Название | Demenz in der Lebensmitte |
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Автор произведения | Hanns Sedlmayr |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742767097 |
Zweimal am Tag bekommt sie ein Antidepressivum. Dieses Medikament ist sehr wirksam und hat den Effekt, dass sie ihren Zustand meist nicht wahrnimmt. Manchmal aber scheinen die Medikamente nicht zu wirken. Ihr Gesicht gefriert dann zu einer Maske furchtbarer Traurigkeit.
In diesem Gesicht ist nur der Wunsch, diese quälende Traurigkeit zu beenden, gerne auch mit dem Tod.
Der Anblick eines Gesichts, das sich den Tod wünscht, ist unerträglich, es löst einen Schmerz aus, der sich in die Seele einbrennt und der immer wieder kommt, auch wenn kein direkter Anlass vorliegt.
Heute ist meine Frau bei einer Spazierfahrt mit ihrer Pflegerin aus dem Rollstuhl gekippt und mit dem Gesicht am Boden aufgeschlagen. Als ich sie aus dem Krankenhaus abhole, liegt sie mit nacktem Oberkörper und wundem Gesicht im Gang der Notaufnahme. „Ich möchte von niemand mehr gesehen werden, lass mich nicht hier liegen“, sagt sie als ich bei ihr ankomme. Mehrmals wiederholt sie diesen Satz. Unter einer großen Gefühlsregung kann sie wieder sprechen.
Alle zwei Stunden verlasse ich mein Arbeitszimmer und schaue nach meiner Frau. Am Vormittag schläft sie meist. Am Nachmittag sitzt sie vor dem Fernseher.
Wenn sie schläft, setze ich mich zu ihr auf das Bett, streichle ihren Rücken und ihre Haare. Manchmal bekomme ich dann wieder dieses Lächeln. Sie öffnet dabei nicht ihre Augen.
Als ich einmal nach ihr schaue, während sie fernsieht, schaut sie mich an und sagt: „Schön, dass Du nach mir schaust.“ Ich bin sehr bewegt. Einen so langen Satz hat Sie seit Monaten nicht gesprochen.
Diese Krankheit ist verrückt, manchmal kommt eine Phase der Besserung. Für ein paar Tage schafft sie es dann, ganze Sätze zu sprechen. Auch das Gehen fällt ihr dann leichter.
Leider sind diese Erholungsphasen immer nur vorübergehend. Ich falle aber immer wieder darauf herein.
Ein- oder zweimal im Monat gehen wir in ein kleines italienisches Restaurant am Ostbahnhof. Wir lassen dann immer den Rollstuhl zu Hause. Ich parke meinen Smart auf dem Bürgersteig und führe meine Frau am Arm die paar Schritte ins Restaurant.
Chef und einziger Mitarbeiter dort ist Alessandro. Alessandro ist ein schöner junger Mann aus Kalabrien. Ich nehme regen Anteil an seinem Liebesleben. Da läuft nicht alles glatt. Er hat zu viele Bräute.
Beim Essen muss Fides häufig nießen. Alles was sie im Mund hat, wird dann durch die Gegend geprustet. Alessandro wischt dann immer geduldig den Tisch ab und klopft ihr aufmunternd auf die Schulter.
Einmal trifft es den Nachbarn.
Das Publikum bei Alessandro ist aber Kummer gewöhnt und erträgt auch widrige Umstände mit Gelassenheit. Ich spendiere dem Nachbarn einen Grappa und er stößt mit uns an.
Alessandro spendiert uns zum Abschluss immer einen Espresso. Ich revanchiere mich mit einem guten Trinkgeld.
Manchmal bewegt sie etwas und sie versucht zu sprechen. Es kommen aber nur einzelne, unzusammenhängende Worte. Sie gibt immer schnell auf.
Oft erzähle ich ihr, auch aus Mangel an einem anderen Gesprächspartner, was mich bewegt. Ich kann dabei nicht erkennen, ob sie meinen Ausführungen folgen kann. Mein Eindruck ist, dass sie es nicht kann. Nur Geschichten, die ich mit viel Emotionen erzähle, kann sie folgen. Bei diesen Geschichten ist sie ganz wach.
Es sind Geschichten über das doofe Mäxchen.
Wenn mir etwas Lustiges oder Peinliches widerfährt, schmücke ich es aus und erzähle es ihr.
Eine dieser Geschichten geht so:
Ich hatte mich endlich zu einer operativen Verkleinerung meiner Prostata durchgerungen und liege im Krankenhaus. Ich bin umgeben von Halbtoten und ziehe, in der Hand einen Beutel, in den mein Urin abfließt, durch die Krankenhausgänge, weil ich es im Bett nicht aushalte. Mein Nachthemd steht hinten offen. Es hat hinten eine Schleife, mit der man es tugendhaft verschließen kann. Ich komme aber an diese Schleife nicht dran.
