Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit!. Simkin Nett

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Название Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit!
Автор произведения Simkin Nett
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752912531



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       Peter Simkin, Bernhard Nett (Herausgeber)

      Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit

      Gejagt vom Krieg bis ans Ende der Welt - und der Jugend"

       Inhaltsverzeichnis

       Vorbemerkungen

       Das Rehkitz ist tot

       Ein Spiel mit dem Feuer

       Mit "Ausdruck" vorlesen

       Brei für Ferkel und Kinder

       Stahlbeton des Kriegs

       Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit

       Dahin, wo der Ginseng wächst

       Wenn der Teelöffel nicht mehr reicht

       Ergänzende Informationen

      Vorbemerkungen

      Den folgenden Text haben wir als Herausgeber uns nicht ausgedacht: er basiert vielmehr auf den persönlichen Erfahrungen eines alten Herrn aus Kiew, der inzwischen leider schon verstorben ist. Mit ihm hatte Peter Simkin - selbst vor geraumer Zeit aus Russland nach Deutschland eingewandert - sich häufiger unterhalten. Die dabei gehörten Geschichten hatten ihn an Erzählungen seines eigenen Onkels erinnert, die sich auch um eine Kindheit und Jugend in Krieg und Stalinismus gedreht hatten - jedoch ganz anders. Dass ihm jedoch gerade die Geschichten des alten Herrn aus Kiew nicht mehr aus dem Kopf gingen, lag gar nicht an der besonderen weltanschaulichen oder politischen Haltung seines Gesprächspartners, an dessen unübersehbarer Prägung durch Familie, Umstände und den Geist bzw. Ungeist der Zeit: packend war vor allem der erinnerte Kinderblick auf die Verhältnisse gewesen, die dadurch lebendig geworden waren. Wie z.B. der kleine Kriegsflüchtling dem Horror entflieht: durch Weglaufen, ja! Aber eben auch, indem er „Militärexperte“ spielt, „Entdecker“, oder (ja, auch!) „Bandit“: das waren Erinnerungen eines Menschen aus Fleisch und Blut, nicht immer vorbildlich oder gar heroisch, ja teilweise problematisch und fragwürdig. Aber eben so, wie der Sohn einer stolzen Offiziersfamilie der Roten Armee sie (seiner Erinnerung nach) erlebt hatte.

      Aus Respekt vor dem Zeitzeugen, der ein so authentisches und spannendes Bild von dieser geschichtlich sehr bewegten, außergewöhnlichen und noch heute wichtigen Zeit zeichnen konnte, fragte Peter Simkin seinen Kiewer Bekannten, ob der seine Geschichten nochmals erzählen könne, damit er sie für später aufnehmen könne. Der war einverstanden: gesagt, getan! Der alte Herr berichtete 2006 nochmals bei laufenden Tonband über seine (hin und zurück) gut 25.000 km langen Reisen quer durch eine vom Zweiten Weltkrieg aufgewühlte Sowjetunion, während derer er vom Kind zu Mann geworden war: noch fesselnder und bildreicher als beim ersten Mal! Obwohl Peter Simkin durch seine Berufstätigkeit sehr stark eingespannt war, transkribierte er daraufhin - wann immer er etwas Zeit dafür erübrigen konnte - die Interviews Stück für Stück. Als sein Freund, Dietrich Brandt, von dieser Marathonarbeit hörte, schlug er eine deutsche Veröffentlichung vor und bot seine Hilfe an (ohne seine Ermutigung wäre es gar nicht zu diesem Buch gekommen!) Weil Deutsch nicht die Muttersprache Peter Simkins ist, kam dann irgendwann Bernhard Nett ins Spiel, ein ehemaliger Kollege. Weil der kein Russisch spricht, mussten die Erzählungen des alten Herrn aus Kiew Absatz für Absatz mithilfe von Memos, Zeichnungen, Fotos sowie mit Händen und Füßen erarbeitet werden.

