... und nicht auf den Knien. E.R. Greulich

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Название ... und nicht auf den Knien
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847613268



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Ungerechtigkeit, dass Eugen lesen konnte und er nicht, bohrte und schmerzte. Der unbewusste, tiefere Schmerz war aber die Ahnung, dass eines Tages die bunte Märchenwelt verblassen könnte. Es war ein Jammer. Artur begann zu schluchzen.

      Erschrocken nahm Luise Becker seinen Kopf in ihre Hände. "Hast du Schmerzen?"

      Heftig schüttelte Artur den Kopf. "Eugen, der - der kann lesen, ich nicht."

      "Du Dummer", Mutter Becker zog den Weinenden an sich, "jeder lernt doch lesen, wenn er in die Schule kommt."

      "Ganz bestimmt?" Vor Freude wurde ihm so heiß, dass die Tränen verdampften. "Da geh' ich morgen mit Eugen in die Schule."

      Die Mutter befeuchtete den Zipfel eines Handtuchs und säuberte Artur das Gesicht. "Ein bissel musst du noch warten."

      "Och, herrje", er tat wieder schmerzgebeugt, "liest du mir was vor, Mama?"

      Seufzend nahm Luise Becker den Quälgeist neben sich und begann zu lesen. Dem dankbaren Zuhörer gelang es, eine Zugabe zu erbetteln, und noch eine, und noch eine.

      "Da trat ein Mann herein, der war größer als alle andern und sah fürchterlich aus. Oh, du Wicht, rief er, nun sollst du lernen, was Gruseln ist ... "

      Artur gruselte es wirklich, denn draußen tappten Schritte. Die Tür ging auf ... Der Vater stand auf der Schwelle. Artur sprang ihm entgegen. Die Mutter begann eilig mit Pfannen und Töpfen zu hantieren und entschuldigte sich. Nun würde es später Abendbrot geben.

      Walter Becker wusch sich Hände, Gesicht und Oberkörper, ließ sich vom Sohn Handtuch und Feierabendhemd reichen und meinte, da könne er bis zum Essen noch ein bisschen Zeitung lesen.

      "Lies doch lieber das Märchen zu Ende, Papa", bat Artur.

      "Nun gut." Der Vater nahm das aufgeschlagene Buch vor die Augen und las für sich.

      "Bitte, laut", forderte der Sohn. Walter Becker strich ihm übers Haar und las. Als das Märchen zu Ende war, schob er unauffällig das Buch fort und schaute sehnsüchtig zur Zeitung.

      "Kann ich morgen mit Eugen zur Schule gehen?", fragte Artur. "Ich muss doch lesen lernen."

      "Wenn du sechs Jahre alt bist."

      Artur maulte. "Ich möchte aber jetzt."

      Walter Becker sah ihn ernst an.

      "Warum soll man mit dir eine Ausnahme machen? Bist du was Besseres?"

      "Jawohl. Mama hat's mir doch erzählt. Ich hab 'nen Wirbel."

      Die Eltern sahen sich an und unterdrückten nur mit Mühe das Lachen. Walter Becker räusperte sich. "Das ist doch auch nur 'n Märchen."

      "Aber ich möchte doch so gern in die Schule."

      Ärgerlich nahm der Vater den Blick von der Zeitung.

      "Pass Obacht, Bengel. Entweder du versprichst jetzt zu warten, bis du sechs Jahre alt bist, oder du marschierst ins Bett."

      Artur senkte den Blick, es herrschte Schweigen. Die Mutter klapperte mit den Tellern. Eugen kam vom Herumstrolchen. Schuldbewusst begrüßte er den Vater. Der brummte: "Du weißt doch, wann wir essen."

      Eugen nuschelte, er hätte einen Umweg machen müssen, weil der Gendarm ihm aufgelauert habe. Auf die Frage des Vaters gestand er, sie hätten für Karle Leutners Aquarium Molche gefangen.

      "Am abgesperrten Tümpel?"

      Eugen gab es zu.

      "Wenn ihr den Pickelhauben so leichten Vorwand gebt, braucht ihr euch nicht zu wundern, dass sie euch jagen", sagte der Vater und gab seinem Ältesten einen versöhnlichen Klaps. Die Mutter füllte eine Flasche für die kleine Schwester Hedwig, brachte sie ihr an die Wiege, und dann setzten sich die Vier zum Abendessen. Artur aß in sich gekehrt. Als der Tisch abgeräumt war, ging er zum Vater und schmiegte sich an. "Ich will es versprechen, Papa."

      "Hast du's gehört, Luise?"

      "Wir werden ihn daran erinnern, falls er es vergisst."

