken Mann.

      Mit Rodika spreche ich italienisch. Valeria spricht nur rumänisch. Wir verständigen uns mit Zeichen und dem Google-Übersetzer.

      Schon seit vielen Jahren bin ich der Koch in der Familie. Das war schon so, als die Mädchen noch zu Hause waren und meine Frau weniger krank war. Kochen macht mir Spaß. An den Werktagen am Mittag und am Abend koche ich jetzt immer mit den Pflegerinnen, meist streng nach Anleitung aus einem Kochbuch, manchmal improvisieren wir. Wenn es Mittag wird, hole ich Fides ab und bringe sie in die Küche. Sie kann es immer kaum erwarten, dass es Mittag wird. Sie strahlt, wenn ich sie hole und streckt mir ihre Hände entgegen.

      Sie ist immer hungrig und bekommt vorab schon etwas aus dem Kühlschrank.

      Sie darf immer die Saucen abschmecken.

      Manchmal kommt es vor, dass ich etwas vergesse und noch einmal kurz in die Küche gehe. Steht das Essen schon am Tisch, versucht sie stets, sich etwas zu nehmen. Aufgrund ihrer schlechten motorischen Fähigkeiten bleibt das aber meist bei einem Versuch. Sie kann nicht mehr selbständig essen. Sie weiß nicht mehr, wie man eine Gabel hält. Wir nehmen sie immer in die Mitte und helfen ihr abwechselnd. Zu Beginn der Mahlzeit, wenn wir ihr zeigten, wie man die Gabel hält, isst sie selbständig. Sie ermüdet aber schnell. Immer öfter hebt sie dann die Gabel, kann sie aber nicht mehr zum Mund führen und blickt Hilfe suchend um sich. Am Ende der Mahlzeit muss sie gefüttert werden.

      Große Sorge bereiten den Pflegerinnen und mir ihre zunehmenden Probleme beim Schlucken.

      Manchmal kann sie es nicht. Oft weiß sie auch nicht, ob sie schon geschluckt hat. Sie öffnet dann den Mund und die unzerkaute Speise läuft zusammen mit sehr viel Speichel aus ihrem Mund.

      Vielleicht könnte ein Logopäde helfen. Ob aber ein Logopäde bei einem zerstörten Gehirn etwas ausrichten kann, scheint mir fraglich.

      Mit meiner Frau zu Alessandro zum Essen zu gehen, traue ich mich nicht mehr.

      Es gibt manchmal auch Erfahrungen mit Fides, die tröstlich sind und zeigen, dass ihr Verstand doch noch mehr leistet.

      Bei der Rückkehr von der Physiotherapie schob die Pflegerin den Rollstuhl und ich ging neben ihr und hielt ihre Hand. Plötzlich drückte sie fest meine Hand und wies mit dem Kopf auf ein sympathisches Schauspiel, das ein etwa drei Jahre alter Junge bot. Er steht in einem Blumenbeet, in dem es auch ein kleines Bäumchen gibt. Seine Mamma zog ihn splitternackt aus. Er versucht, das Bäumchen anzupinkeln. Er zielt mit seinem winzigen Penis auf das Bäumchen. Das misslingt aber, er pinkelt sich auf die Füße. Er hält seinen Penis zu steil nach oben. Er stoppt und blickt fragend nach seiner Mamma. Die nickt ihm zu und er fährt fort, seine Füße anzupinkeln.

      Diese Szene macht mir auch große Freude. Fides drückt noch einmal meine Hand und wendet mir ihr amüsiertes Gesicht zu.

      Trotz der empathischen Bäuerinnen ist meine Frau manchmal aggressiv. Gestern sperrte sie Rodika auf dem Balkon aus, indem sie die Balkontür verriegelte. Anschließend fiel sie hin und konnte nicht mehr aufstehen. Rodika harrte, trotz winterlicher Temperaturen, stundenlang am Balkon aus. Um Mitternacht kam der Nachbar nach Hause und alarmierte die Feuerwehr.

      Fides ist durchnässt und unterkühlt und wird ins Krankenhaus gebracht.

      An manchen Tagen dauert es lange, bis sie mich am Morgen erkennt. Ich bekomme einen Vorgeschmack, was als Nächstes passieren wird.

      Fides braucht einen neuen BH, den können wir nur in der Stadt kaufen. An einem leicht gewittrigen Nachmittag fahren Fides, Rodika und ich, mit dem Bus in die Stadt.

      Ich sah mir vorher ein Video an, in dem gezeigt wird, wie man mit dem Rollstuhl in einem Bus mitfährt:

      1. Gut sichtbar für den Busfahrer aufstellen.

      2. Der Busfahrer senkt den Bus ab

      3. Der Busfahrer steigt aus und zieht im Mittelteil eine Überfahrplatte auf

      4. Der Rollstuhl kann über diese Platte in den Bus geschoben werden.

      Das funktionierte genauso. Allerdings stellten sich beim Rollstuhl die Räder quer und wir kommen erst in den Bus, nachdem der Busfahrer mir signalisierte, den Rollstuhl vorne anzuheben.

      Fides ist ein bisschen aufgeregt und auch ängstlich, als wir im Bus sind. Ich nehme eine Hand von ihr. Sie will dann, dass ich auch ihre zweite Hand halte. Ich kann mich jetzt nicht mehr festhalten und stehe etwas wacklig.

      Auf der Fahrt steigen noch zwei Frauen mit Kinderwägen zu. Wir stehen jetzt sehr eng, mit zwei Kinderwagen, in der Mitte des Busses. Die Kinder beäugen neugierig die Rollstuhlfahrerin.

      Zum Ausstieg müssen wir eine Klingel für den Busfahrer drücken.

      Wir steigen an der Leopoldstraße aus. Es herrscht das übliche Getümmel. Gleich beim Aussteigen begegnet uns eine Altschwabingerin aus unserer Generation in einer Art Ballkleid. Mit High Heels und einem gewaltigen Strohhut mit bunten Bändern. Das Ballkleid ist im Stil der Sechziger Jahre und auch die Dame scheint aus dieser Epoche zu sein.

      Fides beäugt die Dame, ist aber nicht überrascht über ihr Outfit. In unseren jungen Jahren waren Damen in diesem Outfit keine Besonderheit, allerdings hatten sie junge Gesichter.

      Ich konnte an den Bewegungen ihres Kopfes sehen, dass sie die Passanten wahrnimmt. Die Aufregung der Busfahrt regte ihre Wahrnehmungsfähigkeit an. Sie ist jetzt nicht apathisch, sondern bewegt. Nach einiger Zeit halte ich an, knie vor ihr nieder und schaue in ihr Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck ist wach, aber ein bisschen melancholisch, so als ob sie wüsste, dass sie im Rollstuhl sitzt.

      Ich frage sie: „Alles gut bei Dir?“ Sie nickt.

      In einem Kaufhaus kaufen wir einen BH. Wir fragen sie, welche Farbe sie möchte. Sie kann nicht antworten, auch nicht, als wir noch ein T-Shirt kaufen. Ihrem Gesichtsausdruck ist anzusehen,