      Im Lauf der Zeit entwickelte sich dabei der folgende Text: keine ganz wörtliche Übertragung, aber doch eine, die der Erzählung von Peter Simkins Bekannten aus Kiew möglichst nahe zu kommen sucht. Als eigentlichen Autor der Geschichte sehen wir den alten Herrn aus Kiew. Während er mit einer anonymisierten Veröffentlichung seiner Geschichte einverstanden war, hoffen wir, dass die lange Reife-Zeit seinen Erzählungen nichts von ihrer Aktualität, Anschaulichkeit und Eindringlichkeit genommen haben! Viel stärker als blutige, martialische Schlachtenberichte oder Totenzählungen ließ uns der ganz subjektive Kinderblick des Offizierssohns der Roten Armee auf den Alltag im Land erahnen, welches Leid der nazideutsche Überfall den Menschen in der (damals ja stalinistischen) Sowjetunion verursachte; wir denken, dass diese „Geschichte von unten“ heute gerade jungen Menschen einen Eindruck davon vermitteln und Interesse an Geschichte wecken kann.

      Wir haben dafür noch einige Erklärungen als Fussnoten eingefügt und (im Kapitel "Ergänzende Informationen") von den meisten genannten Orten eine ungefähre geografische Position angegeben, um dem Leser das Verständnis des Textes zu erleichtern.

      Wir bedanken uns bei Dietrich Brandt für seine Inspiration und Hilfe!

      Aachen, den 1.8.2020

      Peter Simkin, Bernhard Nett

      Das Rehkitz ist tot

      Der alte Herr aus Kiew: „Es ist wahrscheinlich sehr ungewöhnlich, dass ich mir schon in einem sehr frühen Alter die Gesichter unserer Nachbarn merkte, und ihre zärtliche Fürsorge. Man trug mich damals noch auf Händen, in eine Decke eingewickelt, und zeigte mich den Nachbarn, meine „schwarzen“ Augen. Viele glauben mir nicht, aber als ich meiner Mutter ihre Gesichter nach dreißig oder vierzig Jahren beschrieb, war auch sie erstaunt, denn es hatte tatsächlich solche Nachbarn und Nachbarinnen wie die gegeben, die ich beschrieb, in der Zeit, in der ich noch ein Säugling war. Wirklich seltsam! Aber es war so.

      Ich wurde an einem besonderen Ort geboren, am zentralsten Teil Kiews: der Ecke der Korolenko und der Fundukleyevskaya. Ich glaube, dass Fundukley ein Gouverneur Kiews in der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen war, der große Bedeutung gehabt hatte; Korolenko war ein russischer Schriftsteller. Später wurden diese Straßen dann umbenannt: Aus der Korolenko wurde die Wladimirskaya (engl.: Volodymyrska Street) nach dem Großen Kiewer Fürst - und aus der Fundukleyevskaya die Lenina1. An der Ecke dieser beiden Straßen stand unser Haus, das ehemalige Theater-Hotel, und gegenüber lag unser berühmtes Opernhaus.

      Durch die Fenster unseres Hauses konnte man nach hinten heraus ein Gebäude sehen, das unauffällig, gar nichts Besonderes, zu sein schien. Es sollte sich aber später herausstellen, dass es das Präsidium der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften war, gewissermaßen das Allerheiligste der ukrainischen Wissenschaft. Und irgendwie hat es sich so ergeben, dass ich mehr als die letzten dreißig Jahre des Lebens mit diesem Gebäude und dieser Institution verbunden war, dort an einem akademischen Institut arbeitete.

      Mein Vater war Militär, sogar Karriereoffizier. Als ich geboren wurde, trug er bereits die Marineuniform – und ich erinnere mich noch gut, was das damals bedeutete! Als sich die Uniform abgenutzt hatte, gab mein Vater sie seinem Vater; sie wurde nun umgeschneidert, mit der inneren Seite des Stoffes nach außen. Eines Tages besuchte uns mein Großvater von irgendwo (er lebte nicht in Kiew) und machte Faxen in der umgearbeiteten Uniformjacke, die man umgangssprachlich `Kapitanke´ nannte (Opa hatte immer schon gerne den Clown gespielt).

      An der Familie meines Vaters war ungewöhnlich, dass sowohl sein Urgroßvater, Großvater und Vater je 25 Jahre in der zaristischen Flotte gedient hatten; noch ungewöhnlicher aber, dass sie aus dem Städtchen Berdichev kamen, das keinerlei Zugang zu irgend einem Meer hat: das war schon erstaunlich! Auch die Tatsache, dass alle drei - den Erzählungen des Vaters und denen seines Vaters zufolge (die ich selbst hörte) strikte Atheisten waren, obwohl die Menschen in dieser Kleinstadt sonst sehr gläubig waren.

      Bevor sie zur Marine gingen, waren sie Gerber gewesen (die man in der