      Sie mussten es einige Male tun. In den vielen Monaten bis zum Schulbeginn ging Arturs Ungeduld des Öfteren mit ihm durch, kroch ihn der Neid, gegen den älteren Bruder an, den er sonst liebte wie die kleine Schwester und die Eltern. Doch wenn er an das Versprechen gemahnt wurde, verstummten seine Quengeleien.

      Mitte März 1911 nahm Luise Becker ihren Zweiten an die Hand, um ihn zum Unterricht anzumelden. Das Amtszimmer des Rektors lag im ersten Stock des nicht mehr ganz neuen Gebäudes. Sie stiegen die breite Steintreppe hinauf. Mit großen Augen lief Artur durch den hallenden Gang mit den eintönig getünchten Wänden. Frau Becker klopfte, trat grüßend ein und legte das Familienstammbuch sowie den Impfschein Arturs auf den Schreibtisch. Rektor Kunz bot ihr einen Stuhl an, schrieb etwas in eine Liste. Dann wandte er sich den beiden zu und ließ den Zwicker fallen, der nun an einer Schnur vom Rockaufschlag baumelte. Freundlich fragte er Artur: "So, du willst also zu uns kommen?"

      Artur nickte eifrig. "Ja, sehr gern."

      So offensichtliche Begeisterung stimmte den Rektor heiter. "Hoffentlich hält das acht Jahre an."

      "Nö", trompetete Artur, "ich will bloß lesen lernen, dann komme ich nicht mehr."

      Wohlwollend gab der Rektor zu bedenken: "Was aber dann, wenn dir nun anderes ebenso gefällt wie Lesen? Vielleicht Erdkunde oder Religion?"

      Der Mann mit dem steifen Kragen und der feierlichen Krawatte schien netter zu sein, als er aussah. Artur mochte ihn nicht enttäuschen. "Na ja, dann - dann kann man vielleicht mal sehen."

      Belustigt gab Kunz Frau Becker und ihrem Sohn die Hand. "Ich denke auch, Artur, du wirst mit dir reden lassen. Und wenn du zu den drei fleißigsten Schülern gehörst, bekommst du beim Abgang ein Buch zur Belohnung. Überleg dir's, bist doch so aufs Lesen aus - auf Wiedersehn."

      Als sie über die schwarze Schlacke des Schulhofs gingen, fragte Artur: "Was wird es für ein Buch sein, Mama?"

      Mit seiner Offenheit wird es Artur manchmal schwer haben, dachte Luise Becker. Die Frage des Sohnes entriss sie dem Grübeln. "Was für ein Buch? Wahrscheinlich ein - so ein vaterländisches, mit lauter Geschichten vom Kaiser."

      "Ist er ein lieber Mann?"

      "Sie sagen so. Aber er rasselt so viel mit dem Säbel."

      "Will er mit dem Säbel stechen?"

      "Seine Soldaten sollen es für ihn tun. Andere totstechen und totschießen, die ihnen nichts getan haben."

      "Soldaten sind doch mutig."

      "Was bleibt ihnen anderes übrig, wollen sie nicht selbst totgemacht werden. Oft kommen sie nach Hause ohne Arm oder Bein. Dann können sie nicht mehr arbeiten und müssen betteln. Wie der alte Piezker, der immer vor dem Kaufhaus Alsberg sitzt."

      "Warum gibt denn der Kaiser dem alten Piezker kein Geld?"

      "Er bekommt etwas, aber es ist zu wenig zum Leben."

      "Dann kann ich den Kaiser nicht leiden. Und ich will auch das olle Kaiserbuch nicht haben."

      Den ganzen Tag vor dem ersten April war Artur aufgeregt. Stolz betrachtete er immer wieder die Schulmappe und hing sie zur Probe über. Eine Schiefertafel war darin, mit einem Schwamm an einer Strippe, und der musste aus der Mappe hängen. Es war die alte Mappe von Eugen. Der Vater hatte neue Riemen angenietet und das billige abgeschabte Leder mit brauner Schuhwichse auf Hochglanz poliert. Die Tafel war auch von Eugen. Der rümpfte die Nase über den Schulranzen und das Schreibutensil der Siebenklepper. Er durfte die Schulbücher jetzt als Paket tragen, mit Riemen verschnürt. Das war unpraktisch bei Regenwetter, aber schick, weil es die Vierzehnjährigen in der Oberklasse so hielten und sogar die meisten Hochpieper aus dem Realgymnasium.

      An dem denkwürdigen Morgen musste Artur dulden, dass die Mutter ihn wusch - was er sonst schon selber tat -, besonders seinen Hals und die Ohren, jene Körperteile, die bei kleinen Jungen eine alteingefressene Abneigung gegen Wasser und Seife haben.

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