Bei meinem ersten Ausflug bat ich eine Pflegerin auf dem Gang, mir die Schleife zu binden. Sie war aber in Eile und raunte nur verschwörerisch: „Bei uns ist immer Vollmond.“
Dann kam mir ein dunkelhäutiger Araber entgegen. Dessen Nachthemd stand hinten ebenfalls weit offen und gab einen ansehnlichen, behaarten Hintern frei.
Ich habe den Ausspruch der Schwester so verstanden, dass in dieser Abteilung (Urologie) nackte Hintern als unauffällig betrachtet werden. Nach einigen Wanderungen vergaß ich, dass mein nackter Hintern herausschaut. Ich wurde immer kühner und strolchte im ganzen Krankenhaus mit nacktem Hintern herum, den Urinbeutel in der Hand.
Das ging solange gut, bis mich eine mütterliche Pflegerin mit hochrotem Kopf stoppte und zur Rede stellt: „Bei Ihnen schaut ja der Hintern raus.“
Ich antwortete: „Ich weiß, aber mir wurde gesagt, hier ist immer Vollmond.“
Sie ist so freundlich, mir die Schleife zu binden und stürmt kopfschüttelnd weiter.
Ich erzählte diese Geschichte mehrfach.
Fides muss über diese Geschichte jedes Mal so lachen, dass sie Tränen in den Augen hat.
Ihre Freude an Peinlichkeiten bezieht sich auch auf andere Familienmitglieder.
Unsere Tochter Maya lief bei einem Marathon mit. Ich schob Fides im Rollstuhl an die Strecke, damit wir unsere Tochter anfeuern konnten.
Wir standen in der Ludwigstraße. Eine Straße vor unserem Standplatz wurden die Läufer in eine Seitenstraße abgeleitet und nach einer längeren Schleife, kurz vor uns, wieder in die Ludwigstraße eingeleitet.
Wir sahen unsere Tochter und feuerten sie an. Sie lief im Mittelfeld.
Nachdem sie vorbei war, schob ich Fides die Ludwigstraße zurück. Aufgrund der Ableitung waren jetzt auf der Ludwigstraße nur mehr einige Nachzügler unterwegs. Die meisten machten nicht den Eindruck, als ob sie noch ankommen würden.
Mit zufriedener Miene sagt sie: „Die Maya ist die Letzte.“
Ich erkläre ihr das mit der Ableitung. Sie blieb dabei: „Die Maya ist die Letzte.“ Entgegen ihrer geringen Fähigkeit, ganze Sätze zu sprechen, kann sie diesen Satz sogar mehrfach sprechen.
Eine andere Geschichte, die bei meiner Frau geradezu Entzücken auslöst, ist die folgende:
Ich war, wie jeden Werktag um 6 Uhr morgens mit dem Fahrrad unterwegs von meiner Wohnung in der Innenstadt zu meinem Arbeitsplatz in ihrer Wohnung. In Anbetracht des niedrigen Verkehrsaufkommens um diese Zeit, pflege ich rote Ampeln nicht zu beachten und verlasse mich auf meine konzentrierte Aufmerksamkeit. Kurz vor der Isarbrücke überquerte ich eine leere Kreuzung bei Rot und fuhr zügig über die Isarbrücke. Plötzlich sehe ich von hinten Blaulicht näherkommen. Mit etwas ungutem Gefühl trete ich in die Pedale, den Montgelas Berg hinauf, in der Erwartung, dass das Blaulicht nicht mir gilt. Das Blaulicht kommt näher, jetzt ertönt auch kurz die Polizeisirene. Parallel zu mir fährt eine Funkstreife. Ein taffer, junger Polizist spricht in ein Mikrofon: „Bitte anhalten, Polizei.“ Verschüchtert steige ich vom Rad, gemächlich steigt der junge Polizist aus und kommt mit federnden Schritten auf mich zu. Mir scheint, er hält eine Hand nahe an seiner Pistole. Das Blaulicht bleibt eingeschaltet und taucht das trübe Morgenlicht in ein unwirkliches Licht.
Mein verschüchtertes Absteigen vom Rad und mein Strammstehen vor dem Polizisten ist es, was sie so entzückt.
Es erscheint mir merkwürdig, dass sie sich so intensiv an peinlichen Situationen oder Misserfolgen ihrer Familie erfreuen kann. Zuerst schrieb ich es einem Rest fehlender Empathie zu.
Als ich im Radio einem Kabarettisten zuhöre, der seine Misserfolge bei den Frauen vor seinem Publikum ausbreitet und damit schallendes Gelächter auslöst, wird mir klar, dass das Erzählen von Misserfolgen bei anderen Menschen Fröhlichkeit auslöst und dass das nichts mit fehlender Empathie